Suchen und Finden

I

Ein goldenes Flügelpaar, so leicht, wie der Wind, gewoben aus Seide, trug ihn schnell wie der Blitz durch das Universum. Er war auf dem Weg in ein Land des Friedens und der Freiheit, in ein Land des ewigen Lichtes und Lebens. Er kannte den Weg nicht, allein, daß er dem Flügelpaar aus goldener Seide vertraute. Er mußte nicht steuern, nicht lenken, es genügte sein Vertrauen. Nun begab es sich, daß sie an der Erde vorüberfliegen sollten.

Der strahlend blauweiße Planet dünkte dem jungen Mann so magisch anziehend, so verführerisch schön, daß er nicht umhin konnte, das Steuer zu ergreifen und das Flügelpaar in Richtung Erde zu lenken. Im selben Moment traten sie in die Atmosphäre der Erde ein. Was gab es da zu sehen: Der sonst so schwarze Horizont wurde hellblau. Weiße Wolken gaben dem Bild des Himmels die dritte Dimension. Und wie er das goldene Flügelpaar noch tiefer lenkte, sah er zum ersten Mal in seinem Leben ein weites, blaues Meer, zum ersten Mal weite Waldflächen und Wiesen, so saftig grün, mit

Tieren, die darauf weideten. Einen Augenblick später überflogen sie schneebedeckte Berge, die ihm so hoch und so majestätisch vorkamen, daß er wähnte, dies müsse der ersehnte Ort sein. Er vergaß dabei ganz, wie seine Verheißung gelautet hatte: Wenn du dich im Vertrauen auf das Flügelpaar leiten läßt, wird es dich in das Land bringen.

„Gut, daß ich eingriff," dachte er. „Das Flügelpaar wäre vielleicht vorübergeflogen." Und er dachte es solange, bis er sicher war, richtig gehandelt zu haben. In seinem glühenden Eifer griff er das Steuer zu hart an, und es brach. „Nun führe du mich wieder," sprach er. „Ich kann nicht mehr lenken." Aber er stürzte hinab mit dem goldenen Flügelpaar, und hätten nicht etliche Baumkronen den Aufprall gemindert, wären all seine Knochen zerschmettert worden. Nun aber war es nur das goldseidene Flügelpaar, das zerbrochen dalag.

Nein, dies konnte nicht der Ort sein, der ihm verheißen war. Wie aber sollte er jetzt dorthin gelangen? Er verstand nichts von goldenen Flügeln und deren Reparatur. Er wußte nicht einmal, daß solche zerbrechen können. Diese Welt voller Glanz und Farbenpracht, deren Lockruf er gefolgt war, das verhießene Land zu finden, barg nun nichts als Einsamkeit, Angst und Schrecken für ihn.

Gewiß doch, die Wälder und Wiesen, die Berge und Meere waren noch

da, und der Strahlenglanz des lichterfüllten Himmels, der ihn angelockt hatte, war unverändert. Jedoch, es war nicht der verhießene Ort. Er selbst hatte in seinem Entzücken ins Steuer gegriffen und sein Vertrauen vergessen. Wer sollte nun das Flügelpaar reparieren? Während er noch bemüht war, den gröbsten Schmutz von seiner Kleidung abzuklopfen, bahnte sich eine wildgebärdende Horde mistgabel- und schrotflintenbewaffneter Bauern den Weg durch das Dickicht. Sie grölten, als wollten sie ihn niederbrüllen. Als er jedoch die Hand hob zum Gruß und, um ihrem Lärm Einhalt zu gebieten, verstummte die Menge und wich zurück. In diesem Moment verkündigte ein Krachen in Ästen das Herabstürzen des zerbrochen Flügelpaares. Trotz seiner Funktionsunfähigkeit strahlte die goldene Seide genug Würde, Erhabenheit und Übermacht aus, um das Bauernvolk ganz zu verjagen. Er hätte sie etwas fragen mögen, auch wenn ihm bange zumute war, doch schon fand er sich wieder allein. Die Sonne sank, und der Himmelsglanz änderte sein Blau in Rot. Schließlich wurde es Nacht. Nun erblickte er den Sternenhimmel über sich, nicht so klar, wie er ihn gewohnt war, aber immerhin doch vertraut. Da erwachte eine ganz zaghafte Hoffnung in seinem Herzen. Vielleicht würde er ja auch in dieser Welt leben können. Er ertastete sich einen Weg durch den dunklen Wald. Das Licht der Sterne ließ ihn zu einem Acker finden, der an einen Bauernhof grenzte. Höflich und schüchtern klopfte er an das große Tor. Klappernd und rasselnd mit großer Gebärde öffnete es sich.

Der Bauer, der ihn sofort erkannte, hielt den Strahl einer Lampe in sein Gesicht. Ein ängstliches Männlein mit faltigen Gesichtszügen blickte ihn aus kleinen müden tiefliegenden Augen mißtrauisch an und forderte ihn mit einem Wink seiner Lampe zum Eintreten auf. Sie setzten sich in der engen Stube nieder, und er mußte erzählen. Er erzählte von dem Land, das er suchte, von der Verheißung und von dem goldenem Flügelpaar, welches nun zerbrochen war. Die müden Augen des Bauern wurden lebendig und blitzten jedesmal listig auf, wenn die Rede auf die Flügel kam. So erfuhr der junge Mann, daß gerade jener Bauer der Welt berühmtester Flügelpaarinstellateur war und daß in der Woche ca. ein Dutzend Flügelpaare zu reparieren wären, alle von Leuten wie er, die auf dem Weg in eine bessere Welt seien. Hätte er jetzt sein Bild im Spiegel erblickt, wäre ihm der Ausdruck von Unglaube und Zweifel in seinen Augen offenbar geworden. Da aber der Bauer alt und häßlich war, gab es keine Spiegel in seiner Stube, und der Ungläubige wurde seines Zweifels nicht gewahr. Ein Schimmer von Hoffnung erfüllte sein Herz, genug, um die Goldgier des Bauern zu übersehen. „Gleich morgenfrüh schau`n wir hinaus. Und dann werden wir die Sache schon in den Griff bekommen." Nun, der Bauer war der erste Mensch, der ihm zeigte, wie es ist, wenn man betrogen wird, weil man die Hoffnung nicht aufgeben kann. Die Fähigkeiten des Männleins reichten gerade, um das Flügelpaar noch in derselben Nacht heimlich fortzuschleppen, mit der Absicht, es in der nächsten Stadt zum gegenwärtigen Goldkurs zu verkaufen. Allein ein goldseidener Faden, der an einem Ast hängengeblieben war, zeugte von der Notlandung es Reisenden. Er nahm und verwahrte ihn als Symbol seiner Hoffnung in der Jackentasche.

Was sollte nun aus ihm werden? Diese fremde Welt mit den unbekannten Sitten und Gebräuchen, in der die Menschen verschwiegen, was sie dachten und fühlten und mit dem Ausdruck der tiefsten Überzeugung das sagten, was sie nimmer glaubten, und das

vorlogen, was ihnen vorteilhaft und gewinnbringend erschien, würde ihm auf Dauer den Atem zum Leben rauben. Hier konnte er nicht bleiben, hier würde er sterben müssen, wenn er bliebe, und doch sah er keinen Weg, die Erde wieder zu verlassen. „Ich will nicht

sterben," sprach er zu sich selbst. „Und ich werde nicht sterben, solange ich noch diesen goldenen Faden habe."

Der Bauer war fort, der Hof stand nun leer, und der Acker wurde nicht mehr bewirtschaftet. Vögel, Wind und Insekten brachten allerlei Samen, die sie über dem Feld, das zum Hof gehörte, fallen ließen. So entstand binnen kurzem eine prächtige Unkrautwüste zur Schande und zum Ärger der übrigen Dorfgemeinschaft. Was lag also näher, den jungen Mann, der das Haus zuweilen noch als Unterkunft und Schutz vor der kalten Nacht benutzte, zu bitten, dringlich zu bitten, das Anwesen zu übernehmen und instandzuhalten. Der Ältestenrat der Dorfgemeinschaft erfuhr seine Geschichte, doch mehr als ein schallendes Gelächter konnte er von diesen Menschen nicht erwarten. Gebraucht und geduldet wurde er, aber nicht geliebt. Der Grund und Boden, der zu Haus und Hof gehörte, war in seiner Ausdehnung sehr bescheiden, und so machte er es sich zur

Angewohnheit, da ihm der Tagesverlauf des öfteren Zeit erübrigte, die Gegend, namentlich den Wald, wo er einst gelandet war, zu erkunden und zu durchforsten. Der Reiz, den die Natur auf ihn ausübte, war immer noch lebendig in ihm, wenn auch diesem Reiz sein Schicksal zu verdanken war. Ja, er liebte es nach des Tages Anstrengung in die Wälder hinauszuziehen, um Entspannung und Erholung im Beobachten und Betrachten der Tier- und Pflanzenwelt zu erlangen. Und dann war da noch der See, an dessen Horizont die Sonne ihr Tagwerk zu beenden pflegte. Der goldene Abendglanz erinnerte ihn wieder und wieder an jenes Flügelpaar, daß er innehatte und das nur auf sein Vertrauen hin, ihn den Weg in das verheißene Land weisen wollte. Oft saß er am Ende des Steges, der ein Stück in den See ragte, ließ die Beine baumeln, stützte sich mit den Ellenbogen nach hinten ab und träumte von dem Frieden und der Freiheit, die es noch immer zu erhoffen und zu finden galt.

Indes, der Sommer verging, ließ sich ablösen von einer Zeit, in der die Tage kürzer und die Nächte länger wurden. Mit dem Wald gingen seltsame Veränderungen vor sich. Grüne Blätter wurden braun, gelb und rötlich. Die Sonne stieg nicht mehr so hoch über den See. Dafür durchleuchtete sie jetzt die bunt gefärbten Blätter, von denen sich zunächst einzelne, dann mehr und mehr von den Blumen lösten, vom Winde ein Stück weit tragen ließen, bis sie durch Zufall irgendwo liegenblieben. Dieser Anblick schmerzte ihn, zumal mit dem Loslösen vom Baum auch das Schrumpelig- und Sprödewerden der Blätter begann.

„Das ist nun also Tod," dachte er. Der alte Bauer hatte eine Haut gehabt wie welke Blätter. Ob er wohl auch sterben würde? Wäre er wirklich imstande gewesen, das Flügelpaar zu reparieren, er hätte ihn mitnehmen können in die Welt ohne Tod. Doch der alte Narr hatte sich vom Goldglanz blenden lassen. Wenn nicht er, vielleicht wäre ein anderer gefunden worden, der goldene Flügelpaare zu reparieren weiß. Wie auch immer, nun war der alte Bauer fort mit dem Gold. Ja gewiß, er würde sterben müssen wie die alten Blätter. Und er selbst, der junge Mann, hatte er sich nicht auch blenden lassen von dem Glanz dieser Welt? Jetzt nicht weiterdenken, nur nicht weiterdenken. Noch immer hatte er den goldenen Faden. Die Zeit war konsequenter. Sie dachte weiter, wenn es zunächst auch nur die Bäume betraf. Herbststürme kamen auf. Und wenn ein Blatt einen goldenen Faden besessen haben mochte, jetzt nützte er ihm nichts.

Diese Herbststürme ließen keinen Zweifel am Schicksal der Blätter. Und daß das alles so schnell gehen könnte. Dazu wurde es kälter, und Nahrung ließ sich schwerer finden. Er zog im Dorf umher, um zu sehen, was andere Menschen machen. Da gab es welche, die hackten die kahlen Bäume ab, zerschnitten sie in Scheiben und lagerten sie in Scheunen und den Kellern der Höfe. Andere töteten Tiere, zermahlten das Fleisch, um es dann in

Gedärme zu stopfen. Auch diese Därme, mit Fleischmatsch angefüllt, lagerten zum Trocknen in Kellern. Seine Fragen und sein Empören ob dieses Geschehens wurden teils mit Gelächter, teils mit Verwünschungen beantwortet. Und dann lernte er die Zeit kennen, die ihm Hunger, Einsamkeit und Kälte brachte, aber auch die Erfahrung, daß es unter diesen Menschen einige gab, die seine Unwissenheit nicht nur mit Beschimpfungen und Bedrohungen beantworteten, sondern auch mit ein paar Stücken Brot und einigen Holzscheiten, um Feuer zum Wärmen zu gewinnen. Schnee fiel vom Himmel, allerdings von einem Himmel, der mit der Farbe des Himmels im Sommer nichts mehr gemein hatte. Dieser Schnee begrub alles unter sich, und wenn er ihn durchwatete, erzeugte das ein knirschendes Geräusch. Jeder Schritt hinterließ einen tiefen Abdruck im sonst gleichförmigen Umfeld.

Eine Schneeflocke bestand aus winzigen Eiskristallen, die, wenn man sie in die Hand nahm, zu Wasser wurden. Die Kristalle bildeten jeweils einen Stern mit kleinen Wiederhaken, so daß, wenn eine Flocke auf eine andere fiel, ein ziemlich großer

Luftraum frei blieb. Daher sank der Schnee zusammen, wenn jemand darauf trat und die Luft dazwischen entwich. Wurde dieser "luftleere" Schnee noch weiter zusammengepreßt, bildete sich auf der Oberfläche eine wasserhelle Eisschicht, die das Licht in reizvoller Weise zurückwarf. Und die Welt bekam wieder einen Glanz.

