Fundbüro für verlorene Träume


Sowas gibt es nicht? Habe ich früher auch immer gedacht, oder vielmehr habe ich nicht gedacht, denn wer denkt schon an so was?

Es war ziemlich spätherbstliches Wetter und der November gab sich alle Mühe, seinem Ruf gerecht zu werden. Wind fegte Blätter durch die Strassen und mir ins Gesicht. Ich schlug den Kragen hoch, nahm den Kopf zwischen die Schultern und eilte, so schnell ich konnte mit weit vorgebeugtem Oberkörper. Wer will behaupten, daß er in dieser Haltung viel nach rechts und links schaut? Ich hatte einen Weg vor mir, den ich ungezählte male bereits gegangen war. Doch diesmal bemerkte ich zu meiner Linken ein Haus, wie es dort immer gestanden hatte, das trotz seines Dutzendcharakters meinen Blick auf sich zog. und da war es eigentlich ein Messingschild mit eingravierten schwarzen Buchstaben, das etwas Ungewöhnliches an sich hatte. Aus dem Augenwinkel war mir zuerst nur das Wort „Träume" aufgefallen.
„Nanu," muß ich wohl gedacht haben oder so ähnlich, wie man eben denkt bei solchen Anlässen. Jedenfalls bin ich stehengeblieben und las das ganze Schild, trotz Eile im Unwetter. Stand da doch tatsächlich: „ Fundbüro für verlorene Träume." Ich weiß nicht mehr, ob ich dann: „Na so was," oder wieder „Nanu," gedacht habe. Ich merke mir das nicht immer so genau. Einige Stufen schritt, jawohl, schritt ich hinauf, denn es war mir andächtig zumute, und fand mich in einem neonbeleuchteten Flur, an dessen Ende eine Tür mit einem kleinen Schild war, auf dem wieder stand: „Fundbüro für verlorene Träume." Darunter war ein noch kleineres Schild: „Herein ohne anzuklopfen." Wie unter Zwang klopfte ich an und jemand rief von drinnen: „Herein ohne anzuklopfen!" Und dann hörte ich ihn noch murmeln: Daß die Leute alle nicht lesen können!" Ich schloß zaghaft und bedächtig die Türe hinter mir und fand mich vor einen Tresen, hinter dem soeben ein älterer Mann im grauen Kittel aufstand und mich nach meinem Begehren fragte.
„Sagen Sie, stimmt das, ich meine, was da steht: Fundbüro für verlorene Träume?"
„Ja ja," gab der graue Kittel zur Antwort. „Was haben Sie denn für einen Traum verloren?"
„Ich? Oh nein, das ist ein Mißverständnis. Ich habe nur das Schild gesehen und mich gewundert, weil man doch Träume nicht verlieren kann."
„So?" fragte der Alte. „Haben Sie noch nie einen Traum verloren?"
„Nein," erwiderte ich und dann: „Oder doch, aber ich habe nicht weiter danach gesucht. Wer hätte ihn schon finden sollen? Das gibt es doch gar nicht, daß man Träume findet."
„Gibt es nicht?" Er blickte mich beinahe vorwurfsvoll an. „Freilich werden die ehrlichen Finder immer seltener. Es sind heute zu viele Werbeagenturen nach Träumen auf der Jagd. Die sammeln sie und schlachten sie aus, damit für unsere Konsumgüter noch wirkungsvoller geworben werden kann. Aber hin und wieder liefert doch einer einen verlorengegangenen Traum bei uns ab."
„Und Sie, Sie warten dann, bis sich der Besitzer meldet? Der kriegt dann seinen Traum zurück?"
„Nun ja, im Prinzip ist das so. Natürlich müssen wir erst überprüfen, ob es wirklich sein Traum ist. Wir lassen ihn uns dann in Stichpunkten erzählen, und wenn wir ihn haben, kann der rechtmäßige Eigentümer ihn mitnehmen."
Ich versuchte immer einen Blick ins hintere des Raumes zu werfen, weil ich dort noch einen Kollegen von ihm vermutete, da er immer in der Wir-Form sprach. Wie ich aber niemanden entdecken konnte, schloß ich, daß es sich um eine öffentliche Behörde handeln mußte.