Eigentlich war er sehr schön, dieser Schnee, und es war auch nicht so kalt, wie an den Tagen, an denen keiner lag.

Jähes Entsetzen packte den jungen Mann, als er auf dem Wege zum See von weitem die Dorfjugend auf der Wasseroberfläche tanzen und springen sah. Als er jedoch näher kam, wurde er gewahr, daß der ganze See mit einer Schicht aus zusammengepreßten

Schneekristallen bedeckt war. Diese Schicht war so hart, daß er auf ihr gehen konnte, über Wasser gehen konnte. Und noch eines brachte sie mit sich. Sie hemmte nicht den Schritt beim Gehen wie normaler Grund und Boden. Die Kinder konnten in langen, eleganten Schwüngen auf ihr gleiten. Allerdings mußte der Körper erst lernen, mit der ungehemmten Bewegungsart zurechtzukommen. Ein bißchen zu schwungvoll geglitten, und man verlor das Gleichgewicht. Es schmerzte sogar ein wenig, wenn man ungeübterweise auf dem Eise ausrutschte. Es schmerzte aber noch mehr, wenn danach die

Kinder sich im Kreise um den Verunglückten versammelten und Spottrufe erschallten. Warum taten sie das? Einem jeden mißlang doch ab und zu ein Schritt, was dann zu einem Sturz führte. Ein jeder mußte sich doch an die Erfahrung erinnern, die solche

schmähliche Begebenheit begleitete. Wenn es aber galt, beim anderen zu lachen und zu höhnen, hatte jeder diese Erfahrung vergessen.

Wieder rutschte ein Kind aus, und wieder sah er von weitem, wie sich die Menge im Kreise versammelte. Aber diesmal ertönte kein Spottrufen. Diesmal begnügte sich jeder, das Ereignis kurz zu erfassen, um dann fluchtartig die Seeoberfläche zu räumen. Bald war niemand mehr auf dem See. Nur, das Kind, das ausgeglitten war, kam nicht mehr auf die Beine. Die Eisfläche war wohl an dieser Stelle zerbrochen, wie sein goldenes Flügelpaar, und das Kind war im darunter befindlichen Wasser steckengeblieben. So sehr es sich auch abmühte, strampelte und schrie, es war nicht in der Lage, sich alleine aus dem Loch zu befreien. Nur jemand von draußen würde ihm noch helfen können. Aber da war niemand mehr.

Allein er konnte das Kind da herausholen. So viele Mühe und Sorgen ihm der unbekannte Boden, die Eisoberfläche, auch bereitete, er wagte den Weg zu der Stelle, von der immer noch die kläglichen Hilferufe ertönten. Nun aber schon schwächer. Die Kälte drohte

dem jammervollen Geschöpf die Besinnung zu rauben. Der Atem stockte, langte kaum mehr, um Laute zu formen. Das Herz begann in nie gekannter Weise Höchstleistungen zu bringen. Das alles aber reichte nicht aus. Das Kind hatte die Besinnung verloren, als er

die Bruchstelle betrat. Das Eis sprang weiter auf. Unbewußt legte er sich auf den Bauch und robbte langsam an das Loch heran. Mit beiden Händen ergriff er den Körper des ohnmächtigen Kindes unter den Achseln, und mit aller Kraft zog er das triefende Wesen heraus. Noch war ein Rest von Wärme und Bewegung unter der Brust des kleinen Mädchens zu spüren. Noch war ein Rest von Leben in ihm.

Eine Volksmenge kam ihnen entgegen, als er das Kind in den Armen hielt. Die ganze Dorfgemeinschaft schien sich aufgemacht zu haben, wie damals, als er in den Bäumen des nahegelegenen Waldes gelandet war. Nur diesmal wich keiner zurück. Es nahm ihm auch keiner das Mädchen ab. Er trug es über die schneebedeckten Felder, von den Leuten begleitet, bis in das Haus der Eltern. Die raunende Menge wurde nicht eingelassen. Sie wartete draußen vor dem Tore.

Nur ein Mann, der extra gerufen worden war, fand Zutritt. Das Kind wurde der Kleider entledigt. Der Mann bewegte den nackten Oberkörper des Mädchens vor und zurück. Dann wurde es in Decken gehüllt, und dann erst wurde ihm bewußt, daß er fror. Die Mutter des Kindes bot ihm einen Stuhl an und ein über Feuer erhitztes Getränk, das er bis in den Bauch hinein spürte. Der Vater gab ihm von sich trockene Kleider und sprach

immer wieder Worte wie Tapferkeit, Heldenmut und Dank sagen wollen.

In den Tagen, die folgten, hatte das Mädchen einen schweren Kampf zu bestehen. Der Mann, den sie Doktor nannten, und den sie immer wieder fragten, sagte, daß er nichts wisse. Das Kind huste sich die Lunge aus dem Leib, sei nur wenige Stunden am Tage

bei voller Besinnung, habe Fieberträume und möchte wohl bald sterben. Der junge Mann kam es jeden Tag besuchen, wie der Doktor, setzte sich dann an den Rand des Bettes und erfaßte stets beide Hände der Kranken. Wenn sie bei Bewußtsein war, versuchte

sie, ihn zwischen den Hustenanfällen anzulächeln. Obschon es fast immer mißlang, strahlte dieses Lächeln eine nie gekannte Erhabenheit und Würde aus, aber auch den festen Willen gesund zu werden und die Hoffnung auf eine von Vertrauen geprägte Freundschaft. Die Tränenströme der Mutter gaben dem Schwanken zwischen neuer Hoffnung und alter Verzweiflung Ausdruck. Der Arzt, der später nur noch einmal in der Woche kam, verschrieb etliche Sorten von Getränken und Tropfen, die es einem merkwürdigen Ritus gemäß einzunehmen galt. Das Lächeln des Kindes hatte sich inzwischen bei seinem Besuch derartig stabilisiert, daß er in seinem Herzen Mut faßte,

ihm zu vertrauen. Also erzählte er dem Mädchen eines Nachmittags seine Geschichte, und ob es wohl das Selbstverständlichste von der Welt wäre, schenkte es ihm Glauben. Die Wende zum Leben brachte aber erst der Anblick des goldenen Seidenfadens. Von dieser Stunde an ging es mit der Gesundheit des Kindes rasch bergauf. Er lernte in dieser Zeit einen neuen Glanz kennen: den Glanz von Augen, die wieder lachen können.

Da er nun öfter in einem Hause anderer Menschen verkehrte, blieb ihm ihr Tun nicht unerkannt. Sie begingen merkwürdige Feste. Mit Feuer begrüßten sie die Ankunft eines neuen Jahres.

Lange dachte er darüber nach, was das sein könnte, bis er darauf kam, daß diese Menschen, so wie er eine bessere Welt suchte, eine bessere Zeit suchten. Und jedesmal, wenn sie sagten, es beginne ein neues Jahr, hofften sie, es beginne eine bessere Zeit. Das

Feuer waren ihre goldenen Flügel, die zwar nicht zerbrachen, aber irgendwann verlöschen mußten. Und dann war wieder alles beim Alten oder jedoch zumindest fast beim Alten. Denn ein wenig veränderte sich immer. Das schönste, was sich verändert hatte, war,

daß seine kleine Freundin wieder vollkommen genesen war. Sie mied wohl noch immer das Eis, aber fröhlich war sie mit ihm an vielen langen Winterabenden. Ja, und das war eine zweite stetige Verbesserung: die Tage wurden wieder länger, die Sonne stieg wieder höher über den See. Die kälteste Zeit stand zwar noch bevor, aber jetzt ward ihm Nahrung, Wärme und Freundschaft zuteil. Wen mag es wundern, daß eine Zeit, die man Frühling nannte, schnell herbei kam. Frühling, das war eine Zeit voller Wunder. Die Bäume, die nicht abgeschlagen worden waren, zeigten Spuren neuen Lebens. Da

formte sich aus einem braunen, länglichen Gebilde am Ende eines Zweiges, dort, wo früher mal Blätter gewesen waren, eine Knospe. Wenn diese aufsprang, gab sie neuen, kleinen, hellgrünen, zusammengefalteten Blättern den Weg frei zum Licht. Und einige besonders stark ausgeprägte Knospen wurden zu Blüten. Eine Landschaft, die noch vor kurzem völlig mit Schnee bedeckt gewesen war, zeigte nun mannigfaltiges Leben in ungeahnter Farben- und Formenvielfalt.

Die Auswirkungen dieser Geschehnisse blieben den Menschen anscheinend auch nicht verborgen. Ihre Herzen wurden weiter, ihr Mienenspiel offener, Farbe kehrte in die Gesichter der Leute im Dorf zurück. Man beachtete ihn jetzt, schenkte ihm Aufmerksamkeit, lud ihn gar selbst zu einem Feste ein, das neue Erleben zu begrüßen. Die jungen Mädchen im Dorfe und die Frauen übernahmen die Ausschmückung der Häuser und die Vorbereitungen des großen Ereignisses. Das Frühjahrsfest war das einzige beherrschende Thema am Ort. Welche Unternehmungslust ergriff die Menschen,

welch Eifer brachte ihre Phantasie zu immer neuem Erglühen.

Freilich, auch dabei waren Einige, die über die Sorge, durch ihr Tun und Erscheinungsbild gefallen zu wollen, alle Leichtigkeit und allen Frohsinn vergaßen, die im Wettstreit, wer den besten Schmuck trüge, einander gram wurden. Wie aber dann am kommenden Tage das Fest beginnen sollte, gab sich jeder Mühe, seinen Ärger nach außen hin zu verbergen. Es gelang ihnen allemal doch recht gut. Auch den fremden Lebensretter forderte man auf, dem geschäftigen Treiben beizuwohnen. Seinen Höhepunkt fand das Ereignis im Tanze auf dem Dorfplatz. Da waren welche, die mittels eigenartiger Instrumentarien klangvolle, verschiedenartige, melodische Geräusche in bestimmten Rhythmen erzeugten. Dazu bewegten sich paarweise besonders die jungen Leute und Kinder, daß es den Augen eine Lust wurde, ihren Bewegungen zu folgen. Das kleine Mädchen hatte sich in ihrer Anhänglichkeit zu dem jungen Fremden gesellt. Mit unentwegtem Betteln und Bitten gelang es dem Kind, ihn zu einem Tanze zu ermutigen. Dies blieb nicht unbemerkt, vor allem nicht von den jungen Mädchen. Er war in ihren Augen ein geheimnisumwobener Fremdling gewesen. Als sie ihn im vergnügten Tanz mit dem Kinde betrachteten, rückte er ihren Herzen ein Stück näher in der Unbefangenheit und der Fröhlichkeit, in der er sich zur Musik drehte. Und im Überschwang des

Festes wagte es schließlich ein junges Mädchen, ihn anzusprechen und zum Tanze aufzufordern. Der Blick in ihren Augen weckte in ihm das Verlangen, ihr zu gefallen, und er zögerte. Waren denn seine Bewegungen und Gebaren nicht zu ungeübt im Vergleich zu der Anmut eines jungen Mädchens? Würde sie ihn deshalb auslachen?

Er ahnte, daß solch ein Geschehen ihm Schmerz bereiten könnte. Hier begegnete ihm schon ein seltsames Zusammenspiel von menschlichen Reaktionen. Ihm gefiel der Anblick dieses Mädchens, und zugleich erwachte die Angst, ihr zu mißfallen. Darum zögerte er, mußte sich bitten lassen, bis er genügend Gewißheit hatte, sie wollte wirklich ihn zum Tanze, auch unter der Gefahr, eine mißliche Figur zu machen. Seine Angst war unbegründet. Durch das Tanzen angeregt, verlor er anfängliche Hemmungen und bewegte sich von ihrer Anmut begleitet in naturbelassener Eleganz. Durch die ausgiebige Bewegung und die dargebotenen Getränke erhitzt, verspürten sie beide das Bedürfnis, ein wenig auszuschreiten, hinauf zum Wald, wo sie eine kühle Dunkelheit und neuerliches Befangensein vereinnahmten.

Hatten sie sich beim Tanze fest und beherzt angefaßt, so war es hier nicht mehr möglich, wenn er es sich im Geheimen auch sehr wünschte. Aber solange Freiheit der Entscheidung Voraussetzung zu jeder noch so geringen Sympathiebekundung war, wollte er ihre Freiheit nicht beschränken und fürchtete, ihre Zuneigung durch allzu vorwitziges Benehmen zu verlieren. Das junge Mädchen sehnte sich schon nach einem Händedruck, der in der Dunkelheit eine Ahnung von Geborgenheit möge aufkommen lassen. Aber auch sie fand nicht den Mut, diese Schwelle zu überschreiten. Erst als der dunkle Wald ihnen durch seine Geräusche einige Rätsel aufgab, fanden sie ihre Sprache wieder. Und um das Schweigen nicht erneut herauszufordern, berieten sie ausgelassen, vielleicht eine Spur zu übertrieben, welchen Ursprung das eine oder andere Geräusch haben mochte. Als sie endlich wieder die Grenzen des Dorfes erreicht hatten, war das Fest bereits am Ausklingen. Mit knappen Worten formulierten sie einen unpathetischen Abschied, und er ging leicht, fast schwebend, durch die Straßen des nächtlichen Dorfes, immer noch das Strahlen ihrer Augen und das Lächeln ihres Mundes im Sinne. Er war wieder im Wald gewesen, um die Veränderungen, die das Wachsen in der Natur mit sich brachte, zu begutachten. Allerlei Bodengewächs war mit einemmal erschienen. Kräuter und Pflanzen, die das Vorhaben Bäume zu werden in sich trugen, hatten seine besondere Aufmerksamkeit erregt. Es gab unter Steinen und im Vorjahreslaub Käfer, Würmer und Insektenlarven zu bewundern. Und noch eine Begebenheit hatte seine Phantasie vor neue Aufgaben gestellt: ein Vogel, der mit den Krallen seiner Füße sich in der Borke eines Baumes verharkt hatte und mit dem Schnabel in kurzen Intervallen auf die Rinde klopfte. Unter der Rinde lebten in kleinen Aushöhlungen ebenfalls Würmer, Käfer und Maden, und er hatte zunächst angenommen, dieser Vogel fände wie er Gefallen am Beobachten des Kleingetiers, wie es krabbelte und kroch, Gänge ins Holz bohrte und sich erschrocken zusammenzog.

Aber dann mußte er feststellen, daß die Interessen des Vogels gänzlich anderer Natur gewesen waren. Er pickte nämlich jenes Kleingetier mit dem Schnabel auf und würgte es hinunter. Einen Moment lang war der junge Mann versucht, es dem Vogel gleichzutun, aber dann überkam ihn so etwas wie Mitleid mit den Geschöpfen, die eben noch lebendig herum gekrabbelt waren und nun für immer und ewig tot sein sollten. Mochte der Vogel es über das Herz bringen, er konnte es nicht. Jetzt war er wieder auf dem Heimweg, immer noch in Gedanken bei den Krabbeltieren, als er von weitem das Mädchen wieder-

erkannte, über das er inzwischen mehr als einmal gehörig nachgedacht hatte. Da sie ihn sah, warf sie mit einem Schwung ihr langes, dunkles Haar in den Nacken und verwandelte ihren Blick, so daß ihr Lachen einen Strom von Wärme und Herzlichkeit ausstrahlte. Jetzt am Tage war ihre Rede frei und ungehemmt, und ihre Unbefangenheit ermunterte ihn, das beobachtete mitzuteilen. Indes mußte es da etwas geben an seiner Schilderung, was in höchstem Maße dazu beitrug, ihre Heiterkeit zu erregen. Er verstand dieses Lachen nicht, wie das erste, und ein Anflug von Reue über seine Vertraulichkeit ergriff ihn. Sie merkte wohl bald, daß es ihm ernst war mit der Darstellung jener banalen Vorkommnisse im Walde und daß sein Verstand ungeübt war mit dem Umgang jeglicher Alltäglichkeit. Sie beschloß daraufhin, seine Worte zu behandeln, als gälten sie Ereignissen von größter Wichtigkeit, ja sie fand Gefallen an der Intensität, mit der er Naturgeschehnisse wiedergab.

Ihr Auftrag und Grund ihres Waldspazierganges war es gewesen, Reiser zu sammeln, die, an einen Stiel gebunden, dem Haus- und Hofputz dienen sollten. Zu diesem Zwecke trug sie eine Kiepe auf dem Rücken, in der sie lange, dünne Zweige sammelte. Der Wunsch, ihr die Last abzunehmen, erwachte in ihm. Er entschloß sich, sie ein Stück ihres Weges zu begleiten. Dabei erklärte sie ihm auf ungezählte Fragen, was er zu wissen begehrte. Und er begehrte viel. War so etwas überhaupt möglich, daß jemand so wenig wußte und kannte? Er mußte ihr erläutern, wie neu und unbekannt, aber immens spannend und wundervoll ihm diese Welt erschien.

Seine Herkunft konnte er nicht nennen, nur daß er mit dem goldseidenen Flügelpaar unterwegs gewesen war in die Welt, von der die Verheißung gesprochen hatte. Sonderbar, im Eifer des Gespräches erstarkte sein Vertrauen soweit, daß er ihr den goldenen Faden zeigte. Die Erfahrungen mit anderen Menschen hatten ihn eigentlich den Entschluß fassen lassen, über seine Bestimmung zu schweigen. Das Mädchen hatte bald gelernt, seine Ausführungen dem Grade seiner Empfindsamkeit gemäß zu würdigen. Es übertrug sich sogar ein Teil von dem großen Ernst, mit dem er formulierte, auf ihr Gemüt. Es war ihnen beiden ein Bedürfnis, in den folgenden Tagen und Wochen ihr Wissen und Verständnis auszutauschen. Sie mußte viel erklären von den Jahreszeiten, den Wettereinflüssen, dem Gebrauch vieler Dinge, der Nützlichkeit mancher Kräuter und ihrer Wirkung auf den Organismus, bis hin zur Benennung von allem, was er bislang hatte ohne Namen zu verstehen versucht. Sie tat es mit dem gleichen Eifer und der gleichen Nachhaltigkeit, mit der er Fragen stellte und auf viele Nebensächlichkeiten hinwies. Ihr gefiel, mit welcher Freude er alles Neue in sich aufnahm, besonders, wenn es die Natur betraf. Durch seine Augen lernte sie die Gräser, Blumen und Wassertropfen, Spinnweben, Blattgerüste und die Färbung des Himmels, wenn er abends rot wird, neu zu sehen.

Er teilte ihr seine Gedanken mit, die ihm kamen bei allen Neuigkeiten. Und immer war es ein besonderer Blickwinkel, ein anderer, aus dem er schaute. Er liebte ihr schier grenzenloses Wissen, die Nüchternheit der Erklärungen, die sie gab, die strenge Einteilung in brauchbar und unbrauchbar, in nützlich und schädlich, Aspekte, unter denen er nie zu beurteilen pflegte. Etwas von der strengen Einteilung fehlte ihm, und etwas von der freien, lockeren Betrachtungsweise, wie er sie anlegte, wünschte sie sich.

Hierin, so spürten sie, sooft ihnen gemeinsame Ausflüge vergönnt waren, ergänzten sie sich in vortrefflichster Weise. Keiner vermochte sich später zu erinnern, ab wann sie

sich zur Angewohnheit gemacht hatten, auf den einsamen Waldwegen einander an der Hand zu nehmen. Ihre Hand zu fassen war ein Erlebnis, das an Faszination und Gefühlswert beinahe unergründlich schien. Sie fühlte sich warm an, paßte gut in die seine und bildete einen ständigen Kontakt zu ihr, auch dann, wenn keine Worte gewechselt wurden.

Während einer Rast im mittlerweile hochgewachsenen Farnkraut, nahm er sich erstmalig die Zeit, ihre Augen zu betrachten. Unter den sauber angeordneten, dunkelbraunen Haaren der Brauen lagen sie eingebettet in klare Linien der Lidfalten. Um den Schwung ihrer Formen nachzuvollziehen, mußte ein Mensch wohl lange zeichnen üben. Ihre Iris war braun bis hin zu einem Stich ins warme Dunkelgrün, allerdings nur eine Ahnung viel. Die Pupille weitete und verengte sich je nach Lichteinfall. Es lag etwas von dem ersehnten Frieden und der Stille darin, jedoch war es ihm nicht möglich, dort hinein zu tauchen und die Lider hinter sich zu schließen. Je länger er sie anschaute, desto mehr gefiel sie ihm. Und mancher Blick kam ihm vor, wie ein guter, vertrauter Bekannter. Sie hockte im Grünen, die Arme um die Knie geschlungen, und blickte, ohne sich abzuwenden, zurück. Ihm war, als könne er durch diese Augen ihre Gedanken lesen. Ohne auch nur im Geringsten daran zu denken, daß er abgewiesen werden könnte, machte er von der Gewohnheit Gebrauch, Dinge, die er erkennen wollte, zu ertasten. Sie empfand dieses sanfte Erfahrungsspiel als überaus angenehm. Seine Fingerkuppen berührten ihre Schläfen und Wangen, fuhren den Hals entlang und glitten über das seidig glänzende

Haar. Sie genoß diese Berührungen, indem sie die Lider senkte. Dabei konnte die Haut mehr erfahren als das Auge. Darum wurde es für einen Moment ausgeschlossen. Er hatte bislang soviel ertastet, daß er Zeit benötigte, diese Neuigkeiten zu verarbeiten.

Wie auf ein Stichwort hin standen sie auf, drehten sich seitwärts und liefen zurück ins Dorf.

Von Tag zu Tag stieg die Sonne höher empor am Himmelszelt, und wenn nicht Wolken den Himmel verdeckten, wärmten ihre Strahlen die unerschrockene Dorfjugend genug, um die ersten Abenteuer im See zu bestehen. Aus Brettern und Kisten hatten einige von ihnen ein Floß gezimmert, daß stark genug war, bei relativ glatter Wasseroberfläche vier bis fünf Jungen zu tragen. Eine lange Stange diente als Antriebsmittel, der Mast mehr als Festhaltemöglichkeit, denn zur Befestigung eines Segeltuches. Allerdings fehlte ihnen ein gut Teil Selbstbeherrschung, was von Zeit zu Zeit dazu führte, daß einer, mehrere oder gar die komplette Mannschaft über Bord gingen. Schließlich bildete sich ihr Ehrgeiz

dahingehend um, daß nicht mehr zählte, wenn sie alle möglichst lange auf dem Floß standhaft blieben, sondern nur noch, wer als letzter oben blieb, nachdem er durch raffinierte Schaukelmanöver die übrigen Jungen abgeschüttelt hatte. Eine ganze Weile hatte der junge Mann am Zuschauen bei diesem Treiben eine lebhafte Freude empfunden, als er für sich beschloß, bei nächster Gelegenheit, wenn das Floß würde unbenutzt am Ufer liegen, aufzusteigen und eine Probefahrt zu unternehmen. Diese Gelegenheit fand er am darauffolgenden Abend, als die Jungen bereits von ihren Eltern heimgerufen worden waren.

Mit dem jungen Mädchen hatte er eine Forschungsreise am Ufer des Sees entlang unternommen, Wasservögel beim Brüten ohne böse Absicht erschreckt und kennengelernt, wie es sich anfühlt, wenn man den Schlamm des seichten Untergrundes durch die Zehen gleiten läßt.

Beide trugen ihr Schuhwerk in den Händen, marschierten hintereinander auf den Steg zu und richteten den Blick aufmerksam auf das trübe Wasser, um unliebsamen Ausrutschern zu entgehen. Im Schilf entdeckten sie das Floß, das trotz Bedenken von Seiten des

Mädchens schnell startklar wurde für die ersehnte Wasserfahrt.

War das ein Vergnügen. Der Abendwind brachte Bewegung in die Wasseroberfläche. Das Floß schaukelte sanft, so daß im Magen ein angenehmes Kribbelgefühl entstand, das sich verstärkte, wenn man den Seegang durch Schaukeln am Mast und Verlagern des eigenen

Körpergewichtes unterstützte. Sie hatte sich, ein wenig müde vom Wasserwaten und der Abendluft, niedergesetzt und ihrer Gewohnheit nach die Arme um die Knie verschränkt. Er wurde der Schaukelei nicht sobald überdrüssig, wenngleich ständige Ermahnungen ihrerseits versuchten, seinen Übermut zu drosseln. Es gelang ihr nicht, was dem Wasser selbst gelang, als sich beide darin wiederfanden und zwar mitsamt ihrer Kleidung. Jetzt allerdings war sein Geschrei groß, größer als ihres, da sie schwimmen konnte, eine

Fertigkeit, deren sich der junge Mann noch nicht rühmen durfte.

Er wäre gerne ertrunken in diesem Augenblick, allein ihre lapidare Feststellung, daß es dem See an dieser Stelle an Tiefe fehlte, machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Seinem Schnaufen und Prusten nach zu urteilen, hatte er ein gut Teil des Wassers, das

ihn soeben noch umgeben hatte, geschluckt. Es war insgesamt gesehen kein dramatisches Ereignis. Schnell war das Floß zurück ins Schilf geschoben. Allein die nasse Kleidung mahnte zum Heimgang. Wie er sie so triefend naß an ihrem Elternhaus ablieferte, erregten sie beide den Spott und die Heiterkeit der Mutter.

Sie wußte von dem Umgang ihrer Tochter mit ihm, wenngleich er noch nie in diesem Hause verkehrt hatte. Ihr war die Gelegenheit recht, etwas mehr über diesen sonderbaren Fremdling zu erfahren, und unter dem Vorwand, er dürfe in den nassen Kleidern nicht weiterziehen, lud sie ihn ein an den Kamin zu einer Tasse Käutertee und einer trockenen Decke. Während das Mädchen sich in seiner Kammer umzog, kam der Vater heim. Sein Gesicht war nicht fremd. Von der Mutter über das Geschehen informiert, sprach er von besserer Eignung als Lebensretter bei zugefrorener Seeoberfläche. Sie mußten alle drei herzlich lachen.