Der Traumfundbüroverwalter oder Beamte, ich weiß wirklich nicht, wie man solche Leute nennen soll, deutete mein Suchen als Neugierde um die verwahrten Träume, bat mich durch eine Absperrung und zeigte mir dann einige verschiedenfarbige Regale, auf denen in Blechdosen zu Hunderten die abgegebenen Träume stapelten.
„Wir haben sie nach Themenbereichen sortiert. Das erleichtert enorm das Wiederfinden. Im roten Regal verwahren wir zum Beispiel alle Arten von Liebesträumen. Die beiden grünen dort drüben enthalten Berufsträume, Zukunftsträume, Träume von Reichtum und Glück und Ähnliches. Das blaue hier vorne, sind Abenteuerträume, Kinderträume und Träume von Weltreisen oder Inselparadiesen im Südpazifik. Und so weiter und so fort."
Ich deutete auf ein schwarzes Regal, das unter seiner Last beinahe zusammenzubrechen drohte. „Ja das sind unsere Sorgenkinder, die Alpträume. Wir sind vom Gesetzgeber verpflichtet auch sie aufzubewahren. Freilich kommt selten einer und fragt nach seinem verlorengegangenen Alptraum. Obwohl, es kommt vor. Erst vor gut einer Woche kam jemand. Ich hatte seinen Traum ziemlich bald gefunden. Und es war wirklich ein abscheulicher Traum, kann ich Ihnen sagen. Ich habe die Dose sofort wieder zugemacht, nachdem feststand, daß es zweifellos seiner war. Sie glauben gar nicht, wie glücklich der Mann war, als er seinen Alptraum wieder hatte."
Am Tresen stand mittlerweile eine alte Frau. Ich schätzte sie auf über achtzig Jahre alt. Sie klagte, daß sie einen Traum verloren habe. Ob er vielleicht abgegeben worden sei.
„Was war es denn für ein Traum? Können sie ihn beschreiben?" Die alte Damen warf einen scheuen Blick auf mich, und der Beamte deutete mir, solange draußen zu warten. Ich verzog mich hinter die Tür, da ich aber wissen wollte, wann ich wieder reinkommen könnte, ließ ich sie einen Spalt offen und verstand nun jedes Wort.
„Wissen Sie," begann die Alte. „ Es war einer meiner Jugendträume. Ich wollte immer - sie dürfen aber nicht lachen - also ich wollte immer mal einen Schönheitswettbewerb gewinnen. Ich habe mir vorgestellt auf einer Bühne zu stehen und vor den allerschönsten Mädchen des Landes prämiert zu werden. Ich weiß, es ist ein alberner Traum, aber ich hänge so daran."
„Schönheitswettbewerb," wiederholte der Traumverwalter. „Mh, wo könnten wir den hingestellt haben? Vielleicht unter Zukunftsträume und Berufswünsche." Er wandte sich an das grüne Regal und blickte die Reihen durch. An der Rundung der Dosen befanden sich jeweils kleine Etiketten mit stichwortartiger Schilderung der Trauminhalte.
„Also, hier ist er jedenfalls nicht. Wann haben sie ihn denn verloren?" hörte ich den Kittelmenschen fragen.
„Das weiß ich nicht so genau. Es ist vielleicht schon eine Weile her. Vor vierzehn Tagen jedenfalls, als ich beim Frisör in einer Modezeitschrift blätterte, hatte ich ihn noch. Oder ist das schon drei Wochen her? Sie glauben ja gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man erst mal so alt ist wie ich."
„Es könnte sein," murmelte jetzt der Verwalter, „daß wir ihn zu den Exoten getan haben. Besonders ausgefallene Träume, bei denen nicht die Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie noch abgeholt werden, sammeln wir in einem kleinen Traummuseum. Natürlich nur die besonders hübschen Exemplare."
Er wandte sich nach hinten und kam tatsächlich nach einer Weile mit einer Dose zurück, die er sogleich öffnete und deren Inhalt die ältere Dame identifizieren mußte.
„Ja, genau, das ist er. Sie haben ihn. Das ist er," jauchzte sie vor Begeisterung.