Der Vater des Mädchens war also der Arzt, ein humorvoller Mensch, der die Begabung hatte, mehr die komische Seite des Lebens zu sehen, als die tragische. Dennoch ließ er im Umgang mit seinen Medikamenten äußerste Sorgfalt walten. Ein Menschenleben war ihm heilig, und wenn seine Behandlungen ohne Erfolg verliefen, arbeitete er oft nächtelang, um eine Rezeptur zu verbessern. Er hatte eigens zur Kräutersammlung eine Kammer zum Trocknen und Lagern eingerichtet. Der kleine Garten hinter dem Haus gehörte zu seinem Experimentierfeld. Was es dort nicht gab, wurde im Walde gesucht. Jede Pflanze verzeichnete er in einem umfangreichen Buch und fügte mit ein paar gezielten Strichen eine Skizze hinzu. Dazu verwendete er Stifte mit sehr dünner Spitze aus einer kohleartigen Substanz. Niemals zuvor hatte der junge Mann solche Zeichnungen gesehen. Vor Begeisterung vergaß er gänzlich den vorangegangenen Schiffbruch. Der Doktor preßte Pflanzen und verwahrte sie hinter Bilderrahmen. Dazu malte er eine passende

Umgebung, so daß der Betrachter glaubte, tatsächlich ein Stück Wiese vor sich zu haben. In den nächsten Tagen übte sich der junge Mann im Nachahmen solcher Zeichnungen, die er mit Hilfe von geliehenen Stiften und Papierblättern anfertigte. Immer wieder lief er zum Doktor und bat ihn um ein Gutachten oder Ratschlag. Dabei vernachlässigte er seinen Acker derart, daß nach kurzer Zeit eine Wildnis entstanden war. Es wurden wieder Stimmen laut gegen ihn. Man möge den Grund und Boden, der zu seinem Hof gehörte, in Gemeindeeigentum überschreiben. Der Doktor hatte eine andere Idee. Er einigte sich mit dem jungen Mann dahingehend, daß er selbst die Bodenfläche zu Experimenten für seine Forschung über Kräuter und Heilpflanzen nutzen dürfe und daß der junge Mann vom Arzt unterwiesen würde in heilkundlichen Fragen und im Zeichnen von Pflanzen und Tieren.

Immer wieder geschah es, daß er den Doktor bei Krankenbesuchen begleitete und ihm zur Hand ging, was ihm nicht nur Einblick in die verschiedenen Familiensituationen im Dorf

gab, sondern ihn selbst zum halben Arzt machte. Sein Ansehen wuchs über die Grenzen der Gemeinde hinaus.

Es war zu der Jahreszeit, die sie Sommer nannten und die sich dadurch auszeichnete, daß der Körper nicht mit dicken Kleidungsgegenständen behängt werden mußte, zu einer Zeit voller Wärme und Wohlgefallen, die die Natur mit üppigem Wachstum krönte,

als der junge Mann und das Mädchen sich eine verschwiegene, vom Steg aus nicht einsehbare Bucht am See als Übungsfeld für einen Schwimmlehrgang erwählten. Sie hatten die leichte Kleidung am Ufer abgelegt und standen bis zur Brust im Wasser. Diese Tiefe sei am besten geeignet, meinte das Mädchen, um dem jungen Mann die ersten Schwimmbewegungen beizubringen: Die Hände vorne zusammengelegt, die Arme vor der Brust angewinkelt, die Füße vom Boden abgestoßen, die Arme gestreckt, weit auseinander geführt und die Hände wieder vor der Brust zusammengenommen, Ähnliches in der Beinbewegung. Nun, es fiel schwer, sich auf beides, Arme und Beine zu konzentrieren. Um den praktischen Unterricht durch ein Naturbeispiel zu belegen, rannte sie, nackt, wie sie war, zum nahegelegenen Bach, der den See speiste und an der anderen Seite wieder abfloß, fing einen Frosch und nötigten dem Armen einen anderen Lebensraum auf. Dieser Frosch war Meister im Schwimmen. Er beherrschte die Bewegungen mit beispielhafter Genauigkeit. Allerdings stellte er seine kostbare Zeit nur kurz zur Verfügung und verschwand dann in tieferen Wasserregionen. Sie lachten ausgiebig über seine kleinliche Hast.

Damit der junge Mann sein Vertrauen nicht allein auf das Wasser beschränken mußte, legte sie ihre Arme zur Abstützung unter seine Brust und seinen Bauch. So sollte er die Schwimmbewegungen angstfrei ausüben können. Sobald sie jedoch ihre Arme etwas sinken ließ, sank sein Körper mit. Er empfand es insgeheim als angenehm, ihre Arme zu spüren, hätte sie am liebsten ganz an sich gedrückt, fürchtet aber zu diesem Zeitpunkt, der dem Erlernen der Schwimmbewegungen dienen sollte, damit ihren Tadel zu riskieren, war sie es doch, von der der Eifer ausging. Ihre Arme waren also durch ihre Anziehungskraft nicht förderlich. Darum stellte sie sich, den Grund des Absinkens erahnend, einige Schritte vor ihn. Er sollte schwimmend bis zu ihr gelangen, ohne den Boden des Sees mit den Füßen zu berühren. Und siehe, diese Methode erwies sich als erfolgreich. In hastigen Zügen paddelte er auf sie zu. Der Frosch hätte es eleganter gekonnt, aber nicht schneller. Sie ging dann immer noch ein paar Schritte zurück, ehe

er ihre ersehnten Hände ergreifen durfte. Bei solch einem Rückwärtsgehen geschah es, daß sie stolperte und unter der Wasseroberfläche verschwand. Beherzt tauchte er nach ihr, die sobald nicht wieder erschien, bis er nach kurzer Unterwasserjagd ein Bein von ihr zu fassen bekam und sie zu sich heranzog. Sie entwand sich ihm und los ging die Jagd aufs neue. Immer wieder ließ sie sich fangen, bis sie beide vom Toben erschöpft waren. Im Ufergras legten sie sich auf dem Rücken nieder, damit die warmen Sonnenstrahlen sie trocknen mögen. Was konnte schöner sein, als seinen ruhebedürftigen Körper der Sonne preiszugeben, die Augen zu schließen und die Entspannung der Muskulatur zu spüren? Sie fanden es bald heraus. Schöner war es noch, sich einander zu widmen, zu betrachten und zu berühren, die Geborgenheit in der körperlichen Umarmung zu finden, weiche, glatte Haut sanft zu streicheln. Das war Glück, tiefe innere Zufriedenheit, das war Vertrauen, Liebe, Freundschaft, alles, wonach sich ein Menschenherz so heiß sehnen kann. An diesem Nachmittag wurde ihre Beziehung um eine Erfahrung reicher, die von der Dorfbevölkerung, hätte sie davon Kenntnis erlangt, als Untugend bezeichnet worden wäre, ohne daran zu denken, wie das eigene Empfinden in früheren Jahre gewesen ist.

So schnell, wie diese wenigen Stunden vergangen waren, vergeht Zeit, trotz der erstaunlichen Geschwindigkeit, mit der sie auch sonst eilt, nicht. Schon mahnte ein kühler Abendwind zum Aufbruch. Glühende Wangen und warme Hände, die einander hielten

bis ins Haus des Mädchens hinein, zeugten von der Erinnerung an diesen Sommertag. Es war das erste Mal, daß fremde Menschen sehen durften, wie sie einander anfaßten. Ihre Mutter, die schon gewartet hatte, nahm dieses Bild mit schmunzelnder Heiterkeit und

leichter Wehmut auf. Sie begrüßte die aufkommenden Gedanken an die erste Begegnung mit ihrem Mann und verdrängte Gefühle, die anzeigen wollten, ihre Tochter wäre für sie verloren. War es denn nun am Ende doch diese Erde, von der die Verheißung gesprochen hatte? Sollten der Frieden und die Freiheit, Leben, Licht und Liebe auf solch kurze Augenblicke, wie sie zwei Menschen miteinander erfahren können, beschränkt sein? Wieviel gehörte dazu, um dieses Glück herzustellen? Da war zunächst der Sommer mit seiner Wärme und der See, das Ufer, weiter ein Mädchen mit wundervollen Augen, das gegenseitige Vertrautwerden, viele vorausgegangene Gespräche und Erlebnisse, deren Höhepunkt dieser Sommernachmittag bildete. Sobald er vorüber war, nahm seine Stelle wieder dieses ungeduldige Sehnen ein, das Nichterwartenkönnen, ein regelrechtes Fieber nach einem neuen Höhepunkt. Selbst würde der Augenblick verweilen, würden Zeit und Raum stille stehen einen Moment lang, das Sehnen und die Ungeduld kämen wieder. Diese Erde war nicht der Ort, von dem die Verheißung gesprochen hatte. Solche Gedanken kamen den beiden jungen Leuten jedoch zunächst nicht. Sooft es ihnen möglich war, lagen, standen oder saßen sie beieinander oder liefen Hand in Hand der Zärtlichkeit entgegen, die ihrer wartete.

Den Doktor suchte eines Abends der Vater eines anderen Mädchens auf, um ihm von der Schande und dem Unglück, welches seinem Kinde widerfahren sei, zu berichten. Seine Tochter hatte sich, wie er sich ausdrückte, mit einem Nichtsnutz eingelassen, der in seiner tierischen Triebhaftigkeit ihr Vertrauen mißbrauchte und sie schwanger gemacht hat. Wenn diese Schande im Dorf bekannt würde, wäre die Ehre seines ganzen Hauses vernichtet. Darum müsse der Doktor einen Weg finden, die Tochter von der schmählichen Frucht ihres Leibes zu befreien. Mir unglaublicher Direktheit übersetzte der Doktor dieses Ansinnen des Mannes in die Sprache, die er verstand. Er sollte das Kind im Leibe einer werdenden Mutter ermorden, um einen höchst zweifelhaften Begriff der Ehre und des Ansehens zu erhalten, der Menschen Freiheit und Würde raube. Nie und nimmer könne er an dem Unterfangen mitarbeiten. Wohl wäre er bereit, das junge Paar bei der Geburt und Aufzucht des Kindes zu unterstützen, er würde das Baby gar an Kindes statt annehmen, aber Mord lehne er ab.

Mit hochrotem Kopf verließ der Bauer das Haus des Doktors. So müsse er sich denn selber helfen, murmelte er und verschwand. Der junge Mann, der die letzten Worte beim Eintreten noch mitbekommen hatte, erkundigte sich, was vorgefallen sei und

erfuhr, was man vom Doktor erwartete. Bis in die Nacht hinein sprachen die beiden noch über Begriffe wie Ehre, Schamhaftigkeit, Pflicht zur Lebenserhaltung, Menschenwürde, Geschlechtstrieb, kurz über Idealzustand und irdische Wirklichkeit.

Die Selbsthilfe des Bauern sah so aus, daß er seine Tochter an die vier Bettpfosten fesselte, sie mit einem Knebel zum Schweigen brachte und sich mit einem langen Küchenmesser daran begab, die Ehre des Hauses zu bewahren. Eine Infektion durch den

unsachgemäßen Eingriff war die Folge. Seine Tochter wurde schwer krank. Den Arzt, den er sich nicht zu rufen getraute, sollte der junge Mann ersetzen. Dessen Bemühen blieb ohne Erfolg, und nach drei Wochen war das Mädchen tot.

In dieser Nacht quälte ein noch funktionstüchtiges Gewissen den Vater. Er wälzte sich im Bett von einer Seite auf die Andere. In kurzen Alpträumen erschien ihm seine Tochter, wie sie selbst noch ein kleines Kind gewesen war mit einem toten Säugling auf dem Arm und sprach: „Schau, Vater, mein Kind. Ich habe es doch zur Welt gebracht." Andere Träume gaukelten ihm vor, es sei alles gutgegangen, und wenn er aus diesen erwachte, wurde ihm die grausame Wirklichkeit wieder bewußt. Dann kniff er die Augen zusammen, verzerrte den Mund und hielt krampfhaft die Hände vor sein Gesicht, bis sich die Fingernägel tief eingruben und ihm Schmerz verursachten. Diesen Schmerz nahm er fast als Erleichterung, lenkte er doch kurz von dem Schmerz ab, den ihm seine grausame und dumme Tat eingebracht hatte.

Die Qualen seines Gewissen hätten ihn wohl verzehrt, wenn er nicht im letzten Moment nach Mitschuldigen, vielleicht sogar Hauptschuldigen, gesucht hätte. Da war zunächst der Knecht, der sich an seiner Tochter vergangen hatte. Daß sie es nicht gegen ihren Willen hatte geschehen lassen, kam ihm nicht in den Sinn. Der überhebliche Doktor, schon

immer hatte der sich für jemand Besseres gehalten. Der hätte doch helfen müssen. Und dann sein unfähiger Gehilfe, der vielleicht irgendwann von seiner Tochter abgewiesen worden war. Schließlich war der ja auch hinter den Mädchen her. Der wollte gar nicht helfen. Sicher wollte er seine Tochter sterben sehen. Das nun war für sein Gewissen zuviel, das duldete es nicht zu denken. Der Schmerz, der ihn abermals überannte, der abermals unerträglich schien, überzeugte ihn, daß es das Beste wäre, im Dorfe den Anschein zu erwecken, als trüge der Gehilfe vom Arzt die Hauptschuld. Seinen Knecht brauchte er mehr denn je, da seine Tochter jetzt tot war. Der Doktor hatte einen tadellosen Ruf. Seine Mitschuld hätte der Pöbel nicht akzeptiert. Dieser junge Fremde war als Sündenbock bestens geeignet. Nur er wußte von dem Eingriff, den der Bauer bei seiner Tochter vorgenommen hatte. Auf ihn mußte der Zorn gelenkt werden. Und schon begann er ihn zu hassen.