„Hören Sie mal," fragte der Beamte „hier auf dem Siegerkranz der Schönheitskönigin steht aber Miß Europa 2008. Und das sind ja alles ganz schlanke, junge Mädchen."
„Nun ja," erklärte das Mütterchen. „Ich habe meinen Traum eben immer auf dem neusten Stand gehalten. Was meinen Sie, wie schön ich als junges Mädchen ausgesehen habe? Und erst als verheiratete Frau. Ich bin immer eine anmutige Person gewesen. Denken Sie doch, der Fleischer im Wurstgeschäft hat letzte Woche zu mir gesagt. „Frau Schuhmann," hat er gesagt. „Sehe Sie nicht so keck meine Würste an, sonst zuckt es bei denen noch unter der Pelle."
„Wenn Sie dann bitte hier unterschreiben wollen," unterbrach sie der Beamte „daß wir den Traum ordnungsgemäß und unbeschädigt ausgehändigt haben. Die Dose lassen Sie bitte hier."
Das Mütterchen kramte eine häßliche alte Brille aus ihrer Handtasche, die ihren Traum Lügen zu strafen vermocht hätte, ließ sich noch einmal die Stelle zeigen, wo sie unterschreiben sollte und kritzelte dann ihren Namen genau auf die verkehrte Linie, nämlich wo stand: Unterschrift des Aushändigenden. Der Beamte aber lächelte nur, geleitete die Greisin noch zur Tür, indem er sie am Arm führte und ich schnell einen Sprung zur Seite machte.
„Sie haben die ganze Zeit gelauscht," fauchte mich die Frau an. „Aber ob Sie´s glauben oder nicht, ich war wirklich mal sehr schön."
Wie sie nun mit ihrem wiedererlangten Traum durch den Hausflur schlurfte, hatte sie tatsächlich die Art Anmut, wie sie oft alten Omis zu eigen ist.
„Daß so alte Leute noch Träume haben," wunderte ich mich laut beim Wiedereintritt in das Traumfundbüro.
„Ja, warum denn nicht," wollte der freundliche Traumwärter wissen,
„Ich dachte immer, wenn Leute alt sind, müßten sie viel zu weise geworden sein, um noch solche Träume zu haben. Ein weiser Mensch steht doch über diesen Dingen. Ich bitte Sie, träumen tun doch nur die jungen Menschen, die noch keine Verantwortung tragen müssen."
„Sehen Sie, da haben Sie nun wieder geträumt. Erstens tut das jeder Mensch, und zweitens träumen gerade die am meisten, die in der Verantwortung stehen. Die anderen können schon eher mal einen Traum verwirklichen. Allerdings, da muß ich Ihnen recht geben, gehen die vermeintlich Stebsamen mit einigen ihrer Träume manchmal sehr rücksichtslos um. Da wird so ein Traum, weil er dem Erfolg scheinbar im Wege steht, einfach lieblos auf die Straße geschleudert. Und wenn wir dann diese Träume bekommen, sehen sie recht verwahrlost aus. Manchmal mag ich sie gar nicht anfassen, so schmutzig und zertreten sind sie. Wir sind aber verpflichtet, auch diese Träume zu verwahren. Was glauben Sie, was es für eine Mühe bereitet, bis man so einen Traum wieder ansehnlich hergerichtet hat. Ich kann sie doch nicht in diesem Zustand lassen. Da werden ja unsere Behälter unbrauchbar."
Ich war inzwischen ein wenig nachdenklich geworden. All diese Träume auf einem Haufen.
Ob das denn nicht verwirrend sei und ob man denn alle Träume voneinander unterscheiden könnte.
„Sicher," erklärte mir mein Gegenüber „wenn man neu ist in diesem Geschäft, gleichen manche Träume, wie ein Negerkind dem anderen. Und doch kann die Negermutter sie unterscheiden, wie ein Schäfer seine Schafe kennt oder eben ein Träumer seine spezifischen Träume. Natürlich gibt es Dutzendträume. Nehmen wir zum Beispiel die Liebesträume, die Träume vom ehelichen Glück, von Treue, Kindererziehung, trautem Heim. Das ist so ein typischer Allerweltstraum, der auch meistens schon in den ersten Ehejahren verloren wird. Dieser Traumtyp stapelt zu Hunderten bei uns. Und nach dem ersten Ehestreit kommen meistens die jungen Frauen zu uns gerannt und fragen, ob nicht ihr Traum bei uns abgegeben worden sei. Meistens weinen sie noch, und wenn man sie bittet, den Traum zu beschreiben, sind sie kaum imstande dazu. Sehen Sie das Gerät das drüben? Ich darf es Ihnen eigentlich nicht verraten. Es ist ein Traumkopiergerät. Es stammt noch von meinem Vorgänger. Er war eine Seele von einem Menschen. Wenn er manchmal mit einem abhanden gekommenen Traum nicht dienen konnte, weil er wirklich nicht abgegeben worden war oder er ihn nicht finden konnte, - Sie müssen wissen, die Farbregale waren eine Idee von mir - , dann gab er einfach einen ähnlichen Traum heraus. Meistens wurde es nicht einmal bemerkt. Ich sage ja, so ähnlich sind mitunter die Träume. Wenn hinterher allerdings der rechtmäßige Besitzer kam und er nicht helfen konnte, weil der nun zufällig seinen Traum ganz genau kannte, mußte er sagen, daß der Traum eben nicht aufgefunden, zumindest nicht abgegeben worden sei. Sehen Sie, darum hat er diesen Traumkopierer bauen lassen."
Ich besah mir das Gerät genauer. Es funktionierte beinahe, wie eine Cassettenkopiermaschine. Auf der einen Seite gab man den Traum ein und auf der anderen fiel die fertige Kopie heraus.
„Ja, bekommen Sie denn da keine Schwierigkeiten mit den Eigentumsrechten. Jeder hat doch soetwas wie ein Copyright oder Gebrauchsmusterschutz auf seinen Traum. Ist das nicht geistiger Diebstahl," wollte ich wissen.
„Eigentlich haben Sie recht. Von Gesetzes wegen dürften wir das nicht tun. Wir nehmen auch immer nur solche Träume, die, wie ich schon sagte, Dutzendware sind. Und seitdem das Gerät da ist, kann ich Ihnen verraten, ist die Ehescheidungsrate wieder im Absinken begriffen."
„Das ist ja enorm," gab ich zu. „Beinahe ein Segen der Menschheit."
„Naja," lächelte bescheiden mein Gegenüber. „Soweit würde ich nun nicht gehen. Obwohl, wir bekommen manchmal Anrufe vom Krankenhaus. Wenn eine besonders schwere Operation bevorsteht, bekommt der Patient vorher noch eine Traumkopie und die Gefahr eines seelischen Schocks ist etwas gemindert. Professor Rüßbach vom städtischen Krankenhaus hat das vor zwei Jahren ungefähr das erste Mal praktiziert. Inzwischen gibt es schon eine Statistik über den erfolgreichen Verlauf von Operationen mit und ohne vorheriger Eingabe einer Traumkopie. Und die Zahlen sprechen deutlich für die präoperative Verabreichung eines Traumes. So haben wir zum Beispiel einen Krankenkassentraum entwickelt, den die Versicherungen bezahlen. Für private Patienten gebe ich schon gelegentlich mal die Kopie eines unserer Museumsschätze heraus. Soetwas aber wirklich nur bei außerordentlichen Patienten, Promineten gewissermaßen."
„Ich verstehe," log ich, denn wer kann schon behaupten, daß ihm dererlei Dinge geläufig sind?
Inzwischen war ein kleiner Junge eingetreten und wartete geduldig und brav am Tresen. Nach seinem Anliegen befragt, erklärte er: „Mein Papi schickt mich. Ich soll fragen, ob jemand hier meinen Traum abgegeben hat."
„Was war es denn für ein Traum?"
„Ich hab´immer geträumt, daß mein Papi der stärkste, klügste und beste Mann auf der Welt ist."
„So, und jetzt schickt dich dein Papi fragen, ob dieser Traum hier abgegeben worden ist. Wann hast du ihn denn verloren, deinen Traum vom großen Papa?"