Sein Gehirn hatte binnen kurzem einen Plan erstellt, um den Fremden zu vernichten. Tags drauf rief er seinen Knecht und teilte ihm mit, daß nicht er Ursache für die ungewollte Schwangerschaft gewesen wäre, sondern der Doktorgehilfe. Obwohl es keine Anzeichen gab, die diese Behauptung hätten unterstützen können, glaubte der Knecht mit wahrer Begeisterung. Ihm war, als ob sich die Luft wieder atmen ließe, als würde ihm neues Leben zuteil.

Der Leichnam des Mädchens reichte den Leuten als Beweis gegen den jungen Mann.

In der Nacht darauf bewarf man sein Haus mit Steinen und zündete es an, als er in

Empörung heraustrat, um nach der Ursache zu sehen. Sein Bemühen, die Flammen zu ersticken, fand keine Unterstützung.

Als er das Haus des Doktors erreicht hatte, war sein Hof schon in der Glut des Feuers vernichtet worden. Nach einer unruhigen Nacht standen am nächsten Morgen der

Arzt und sein junger Freund vor einer empörten, anklagenden Menschenmenge, allen voran der Bauer und sein Knecht. Es war eine kurze Verteidigungsrede, die der Arzt zustande bringen konnte Für seinen Schützling, ehe das Geschrei der Masse jede Silbe übertönte. Allein der Respekt vor dem Verdienst des Doktors hinderte sie, handgreiflich zu werden. Am Nachmittag waren die Belagerer verschwunden, nicht aber die Stimmung, die das Dorf beherrschte.

Womit war die furchtbare Anschuldigung zu widerlegen? Auf Argumente, Worte und Beteuerungen wollte niemand hören. Es war, als ob die Masse nur ein Herz voller Zorn hatte, aber keinen Verstand. Jeder zeigte gleiche Reaktionen, keiner unterschied sich

vom Nächsten. Neben dem Hause des Arztes hatte der junge Mann nur noch das kleine Mädchen mit seinen Eltern zum Freund. Die Kleine kam gegen Abend mit einem großen Korb angetrabt und ließ ausrichten, was die Dorfbewohner beschlossen hatten. Sie wollten der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, und deswegen würden sie ihn am nächsten Morgen gegen allen Widerstand holen, um ihn aufzuhängen.

In dem Korb brachte sie Lebensmittel für eine Flucht. Damit war das Wort gefallen: Flucht. Er würde sich dem Zugriff der Leute entziehen müssen, bis ihre Wut der Vergessenheit anheimgefallen wäre. Seine ständigen Beteuerungen, nichts Unrechtes, wissentlich Unrechtes, begangen zu haben, konnte die Arztfamilie ohne Mühe glauben, sein Leben jedoch nicht schützen. Es wurde schnell das Nötigste vorbereitet, ein Sack angefüllt mit wichtigen Überlebensmitteln, er bekam Kleidung, für eine anstrengende Reise geeignet, und einen Mantel gegen die Kälte der Nacht. Das kleine Mädchen bestand noch darauf, daß er es zum Abschied in den Arm nähme und rang ihm das Versprechen ab wiederzukommen. Dann lief sie heim, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Gerne hätten auch ihre Eltern „Lebewohl" gesagt, aber sie wagten nicht zu kommen. Er sollte in die Stadt gehen, wo ein Bruder des Doktors lebte, der ihn sicher aufnähme. Ungefähr drei Tage würde er dafür laufen müssen. Sie wollten ihn benachrichtigen, wenn eine Rückkehr denkbar schiene.

Dann kam die Nacht und damit der Augenblick für den Abschied. Das junge Mädchen ging ein Stück Wegs mit ihm, daß er den rechten Pfad fände und wahrscheinlich, um noch für Minuten an seiner Seite zu bleiben. Sie fasten einander nicht an, als sie in

die kühle Nacht hinaustraten. Kein Stern war am Himmel zu sehen. Leise fiel Regen. Niemand sprach ein Wort. Soviel, was er noch sagen wollte, wie gut sie war und wie schön die Zeit mit ihr.

Sie spürte, daß Verzweiflung ihm die Kehle zugeschnürt hatte. Sie wollte noch sagen, daß sie an ihn glaube, ihm Treue halten würde. Sie sagte es nicht. Als sie den Wald erreicht hatten, blieben sie stehen und wandten sich einander zu. Er wollte ihr die Hand reichen.

Sie senkte den Kopf und biß sich auf die Lippen, weil das Brennen in den Augen immer schmerzhafter wurde. Schließlich brach ihr Widerstand. Sie ließ sich in seine Arme fallen und gab ihren Tränen den Weg frei. Hemmungslos weinte sie jetzt wie ein Kind. Er

suchte verzweifelt nach Worten, um sie zu trösten, allein nichts schien ihm geeignet, ihren Kummer zu mildern. Seine Hand hob ihren Kopf am Kinn, so daß er ungehindert in ihre tränenglänzenden Augen blicken konnte. Sie versuchte tapfer zu lächeln, und für

einen Moment blitzte Hoffnung auf. Dieser Moment reichte aus, ihn an den goldenen Seidenfaden denken zu lassen, den er noch immer bei sich trug. Er zog ihn aus der Brusttasche, wo er ihn stets verwahrte: „Nimm du ihn. Ich will uns ein goldenes Flügelpaar suchen, das uns beide in die Welt trägt, wo wir ewig in Liebe, Freiheit und Frieden leben können." Damit trennten sie sich. Sie lief zurück ins Dorf, während er seinen Weg nahm, von dem er nicht wissen konnte, wohin er führte.

II

Es ist nicht gut zu wandern, wenn des Nachts kein Stern am Himmel den Weg weist, wenn der vom Regen aufgeweichte Untergrund immer wieder Fallen stellt und die Angst das einzige Antriebsmittel bildet. Es war nicht die Angst, der Zorn der Dorfbevölkerung könnte ihn einholen und einer ungerechten Strafe zuführen. Vor denen Würde er sich verbergen können. Es waren die Vorwürfe seines eigenen Gewissen. Und schlimmer noch als die Zweige, die ihn unvermutet ins Gesicht peitschten, schmerzte ihn die Ahnung, die Liebe seiner Freundin für immer verloren zu haben.

Sicher hatte er versprochen zurückzukommen, so, wie sie ihm Treue halten wollte. Seine Treue stellte aber ein vorausgegangenes Ereignis in Frage. Als er der schwerkranken Tochter des Bauern helfen sollte, war es geschehen, daß er sie zum Zwecke der Untersuchung hatte unbekleidet vor sich liegen gehabt. Der Anblick des kranken, hilflosen Mädchens hatte neben seinem Mitleid auch eine Erregung bei ihm hervorgerufen, die nicht zu seiner Aufgabe gepaßt hatte. Nun hätte er trotz gegenteiliger Forderung des Bauern den Doktor zurate ziehen sollen, doch zum einen wollte sein Ehrgeiz die junge Frau alleine retten, zum anderen hatte er befürchtet, den erregenden Anblick des nackten Körpers zu verlieren.

Warum konnte auch ein anderer Mensch als seine Freundin seine Sinne reizen, daß ihm Gedanken an Untreue und Abwechslung kamen? Er hatte darüber zu niemandem gesprochen. Jetzt kam es ihm als Vertrauensbruch vor. Irgend ein Leichtsinn, ein Übermut war also Ursache für sein anklagendes Gewissen, dafür, daß er seiner Freundin nicht mehr alle Gedanken anvertraut hatte, und vielleicht gar dafür, daß das Bauernmädel gestorben war. Er hatte niemals eine feste Absicht zur Untreue gehabt, nur ein paar Gedanken waren ihm gekommen. Und mit denen hatte er gespielt. Die Vermutung, daß dieses Spiel Auslöser für den Fortgang der Ereignisse gewesen war, die schließlich zu seiner Flucht geführt hatten, peinigte ihn aufs Ärgste und trieb eine maßlose Verzweiflung in sein Herz. Als das Dunkel der Nacht durch die ersten Lichtschimmer des Morgengrauens ersetzt wurde, warf ihn die Erschöpfung auf den nassen Waldboden, und er schlief augenblicklich ein.

Die Feuchtigkeit, die seinen Mantel durchdrang und der Regen, der ihm unablässig ins Gesicht spie, weckten ihn, als eine immer noch dichte Wolkendecke die Mittagssonne verbarg. Neben sich fand er sein Gepäck wieder, das ihm eine ebenfalls feuchte

Wegzehrung lieferte. Seine Glieder schmerzten, und er fror. Heute wollte er jedoch das Tageslicht nutzen, und so eilte er weiter, obwohl ihm alle Knochen weh taten. Immer wieder zwangen ihm seine Gedanken die Überlegung auf, wie er seinen Fehler hätte vermeiden können. Der Wunsch, es ungeschehen zu machen, paarte sich mit der Sehnsucht nach der Wärme und Geborgenheit, die ihm in der Liebe seiner Freundin begegnet waren.

Die kommende Nacht durfte er keineswegs wieder im Freien verbringen. Die nasse Kleidung erschwerte zu sehr die Wanderschaft. Also suchte er sich nach Anbruch der Dunkelheit einen Unterschlupf in der Scheune eines Bauernhofes, der am Wege gelegen war. Er legte seine Oberkleidung ab und schuf sich ein Nest aus Mantel und Stroh. Am nächsten Morgen würde er sich früh aus dem Staube machen, ehe noch jemand von seiner Anwesenheit würde erfahren können. Es kam allerdings anders. Sein Körper fühlte sich nach der anstrengenden Reise zu wohl im wärmenden Stroh, als daß er früh genug erwacht wäre. Ein Landarbeiter entdeckte ihn, als er für die Pferde des Hofes Heu holen wollte. Seine Begrüßung war nicht unfreundlich, obwohl es sein Bauer nicht gerne sah,

wenn Vagabunden in seiner Scheune übernachteten. Da es aber auf die Ernte zuging, konnten nicht genug Helfer für die Feldarbeit geworben werden. Der junge Mann sollte seine Übernachtung und sein Mittagessen verdienen, bevor er weiterzöge.

So fand er sich mit etlichen anderen bald wieder bei der Mäharbeit und beim Garben binden. Am Abend saßen sie ums Kartoffelfeuer und sangen Lieder, die einer auf einem Instrument begleitete, das wohlklingende Töne erzeugte. In dieser Gemeinschaft, in der man ihm Essen und Musik bot, vergaß er für Stunden, daß er auf der Flucht war. Die

Landarbeiter und ihre Frauen erzählten Geschichten, die sie erlebt hatten, als sie noch umhergezogen waren, fragten ihn beiläufig, welchen Weg er nähme und akzeptierten, wenn er auf bestimmte Fragen keine Antwort geben wollte. Dann sangen sie wieder

und tanzten ums Feuer und trieben ihre lauten und derben Scherze.

Ein jeder von ihnen war Freund und Fremder zugleich, gab sich vertraut, da alle in groben Zügen doch Ähnliches erlebt hatten. Eigentlich war diese Oberflächlichkeit entspannend.

Er saß, wie seine Freundin oftmals, die Knie vor die Brust gezogen und mit den Armen umschlungen und starrte ins flackernde, knisternde Feuer, das gerade angenehm viel Wärme ausstrahlte. Da seine Lider schwer wurden, legte er den Kopf auf die Knie und nickte ein. Er merkte auf, als er spürte, daß ihm jemand in langen, sanften Bewegungen übers Haar strich. Er sah eine junge Frau, die ihn ansprach und nach seinem Namen fragte und als er ihn nicht nennen wollte, einlenkte und Namen als unwichtig abtat. Sie fragte scheinbar teilnahmsvoll, warum er ein so ernstes Gesicht mache, nicht tanze und nicht singe. Sie alle seien doch mehr oder minder in der gleichen Situation und würden der Trübsal schon entgehen. Ihre Rede klang in seinen Ohren gut, lullte ein, wie das wärmende Feuer und der ausgelassene Gesang. Während sie noch sprach, lehnte sie sich an seine Schulter und begann, mit der Handfläche über sein Kopfhaar zu fahren. Einen Moment wollte er nichts denken, nur entspannen. Irgend etwas verriet ihm, daß

ihr Ansinnen nicht aufrichtig sein konnte. Nichts wußte er von ihr und glaubte doch, sie zu kennen, da ihr Streicheln angenehm war und seine Haut an seine Freundin erinnerte. Die Erinnerung sagte aber auch, daß sie nicht seine Freundin war und daß eine fremde Erregung zu seiner Flucht geführt hatte. Also durfte er diese Zärtlichkeiten nicht dulden, aber sein Hunger war zu groß, sein Körper zu müde und sein Wille zu schwach, um aufzuspringen und in der Finsternis unterzutauchen. Früh am nächsten Morgen verließ er ihr Bett, verwundert und enttäuscht über ihren Ärger, daß er so früh aufgestanden war.

Er erachtete sich nicht in der Lage, seine Hast zu erklären und war froh, ungefragt entkommen zu können.