„Letzten Donnerstag war´s. Ich weiß es noch ganz genau. Die Mami hat mich in die Gastwirtschaft geschickt, dem Papi sagen, daß er kommen soll. Da saß so ein Mann neben meinem Papi, der lachte ihn aus und sagte: „Das kannst du vielleicht deinem Mäxchen erzählen, aber uns doch nicht." Da wollte ihm der Papi eine runterhauen, aber da hatte er schon eine geklebt gekriegt. Und weil ich dann anfing zu heulen, haben sie alle auf mich geschaut. Da war der Papi ganz erschrocken, ist aufgesprungen und hat mich aus der Wirtschaft gezerrt. „Komm, laß uns gehen," hat er gesagt. „Mit solchen Leuten geben wir uns doch gar nicht erst ab." Aber am Freitagabend ist er wieder in die Wirtschaft gegangen. Und als er nachhause kam, hat er Lärm gemacht und war betrunken. Die Mami hat gesagt, ich soll wieder ins Bett gehen und zum Papi hat sie was geflüstert. In der Nacht habe ich wieder vom Papi geträumt, aber es war ganz anders als früher."
Damit endete er seinen bericht und forderte pflichtgemäß seinen verlorenen Traum zurück, vom starken, guten, großen Papi.
„Nee, mein Junge, is´ nich´ abgegeben worden," sagte der Beamte ohne nachzusehen. „Da muß sich dein Papi was anderes einfallen lassen."
„Macht nichts," erwiderte der Kleine. „Wenn Sie mir nur so einen Zettel geben können, wo Sie draufschreiben, daß ich da war."
Aus einer Schublade fischte der Angesprochene einen Vordruck, den der Junge mit seinem Namen ausfüllte und unterschrieben mit Stempel des Fundbüros zurückerhielt.
„Ja, gibt´s denn sowas," fragte ich beinahe empört, als der Kleine verschwunden war. „Und Sie haben sogar noch einen fertigen Vordruck dafür."
„Wir sind eine moderne Behörde. Und solches Ansinnen wird öfter an uns gestellt, als Sie glauben. daher die Vordrucke. Im Vertrauen, wir sind angehalten worden in solchen Fällen, selbst wenn wir die Träume haben, sie nicht herauszugeben. Schließlich unterstehen wir ja einem öffentlichen Interesse. Der Träger dieser Einrichtung ist der Bund in Zusammenarbeit mit der Stiftung für Volkspsychologie. Von dieser Stiftung wird alljährlich eine schwarze Liste herausgebracht, mit Träumen, die aus dem Verkehr zu ziehen sind. Daß dieser Junge nun seinen Traum von seinem Papa verloren hat, ist der Regierung gewissermaßen nur recht.
Schau´n Sie, jemand, der ein Leben lang von solch einem Vater träumt, ist schwer regierbar. Der Staat möchte sich die Formung des Gewissens vorbehalten. Dabei sind dererlei Träume im Wege. Denken Sie nur, der junge Mann kommt dereinst zum Militär und hat noch immer diesen Traum. Wer könnte ihn dann noch zum Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten zwingen?"
Als ich schwieg, fuhr er fort: „Sehen Sie, Sie sagen nichts. Und das ist eigentlich alles, was man dazu sagen kann. Gewisse Träume sind eben nicht erwünscht, und wenn man ihrer habhaft werden kann, vernichtet man sie. Ich muß mich da an die Vorschriften halten. Andere Träume wiederum werden mit einem roten Punkt versehen und dem Vermerk: Besonders förderungswürdig. Diese Träume werden in Zusammenarbeit mit den Medien Fernsehen, Radio und Zeitung aufbereitet und vervielfältigt. Auch besteht eine enge Zusammenarbeit zwischenden Werbeargenturen der Großkonzerne und der Regierung. Das ist nun allerdings kein Geheimnis und wohl auch immer so gewesen."
Er mochte recht haben, dennoch wurde mir ein wenig mulmig zumute. Da nimmt also jemand Einfluß auf unsere Träume. Da kann sogar ein Traum konfessziert werden. Ich nahm mir vor, in Zukunft besser auf meine Träume zu achten.