Am dritten Tag seiner Reise sah er zum ersten mal die Sonne wieder, wie sie emsig die Regentropfen von den Blättern der Blumen leckte. In ihrer Begleitung wanderte es sich beschwingter, mutiger, fröhlicher, daß er beschloß, über die Berge abzukürzen. Zur Mittagszeit hatte er die erste Anhöhe erklommen, und gegen Abend stand er neben der Sonne auf dem Berg, von dem er Einblick nehmen konnte in die Ebene, die im Abendsonnenglanz die große Stadt beherbergte. Ein goldenes Band schlängelte sich durch die Täler, durch die Stadt bis hin zum Horizont dieser vor ihm liegenden weiten Ebene. Wahrend er noch hinabstieg, dem Häusermeer entgegen, entzündeten sich tausende von Lichtern, die die großen Häuser und Straßenschluchten erleuchteten.

So eine Stadt war kein großes Dorf mit einer Unzahl von Bauernhöfen. Die Häuser in den Randgebieten waren von Gärten und Parks umgeben, je weiter er aber in das Zentrum der Stadt gelangte, desto dichter standen sie beieinander, bis zwischen ihnen keine Lücke mehr war. Nicht eine Hand fand manchmal dazwischen Platz. Und hoch waren die Gebäude. Bis zu fünf Fensterreihen zählte er übereinander. Die Straßen waren mit Steinen gepflastert. Nirgendwo standen Bäume. Allein zwischen den Pflastersteinen wuchs in unbezwingbarer Hoffnung Moos, das es nur zu bescheidener Höhe brachte. Aber es wuchs da und ließ sich nicht ausrotten.

Die Nacht verbrachte er in einer rauchigen, stinkenden Hafenkneipe unter rohen, grölenden Gesellen, die, wenn sie sprechen wollten, nur lallen konnten, dies aber um so lauter. Ein bitteres Getränk, das sie schluckten, als gelte es einen Preis zu

gewinnen, war der Gegenstand ihrer sinnlosen Gespräche und Gebaren. Immer wieder kippte einer krachend vom Stuhl, da das Trinken offensichtlich Glatteiseffekt hatte. Die Balance war nur schwer zu halten, doch jeder Sturz erweckte neuerliches Gegröle. Am

nächsten Morgen erkundigte er sich nach der Adresse, die ihm mitgegeben war, und nach mehrmaligem Fragen stand er vor einem vierstickigen Mietshaus, wo der Bruder des Doktors wohnen sollte.

Er klopfte an die Türe und erkundigte sich bei einer älteren Dame, die ihn ungeniert von oben bis unten begutachtete, nach dem Manne, für den er einen Brief mitbekommen hatte.

„Der feine Herr," so erklärte sie mit spöttisch gespielter Würde, „ist ausgegangen und wird wahrscheinlich erst nach der Tischzeit zurück sein." Damit wollte sie das Fenster schließen.

Die Arglosigkeit im Blick des jungen Mannes ließ sie zögern, neugierig werden und schließlich fragen, woher er käme, was er von dem Taugenichts wolle und was ihn ausgerechnet hierher getrieben habe, in eine Welt, die Großstadt heißt und sich täglich mit Neid, Spott, Haß, Gier und allerlei schändlichen Umtrieben herumzuschlagen habe. Ihre großangelegte Rede vom Standpunkt der Überlegenen herab hemmte ihn, auch nur eine Frage ehrlich zu beantworten. So erzählte er von dem Doktor, dem Bruder des Mannes, und daß er geschickt worden wäre eine Familienangelegenheit zu klären, wenn möglich neu zu regeln. Er tat sich nun ebenfalls wichtig, gab an, er käme, eine Nachlaßgeschichte zu verwalten und schmückte seine Schilderung, wie es ihm passend schien. Das machte die Alte noch gesprächiger, noch neugieriger, witterte sie doch, daß es hierbei wohlmöglich um viel Geld ging. Es stellte sich heraus, daß ihr das Haus gehörte, daß sie Geld von jedem nahm, der dort Wohnrecht hatte und sich gleichzeitig vorbehielt, über Lebensstil und Gesinnung dieser, ihrer Mieter zu urteilen, gar zu bestimmen. Der Bruder des Doktors nun sei ein ganz übler Vertreter der Gattung Mensch. Jedesmal müsse sie um das Geld, das ihr für die Wohnung zustand, ringen, jedesmal käme es zu spät oder in Teilzahlungen. Das wäre natürlich kein Wunder bei der Beschäftigung, der ihr Mieter nachginge. Er verfasse Bücher, schreibe Geschichten und

Gedichte übelster Sorte von Menschen aus niedrigstem Milieu. Damit ließe sich freilich nur schwer Geld verdienen, aber ihrem Rat stelle er sich ja taub. Dabei meine sie es ja nur

gut mit ihm. Nun hätte sie aber lange genug gesprochen, und es wäre an der Zeit, sich zurückzuziehen. Der Gesuchte müsse nun auch bald kommen. Als eine Erlösung empfand es der junge Mann, als sie wirklich die Fenster schloß und nicht mehr zu sehen war.

Wie mochte der Mensch aussehen, von dem die Hauseigentümerin in so verächtlicher Weise berichtet hatte? Ein Mann, vielleicht im Alter des Doktors mit wenigen oder grauen Haaren, aber wie sonst noch? Jedesmal, wenn ein älterer Herr vorbeiging,

erwartete der junge Mann endlich den vielbeschriebenen zu treffen. Er wanderte ein wenig die Häuserfront entlang zur einen Seite, immer in gespannter Erwartung, und seine Phantasie malte ihm schon die ungewöhnlichsten Begebenheiten aus, die den Bruder des

Doktors hätten verhindern können.

Aber dann kam er schließlich doch: ein hagerer, großgewachsener, graumelierter Mann, der noch alle Haare auf dem Kopf hatte. Sein Gesicht wurde von vielen tiefen Falten bestimmt, sein Gang war etwas nach vorne gebeugt, der Blick auf das Pflaster geheftet, aber seine Augen wurden sofort groß und lebendig, als er ihn ansprach und den Brief des Doktors überreichte.„Ausgerechnet zu mir schickt er dich. Ausgerechnet zu mir." Es schien ihm selbstverständlich sofort in vertraulicher Weise zu sprechen. Ein lautes anhaltendes Lachen war seine Reaktion, als er den Grund des Besuches erfuhr. „Komm`, laß uns raufgehen. Du wirst dich wundern. Wart` nur ab," und er packte den jungen Mann am Ärmel und zog ihn in den dunklen Flur des Mietshauses. Zum ersten Mal in seinem Leben roch der Geflüchtete den muffigen Geruch einer glatten, glänzenden, durchgetretenen Holztreppe, die sie beide hinauf bis in den vierten Stock führte, wo der Schriftsteller wohnte.

Es war nun nicht gerade ein Palast, was sich den beiden auftat, aber für einen Einzelnen reichte die Wohnfläche bequem aus. Es gab dort eine Wohnküche mit Kochstelle zur Bereitung der Mahlzeit und um Holz und Kohlen zu verfeuern, weiter ein Arbeitszimmer mit einem riesigen Schreibtisch, der über und über mit Unordnung bepflanzt war und dann ein schlicht eingerichtetes Schlafzimmer, in dem ein Bett und ein Schrank die beherrschenden Elemente waren.

„Viel kann ich dir nicht anbieten, mein Junge. Aber deine Geschichte interessiert mich. Bleibe halt eine Weile. Geschichten interessieren mich immer. Davon lebe ich. Setz` dich doch. Ich will mal eben gucken, was noch im Haus ist. Du mußt ja ganz schön hungrig sein. Also weißt du, bei mir geht das nicht so zu wie bei meinem Bruder. Der hat eine ganz andere Chance gehabt. Außerdem war er schon immer von Ehrgeiz besessen. Ich habe mich alleine durchschlagen müssen. Zuerst bin ich noch als Schauspieler aufgetreten. Dann war ich mit einer Artistengruppe auf Reisen. Naja, und inzwischen kenne ich die Menschen so gut, daß ich über sie schreiben kann." So redete er noch eine ganze Weile, und der junge Mann war froh, zuhören zu können, anstatt selbst berichten

zu müssen.

Der ältere konnte erzählen, von den ungewöhnlichsten Leuten und Begebenheiten. Meistens kam jemand zu Schaden in seinen Schilderungen, der es nicht besser verdient hatte, aufgrund seines Ungeschicks, seiner Dummheit oder Vermessenheit, und man

sollte über all das Gehörte lachen können, beinahe, ohne Mitleid zu empfinden. Es klang darin die Vorstellung an, die Welt sei schlecht, und jede daraus resultierende Peinlichkeit gäbe Anlaß und Recht, sich derenthalben zu vergnügen.

Er wollte dem jungen Mann seine Bücher zu lesen geben, mußte aber erfahren, daß der kaum Schrift und Buchstaben in Gedanken umsetzen konnte. „Macht nichts. So was gibt`s. Ich bringe dir das schon bei. Sollst mal sehen, wenn du zurückgehst, kannst

du besser schreiben und lesen als jeder andere im Dorf." Das war bei aller Gleichgültigkeit und Verachtung, die er den angeblich Ehrgeizigen gegenüber hervorbrachte, typisch für ihn: auf seine Weise war er der Beste und mußte triumphieren, wenn nicht anders möglich, indem er alles verspottete.

Es war ein seltsames Leben und seinen bisherigen Gewohnheiten nicht entsprechend, das der junge Mann bei dem Schriftsteller kennenlernte und führen mußte. Der Tag begann, wenn es schon lange hell war, meist wortlos mit einem kurzen, phantasielosen Frühstück, Spaziergängen durch die Häuserschluchten der Stadt, hinaus in die Parks, die nicht einmal die grüne Farbe mit den Wäldern, die er kannte, gemein hatten. Es gab in diesen Parks nur wohlgeordnete, breite Wege, kurzgeschnittenes Gras und weit auseinander stehende hohe Bäume. Wenn man rastete, setzte man sich auf Holzbänke, um die Kleidung zu schonen. Nur Kinder tobten auf dem Rasen. Verliebte hatten Mühe, sich verborgen zu halten, und konnten sie sich ihrer Zärtlichkeiten schon nicht erwehren, mußten sie ständig auf der Hut vor Entdeckungsreisenden sein, die, jedesmal, wenn sie auf ein Pärchen trafen, peinliche Bestürztheit heuchelten.

Manchmal nahm der Schriftsteller seinen Notizblock mit, den er nicht nur beschrieb, sondern auch mit kleinen Skizzen, meistens von Menschen, die ihm in ihrer Erscheinungsweise ungewöhnlich vorkamen, füllte, um sie später in seinen Geschichten

genauer beschreiben zu Können. Mittags kehrten sie meist in einer Gastwirtschaft am Hafen ein, wo es für wenig Geld eine warme Suppe gab, die zum größten Teil aus Hafenwasser zu bestehen schien. Die Nachmittage gehörten den Unterrichtsstunden im Lesen- und Schreiben lernen. Um diese Zeit wurde schon etwas mehr miteinander

gesprochen, als vormittags. Sobald es dunkelte, suchten sie die verschiedenen Lokalitäten auf, in denen es je nach Bevölkerungsschicht die unterschiedlichsten Darbietungen zusehen gab, vom kompletten Theaterstück bis zur Rauferei der Schiffsleute in den

Hafenkneipen. Bis tief in die Nacht hinein schrieb und dichtete der Gastgeber noch in seiner Wohnung, nachdem er seinem Hirn mit jenen bitteren, übelriechenden Getränken Anreiz zu Hohn und Spott gegeben hatte.

Seine Schilderungen und Gespräche galten nicht immer nur dieser aussichtslosen, hoffnungsarmen Verzerrung. Manchmal war ihm daran gelegen, eine Rechtfertigung für seine Schreibweise zu liefern. Dann diskutierten sie um Wert und Unwert der Tugenden, um Sinn und Unsinn des täglichen Überlebenskampfes. Angelegentlich einer solchen Unterredung sprach der junge Mann seine Hoffnung aus, ein goldenes Flügelpaar wiederzufinden, das ihn dieser Welt entreißen möge. „Goldene Flügelpaare sind ein Rettungsanker für verzagte Herzen, die mit ihrem Leben nicht fertig werden. Ihnen

schenkt ihre Phantasie die Gnade, hoffen zu Können in einer Welt, in der es keine Hoffnung gibt. Alle Leute, die ich kenne, haben ihr Leben mit dem Tod beendet. Sie sind zu Dreck auf dem Friedhof geworden. Durch irgendeinen Zufall irgendwann geboren, ohne vorher gefragt worden zu sein, ob sie überhaupt leben wollen. Dann ist das Leben zur Sucht geworden. Sie können nicht mehr davon lassen, obwohl sie es sich nicht gewünscht haben. Irrsinnigerweise erfindet dann ihr Gehirn irgendeine Sehnsucht, an der sie festklammern und die sie weiter treibt. Sag` mir, was soll das, wenn das nicht ein ganz großer Hohn auf alles Lebende ist? Und diesen Unsinn gilt es bloßzustellen. Dann stirbt es sich auch leichter."

Diese Rede hatte den jungen Mann innerlich erregt. Irgend etwas sagte ihm, daß es nicht wahr war, was er hatte hören müssen und eine Ungeduld steigerte sich, bis er hervorbrach: „Ich weiß, daß es eine andere Welt gibt. Darüber können die größte Lüge

und der heftigste Betrug nicht hinweg täuschen. Ich selbst war unterwegs dorthin auf einem goldseidenen Flügelpaar. Ich stand darauf, wie wir auf den Balken dieser Decke stehen, die dieses Stockwerk trägt. Ich stand so sicher und wirklich, wie irgendeiner nur stehen kann. Es war pures Gold, das mich trug in rasender Geschwindigkeit. Die Sterne um mich waren klar, als ob ich sie greifen könnte. Gelebt habe ich ohne Brot. Der einzige Hunger, den ich kannte, war, diese Welt zu erreichen, in der es nur Freude und Freunde gibt. Ich habe sie nicht erreicht, weil... nun ja, weil... ich weiß nicht, weil... ich kann es nicht erklären... Diese Erde kann so wunderschön sein. Aber deswegen gibt es die andere Welt doch trotzdem, auch wenn ich vielleicht jetzt nicht mehr dorthin gelangen kann. Aber die Hoffnung kann erst mit der Sehnsucht sterben oder eines Tages erfüllt werden."

Er sprach mit solchem Feuer, daß ein Funke übersprang und der alte Mann gestand:" Deine Schilderung kann fesseln, kann begeistern, sogar Glauben wecken. Auch wenn ich persönlich keine Chance für dich sehe, beneide ich dich um deine Kraft zu hoffen." Und wie um einen letzten Vorstoß zu wagen, bekräftigte der junge Mann: „Die Liebe und die Hoffnung in den Herzen der Menschen beweisen die Existenz einer anderen Sphäre, auch wenn sie keiner gesehen hat. Ich aber kenne das Flügelpaar, das dorthin tragen kann. Ich weiß, daß mir noch Flügel wachsen werden!" So sei er denn ein unbelehrbarer Narr, schloß der Dichter." Und Narren gehören verspottet."

Es war über die letzten Wochen und Monate Herbst und Winter geworden. Nachdem ihre Ansichten so deutlich wie nie auseinander klafften, gab es kaum mehr Gespräche zwischen ihnen. Gleichzeitig schwand beim Älteren der Wille, den jungen Mann als Schützling zu betrachten. Er gab ihm eine Adresse, wo Leute seiner Denkart sich zusammengefunden hätten, um gemeinsam gegen Hoffnungsschwund zu kämpfen, indem sie sich ständig irgendwelche Gesinnungen vor heuchelten.

III

So zog der junge Mann wieder weiter, diesmal im Winter, frierend, aber nicht verzagt, neugierig auf die angeblichen Gesinnungsgenossen.

Der Weg führte ein Stück zurück in die Berge hinauf mit ihren verschneiten Bäumen und Felsen. An einem dieser Felsen machte er Halt und blickte zurück auf die Stadt und den Fluß in der schneeverzauberten, weiten Ebene. Diesmal war es lichter Tag, am dem sich das Weiß der Erde und das Blau des Himmels gegenseitig an Strahlenglanz zu übertreffen suchten. Er mußte die Lider zusammenkneifen, um von der Fülle des Lichtes nicht geblendet zu werden. Von weitem hatte die Stadt etwas Anheimelndes, nicht vergleichbar mit dem wirklichen Leben dort. Aus dieser Sicht schwand die Bedrohlichkeit der grauen Häuserschluchten, der abgeblätterten Fassaden und der hastigen Geschäftigkeit ihrer Bewohner. Ehe der junge Mann in seinem Lebensbuch weiter blätterte, überdachte er nochmals das abgeschlossene Kapitel.

Die Gespräche mit dem Schriftsteller und seinen zahlreichen Bekannten in Theatern und Gasthäusern hatten ihn oftmals ein Stück mitreißen können in ihrer Denkweise, die nicht ohne Anziehungskraft an ihm vorüber geglitten war. Es bereitete ein heimliches Vergnügen, ihren Gedichten, Schmähungen und Spottschriften zu folgen. So leicht ließ sich lachen über ihre skurrilen Figuren, die sicherlich einen berechtigten Ursprung in der Bevölkerung hatten. Seine Geschichte hörte sich zum Beispiel so bei ihnen an:

„Es kam in hohem Bogen ein Weltraummensch geflogen. Er hatte ungezogen sein Steuerrad verbogen. Jetzt fühlt sich ungelogen der Bruchpilot betrogen. Jedoch auf seine Weise macht er sich auf die Reise, sein Flügelpaar zu finden, in günstigeren Winden, der Erde zu entschwinden. Will sich zuvor noch binden, in Liebe, einer blinden, die schlicht weg übersieht, was um ihn rum geschieht. Er läßt sich jagen, treiben, von guten Menschen kleiden, doch kann er nirgends bleiben, lernt lesen und lernt schreiben und sich mit Narren reiben. Und sucht noch immer Sinn. Da geht er wieder hin und hofft auf Neubeginn. Drum lassen wir ihn hoffen, solang wir nicht betroffen."

Er konnte ihnen nicht einmal richtig böse sein für diese Beschreibung. Der Reim nahm seiner Geschichte die Traurigkeit und reizte zum Schmunzeln. Aber im Grunde genommen fehlte ihnen eine wichtige Dimension im Denken. Es gab keine klaren Bezugspunkte.

Sie ließen nicht durchblicken, wo sie standen, vielleicht, weil sie nirgendwo standen. Hierin lag ihre Verlogenheit, daß sie zu träge waren weiter zu suchen. Sicher läßt sich alles in Frage stellen, aber manchmal ist es besser, man nimmt einen Standpunkt an,

auch wenn er nicht vollkommen überzeugt, als ständig verloren im Raum zu schweben. Diese Gedanken hatten ihn länger verweilen lassen, als es ursprünglich seine Absicht gewesen war. Nun aber sprang er vom Felsen, auf dem er gesessen hatte und wandte seine Schritte entschlossen dem Berg zu. Der Schnee zwang ihn, sich an ausgetretene Wege zu halten, da über den direkten Weg die Gefahr abzurutschen oder abzustürzen zu groß war. Kurz hinter der Bergkette, noch durch das Vorgebirge geschützt, lagen die Behausungen jener Gemeinschaft, die der Schriftsteller in oberflächlicher Großzügigkeit als seine Gesinnungsgenossen bezeichnet hatte.

Am späten Nachmittag erreichte er das große Tor, das ihn mit gemeißelten Buchstaben begrüßte und Frieden wünschte. Er wurde freundlich empfangen, so, wie er es eigentlich noch niemals erlebt hatte. Es war nicht die halbherzige Begrüßung der Feldarbeiter, die allzu bereitwillig jeden als den ihren annahmen, ohne sich wirklich um ihn zu kümmern. Es war auch nicht der Empfang einer Gruppe, die freudig nach einem neuen Opfer griff. Die Menschen hier oben strahlten persönliches Interesse aus, das ihm als Menschen, wie

er es ganz war, galt. Daneben bemerkte er eine straffe Führung, die mit klaren Anweisungen alles zu regeln suchte. Es sprach zunächst einer nur, den sie alle als Autorität anerkannten, lud ihm zum Abendessen ein, bot ihm ein Bad an, sich zu reinigen und hätte ihm auch Kleidung zur Verfügung gestellt, wenn seine Ablehnung diesbezüglich nicht so deutlich gewesen wäre. Beim Abendessen saßen sie gemeinsam an langen Holztischen, etwa fünfundzwanzig Männer verschiedenen Alters. Bevor sie jedoch das Brot mit Quark und Kräutern zu sich nahmen, standen sie auf und ihr Führer sprach einige Worte, denen alle anderen mit geschlossenen Lidern lauschten. Er redete von Dank und Segnung, von Führung und Vergebung, alles Dinge, die dem jungen Mann Fragen aufgaben. Nach der Reise über den Berg bei frischer Winterluft schmeckte die einfache, kräftige Mahlzeit vorzüglich. Die Männer sprachen nicht viel, während sie aßen. Nach dem Essen wurde ihm ein Gastzimmer zugewiesen, in dem das Bett frisch bezogen

war und außer einem Schrank noch ein Tisch mit zwei Stühlen standen. Die frische Bergluft und die lange Wanderung hatten seine Glieder ermüdet, und trotz mancher Frage, die sein Herz bewegte, war er bald tief eingeschlafen. An nächsten Morgen weckte ihn das Türgeräusch seiner Kammer, hervorgerufen von einem der fünfundzwanzig Männer der Gemeinschaft, der die Aufgabe erhalten hatte, ihn an diesem neuen Tag zu begrüßen Er war bekleidet, wie die anderen alle auch, mit einer langen, braunen Kutte aus derbem Stoff, die bis zu den Knöcheln reichte. „Sei willkommen an diesem Tag. Wir stehen recht früh auf, um die ersten Stunden zu nutzen. Um diese Zeit geht die

Arbeit frei von der Hand. Du bist herzlich zum Frühstück eingeladen. Wenn du willst, bringe ich dir Kleidung wie unsere." Nachdem gestern nur einer mit ihm gesprochen hatte, war der junge Mann erstaunt über die Fülle von Worten, die jetzt auf ihn niederprasselte. Er hatte ohne Unterbrechung geschlafen und vermochte sich

an keinen Traum zu erinnern. "Weshalb sollte ich Kleider von euch tragen und überhaupt, warum sehr ihr alle gleich aus?" Seine erste Frage rutschte eine Spur zu ungeduldig heraus, mag sein, weil er noch benommen war von der Nachtruhe, jedenfalls war er erschrocken über seinen schroffen Ton. Ehe er aber noch einlenken konnte, erklärte der andere sanft: „Wir wollen nicht, daß sich einer durch seine Kleidung vor dem anderen auszeichnet. Unsere Anzüge sind einfach und dienen einem bestimmten Zweck: den Körper warm zu halten und in seiner Beweglichkeit nicht über die Maßen einzuschränken. Darüber hinaus stellen wir weiter keine Ansprüche an das äußere Gewand."

Als sie alle gemeinsam sich im Eßzimmer versammelt hatten, stand wieder einer auf, bevor mit der Mahlzeit begonnen werden durfte und sprach einige Dankesworte für die behütete Nachtruhe, den neuen Tag und das dargebotene Essen. Alle anderen hörten schweigend mit geschlossenen Augen zu. Auch später, während sie aßen, wurde nur wenig geredet. Jeder hatte die gleiche Menge Hafersuppe bekommen. Keiner von ihnen verlangte mehr. Sein Tischnachbar erklärte auf befragen: „Was unser Körper braucht, um seine Arbeit zu verrichten, soll er haben. Was er darüber hinaus verlangt, um eine willkürliche Lust zu befriedigen, verwehren wir ihm. Das würde ihn nur faul und träge machen. Er würde sinnlos mehr begehren, und das kann nicht unser Wille sein."

Nach dem Frühstück bat ihn der Vorsteher zu sich in die Kammer. Er hatte neben der gleichen Einrichtung, die sein Zimmer aufwies, noch einen Schreibtisch und ein Bücherregal im Raum.

„Wir wollen dich nicht drängen. Du darfst gerne unser Gast sein und dich bei uns Zuhause fühlen, solange du willst. Unser Leben hier ist jedoch bestimmt von einer straffen Ordnung. Deshalb ist es notwendig, daß ich gleich heute dir einige Ratschläge gebe, damit der Friede dieses Hauses auch bei dir einkehren kann. Unser Herz gehört dem Schöpfer dieser Welt. Ihm verdanken wir unser Leben, und ihm sei es auch geweiht. Aller Zank, Neid und Haß beruhen darauf, daß einer dem anderen seine Habe nicht gönnt, wenn dieser mehr hat als er. Gott sorgt in unendlicher Gnade und Güte für seine Geschöpfe. Sie aber wollen zumeist nichts von ihm wissen, weil ein grenzenloses Begehren ihr Herz beschlagnahmt hat. Wir haben uns ganz in seine Hand gegeben, weil in ihm allein der Friede ist, der sinnloser, zerstörerischer Lust Einhalt gebietet und uns Menschen Geborgenheit und Sicherheit schenkt."

Der junge Mann hatte mit wachem Interesse zugehört, zumal er den Namen „Gott" in ihren dem Essen vorangegangenen Ansprachen gehört hatte. „Gott, wer ist das, Gott. Wohnt er auch bei euch? Wie kann er die Welt geschaffen haben. Wer machte ihn mächtig dazu?"

„Willst du mich verspotten, oder hast du wirklich noch nichts von ihm gehört." Befangen von dieser Anschuldigung entgegnete der junge Mann zaghaft: „Ich möchte keinem Menschen weh tun und gar schon euch nicht, wo ihr mich mit aller Freundlichkeit

beherbergt habt, aber ´Gott`, diesen Namen habe ich noch nirgends gehört. Sicher war ich schon oft auf der Suche nach jemandem, der mehr weiß über diese Welt als Menschen, weil ich gerne gewußt hätte, ob diese Erde der Ort ist, von dem die Verheißung sprach." Bei dem Wort Verheißung huschte ein Glanz über das Gesicht des Vorstehers. „Von welcher Verheißung sprichst du? Gott gab viele Verheißungen. Alle, die seine Gebote beherzigen, die an ihn glauben, ohne ihn sehen zu können, dürfen seine Verheißungen

auf sich beziehen. Und nicht nur die Erde hat er geschaffen, vielmehr ist alles, was es gibt, aus seiner Hand."