„Kommen Sie," winkte mir der Alte verschmitzt. „Ich habe da ein privates Schatzkästlein. Manchmal, wenn so ein Tarum, der in der schwarzen Liste genannt wird, gar zu hübsch ist, dann unterschlage ich ihn einfach. Jawohl, ich unterschlage ihn. Das soll mit erstmal einer nachweisen."
Er führte mich in ein Hinterzimmer an eine Kommode, zu der er nur den Schlüssel hatte.
„Sie wollten schon mal einführen, vierteljährlichen einen Inspizienten zu schicken. Da kam auch mal einer von der Regierung oder so. Ich habe ihn herumgeführt und aufgefordert, die einzelnen Träume durchzusehen. Da hat er nur geschluckt, diesen oder jenen herausgegriffen, flüchtig angeschaut, und beim Gehen hat er mir auf die Schulter geklopft und gesagt: „Nicht wahr, wir können uns doch auf Sie verlassen. Sie werden das schon machen." Und im Großen und Ganzen hat er ja auch recht. Jedenfalls ist nie wieder einer dagewesen."
Er zeigte mir den Traum eines jungen Studenten, eines Anarchisten, wie er mir versicherte. Dieser Traum war ganz reizvoll. Nicht so mit Gewalt, ohne Regierung, ohne Geld, ohne Krieg, Brüderlichkeit, Verständnis füreinander, eigentlich ein richtiger Märchentraum. Daß er dennoch auf die schwarze Liste gehörte, war wohl nur eine Vorsichtsmaßnahme. Ich hatte plötzlich eine Idee oder einen Gedanken.
„Sagen Sie, da gibt es doch eine Art von Träumen ähm..." Es wurde schwierig für mich weiterzusprechen. Er schaute mich fragend an, grinste dann und winkte ab.
„Nein, nein, der Herr. Soetwas führen wir nicht. Sie meinen diese gewisse Art der jungen Männer, wie sie von ihren Mädchen träumen. Das alles mit pornopgraphischer Ausstaffierung. Da muß ich Sie enttäuschen, solche Träume werden nicht verloren, oder wenn doch, gibt sie zumindest keiner ab, was immerhin verständlich ist. Sagen Sie selbst, würden Sie Ihre erotischen Träume verlieren?"
Das war nun eine Frage, die ich ihm beim besten Willen nicht beantworten konnte, das heißt, ich bin mir heute nicht mehr so sicher, ob es nicht eben an diesem Willen gelegen hat. Jedenfalls war eine peinliche Pause entstanden, die ich dazu nutzte meine Frage, oder den Ansatz zur Frage, zu bereuen.
„An diese Träume kommen nicht einmal die Werbeargeturen und Filmfritzen heran, sonst würden sie nicht so schlechte Filme machen. Ich behaupte nämlich, daß diese Träume besser sind als ihr Ruf. Nur beweisen kann ich das nicht, aus den erwähnten Gründen."
Er zeigte mir noch einige seiner besten Stücke, darunter den Traum eines kleinen Mädchens, das auf dem Tandem mit ihrem Bruder hinauf zu den Sternen radelte, dort Prinzessin über ganze Planeten von Elfen und Zwergen wurde, die zu wunderlicher Musik tanzten. War das also wirklich die Phantasiewelt von Kindern? Diesbezüglich mußte ich den Werbeleuten und Filmfritzen ein Kompliment machen. Hier hatten sie geradezu naturgetreu abgeschrieben.
Der kritische Leser wird sich vielleicht wundern, daß ich soviel Zeit hatte, solange in diesem zweifellos interessanten Büro zu verbringen. Ich habe mich hinterher selber gewundert und noch vielmehr mein Arbeitgeber.
„Haben Sie heute morgen wieder solange geträumt?" fragte er, als ich kurz vor Mittag am Arbeitsplatz eintraf.
„Jawohl," antwortete ich, verbesserte mich aber gleich: „Nein, nicht ich, sondern die Leute."
Er fegte aber nur mit einem hochnäsigen: „Papperlapapp" aus dem Zimmer.
Noch mehr wundert mich eigentlich, daß ich das Messingschild nie wiedergesehen habe.