„Aus seiner Hand...," wiederholte der junge Mann nachsinnend. „Sicher, dann verstehe ich schon, warum wir ihn nicht sehen können. Ein Auge ist ja viel zu klein, um solche Größe zu erfassen. Woher aber wißt ihr von ihm?" Seine Fragen waren jetzt von einem heftigen Verlangen um das Wissen über die Dinge getrieben. Eifer lag in seiner Stimme, der sein Gegenüber anfachte und bereitwillig erklären ließ: „Gott hat sich in Vielem den Menschen offenbart. Frage nur, wer imstande ist, einen Baum wachsen zu lassen oder

welche Kraft die Sterne in ihren vorgeschriebenen Bahnen hält. Sieh die sinnvolle Abwechslung der Jahreszeiten, Tag und Nacht, spüre die wärmende Sonne und das erfrischende Wasser, den kühlen

Wind und den Schnee, der das Erdreich im Winter behütet. Auch

durch Menschen hat er sich offenbart, hat sie angehalten, aufzuschreiben, was er der Welt sagen wollte. Jeder kann es heute nachlesen in der Bibel, ein Buch, das nur von ihm spricht und durch das zu uns Menschen Gott spricht."

Hier unterbrach ihn der junge Mann: „Gott hat die Jahreszeiten geschaffen? Dann ist es auch seine Schuld, wenn im Herbst die Blätter sterben? Wie soll ich das verstehen, daß dieser Gott, der mit Mühe und vielfacher Überlegung alle Dinge schuf, sie wieder sterben läßt, die doch so schön sind? Warum sterben Menschen durch andere Menschen? Warum können sie so gemein, so bösartig und ungerecht sein?"

Bei der Erinnerung an das tote Bauernmädel, an seine Freundin und an die aufgebrachte Dorfgemeinschaft kamen ihm Tränen.

„Du stellst gute Fragen. Ich merke, daß dich schon viele Erfahrungen geprägt haben. Gott ist auch ein Gott der Liebe und des Trostes, der Menschen ihre Fehler vergibt und sie wieder gutmachen kann." Hierin war der junge Mann aber nicht zufrieden. Im Gegenteil, jetzt erst recht überkam ihn die verzweifelte Frage: „Warum macht Gott Menschen, die böse sind, die einander hassen und weh tun, warum schafft er Blätter, die sterben müssen und läßt Glück allzu schnell wieder vergehen?"

„Du fragst mehr, als ich dir beantworten kann, aber frage doch nicht mich alleine. Lies das Buch, das Gott uns gegeben hat. Wir blättern jeden Tag darin, und manche Frage wird dadurch beantwortet. Vor allem aber erfahren wir, wie lieb Gott uns Menschen hat, wieviel wir ihm wert sind, welchen Preis er für uns gezahlt hat, und das hilft, wenn wieder mal Fragen auftauchen, auf die wir keine Antwort finden. Du kannst jederzeit zu Gott über deine Gedanken und Erlebnisse sprechen. Er alleine kann sie lesen, und er wird dich hören und verstehen, wenn dich kein Mensch mehr verstehen kann."

Dieses Gespräch bedurfte der Vertiefung, vor allem aber mußte er sich die einzelnen Gedanken noch einmal vor Augen führen und darüber nachsinnen. Dazu kam der Drang hinaus zueilen, um die klare, kalte Winterluft den Druck, der auf seiner Seele lastete,

hinfort wehen zu lassen.

Er stürmte hinauf in die einsame, schneebedeckte Bergwelt, der strahlenden Sonne entgegen, die ihm immer noch Symbol der Hoffnung war. Welch ein Gegensatz bot sich ihm in den letzten zwei Tagen. Er kam aus der lauten Welt der Stadt, die auch im Winter von Hast und Geschäftigkeit nur so überkochte, in die stille Zurückgezogenheit der Berge, die, wie es ihm heute schien, dem Himmel ein Stück näher lagen und fand hier ein völlig anderes Denken, das seiner Wesensart verwandt sein mußte. Im Spiegel des vorangegangenen Gespräches betrachtete er seinen Weg, den er auf dieser Erde bislang zurückgelegt hatte und versuchte den einzelnen Abschnitten Wert und Unwert beizumessen.

Das Leben bei dem Schriftsteller würde wohl unter die Spalte „Unwert" fallen, ebenso die Begegnung mit der Frau und dem Landvolk während seiner Wanderschaft. All das dünkte ihm oberflächlich und lieblos im Vergleich zu der Liebe dieses mächtigen Schöpfers, den der Vorsteher und seine Männer Gott nannten. Gott... alles, was er sah,

betrat, fühlte, hörte, gleich, mit welchen Sinnen auch immer aufnahm, ja er selbst und sein Denken, alles kam von Gott. Dieser Gedanke beeindruckte ihn tief. Im Herabsteigen vom Berggipfel auf seine neue Herberge zu kamen allerdings schon wieder die ersten

Zweifel. Wie kann ein und derselbe Gott liebevoll schaffen und zerstören, geben und nehmen in einem Atemzug? Das eine konnte er so gut verstehen und das andere bereitete ihm unaussprechliche Angst. Zurück im Hause der Gemeinschaft mußte er erfahren, daß

das Mittagessen bereits eingenommen war und aus Gründen der Selbstbeherrschung und Ordnung nicht nachgereicht werden könne.

Erst als er den Vorsteher danach fragte, wurde ihm ausnahmsweise auch nach der festgesetzten Zeit Brot, Milch und Butter gewährt. Gottes Ordnung sei im Großen wie im Kleinen ohne Toleranzen genau und anders nicht funktionsfähig. Darum sei auch der Mensch in allem ein Wesen der Ordnung. Er konnte das nicht einsehen, stand es doch wieder einmal im Gegensatz zu dem, was ihm sein Körper sagte, nämlich, daß er hungrig sei. Wenn Gott seinen Körper mit diesen Signalen geschaffen hatte, wie wollte er dem entgegnen?

Das Problem erweiterte sich, als sich einige Männer am Abend mit ihm in den Gemeinschaftsraum setzten und die ersten Seiten des Buches vorlasen, das sie Bibel nannten.

„Gott schuf nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen, er schuf auch Wesen, die, uns weit überlegen, schöner und mächtiger, seine engste Umgebung bilden. Unter den mächtigsten Wesen, die er schuf, war auch eines, das seine Rolle als Geschöpf nicht annehmen wollte. Sein Begehren war es, zu sein, wie der Schöpfer selbst. Mit dieser unangebrachten Vermessenheit verführte dieses Wesen einen großen Teil der anderen. Sie alle mußten aus Gottes Nähe weichen. Die Erde wurde ihr Machtbereich. Um seine Göttlichkeit, seine Allmacht zu beweisen vor allen treuen Gefährten des Himmels und der Erde, duldete Gott diesen Abfall und zerstörte sie nicht. Diese Wesen beeinflussen uns Menschen und Tiere, ja die ganze Schöpfung auf der Erde zum Bösen. Ihr unseliges Anliegen ist Zerstörung, Leid und Tod. Sie wollen den Beweis ihrer Göttlichkeit erbringen. Wir Menschen stehen als Leidtragende dazwischen. Doch wäre Gott nicht

allmächtig, hätte er nicht längst einen Plan in Angriff genommen, uns Menschen zu retten."

„Wie soll er uns retten, wenn diese anderen Wesen längst unseren Tod bewirkt haben?" schoß der junge Mann hervor. „Vergiß nicht," erinnerten sie ihn, „Gott ist allmächtig. Tote kann er lebendig machen, Zerstörtes wieder neu schaffen. Jedes Frühjahr erwacht die Welt zu neuem Leben. Sommer und Winter werden nicht aufhören, damit wir Menschen sehen, daß Gott neu machen kann, bis alles Böse zerstört ist und nichts Gutes mehr sterben muß."

Diese Gespräche dauerten bis in die Nacht hinein. Wären nicht die zwingende Ordnung und der frühe Tagesbeginn gewesen, sie hätten noch lange kein Ende gefunden. Die darauffolgenden Wochen lehrten sie ihn aus ihrem Buch von Leuten, die Gottes besondere Nähe erfahren hatten. Daneben lernte er, sich im Hause nützlich zu machen, bei ihren Arbeiten zu helfen, wie Stoffe weben und färben und was sie während der kalten Jahreszeit noch unternehmen konnten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In den Bergen kam der Frühling nicht so bald, wie in den tiefer gelegenen Tälern. Oft waren sie durch haushohe Schneeverwehungen von der Außenwelt abgeschlossen, so daß sie die Stoffe, die zum Lebensunterhalt erstellt worden waren, nicht veräußern konnten. Dann mußten die ohnehin knappen Mahlzeiten noch überlegter eingeteilt werden. Ein hungriger Bauch mehr konnte den Speisezettel schon beeinflussen. Dennoch hörte der junge Mann nie ein Wort der Klage von seinen Gastgebern. Dieser Schnee, der ihm anfangs so gefallen hatte, erzeugte, je länger er lag, ein Gefühl der Abneigung in ihm. Wie sehr warteten sie alle auf die ersten grünen Halme und Blumen!

Der strenge Winter, die straffe Hausordnung, die ernsten Forderungen, die ihr Glaube an sie stellte, ließen kaum jemals ausgelassene Heiterkeit in ihren abendlichen Gesprächen aufkommen. Meistens saß er mit zwei oder drei Männern zusammen, die alle etwas jünger waren und sprach mit ihnen, das heißt, eigentlich unterhielten sich nur zwei von ihnen. Der Dritte saß nur stumm dabei und hörte zu. Der junge Mann, wenn er sich im Nachhinein die Gespräche vor seinem geistigen Auge ablaufen ließ, wurde sich nur der beiden bewußt. Der andere, unauffällige Stille, schien überhaupt nicht anwesend.

Der Name Gottes, über den sie sprachen, und die Bedeutung von Namen überhaupt veranlaßten den Schweigsamen zu fragen, wer der Gast denn sei und wie er hieße. Der Umstand, daß er sonst kaum sprach, ließ die drei anderen seine Frage beinahe überhören, und als er sie deshalb nochmals stellte, schauten sie ihn an, als würde ihnen jetzt erst gewahr, daß er anwesend sei. Einer der beiden Wortführer antwortete: „Namen von Menschen haben mit ihrem Wesen, ihren Eigenarten zu tun. Dabei wird die Eigenschaft namensgebend sein, die für Außenstehende am besten erkennbar ist. So geben Eltern ihren Kindern Namen, die sie mit den Eigenarten von Personen zusammenbringen, die ihnen gefallen haben. Meine Eltern haben mich Thomas genannt, nicht etwa, weil sie mich mit dem ungläubigen Jünger Jesu in Zusammenhang gebracht hätten, sondern weil ein Onkel in der Familie war, gleichen Namens, der durch allerlei Handeltreiben ansehnlichen Wohlstand errungen hatte. War es ihr Wunsch, daß ich dem Onkel gleichkäme oder eher die vage Hoffnung, der möge sich durch die Namengebung geehrt fühlen und das zum Ausdruck bringen? Ich weiß es nicht. Aber indem wir Menschen und Dingen Namen geben, machen wir sie uns vertrauter, überschaubarer, ungefährlicher. Darum," und jetzt wandte er sich an den jungen Mann, „sollten wir dir einen Namen geben."

Der erschrak im ersten Moment, weil er fürchtete, dieser Name würde ihn verpflichten können, schränke ihn in den Augen anderer und seiner selbst ein. Er war bislang frei gewesen, hatte gehen können, wann er wollte. überall, wohin er kam, sahen ihn

die Menschen anders, erkannten andere Wesenszüge an ihm, je nachdem, welche ihnen wichtig erschienen. Wenn er nun einen Namen hätte, brauchten sie ihn nur danach zu fragen, und schon könnten sie ihn einordnen, wie er gelernt hatte, Pilze einzuordnen nach

giftig und ungiftig, eßbar und ungenießbar. Und damit wäre ein Teil seiner Freiheit verloren. Andererseits wäre es ihm schon lieb, einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus er sich selbst begreifen könnte. Nur, welche Wesensart an ihm war bestimmend? Er

kannte so viele Gefühle und Stimmungen, so vieles, was ihm Freude bereitete und anderes, was ihm zuwider war. Und manchmal kamen ihm ein und dieselben Dinge gut, rein und schön und ein anderes Mal häßlich, stumpf und schmutzig vor. Ein Beispiel war der Schnee, ein anderes das körperliche Empfinden, das er bei seiner Freundin gehabt hatte im Vergleich zu dem, welches ihn bei der Begegnung mit der Frau auf dem Land zutiefst erschrocken hatte.

Der auslösende Reiz war der gleiche gewesen, aber das Gefühl nachher ein völlig anderes. Wenn er seiner Arbeit, dem Stoffe weben, nachging, konnte es sein, daß sein Innerstes in dieser Beschäftigung eine Entsprechung fand, weil es ihm Freude bereitete zu sehen, wie ein Stück Stoff Faden um Faden wuchs, wie ein Muster der Arbeit Leben

verlieh. An manchen Tagen aber wollte nichts gelingen. Fehler schlichen sich ein, und oft mußte er von vorne beginnen. Dann haßte er diese Arbeit, wollte am liebsten ausbrechen, alles stehen und liegen lassen. Jeder andere Ort auf der Welt kam ihm freundlicher vor. Ein Name konnte gar nicht Ausdruck seines Wesens sein, das sich so verschieden offenbarte.

Der Vorschlag jedoch, ihn zu benennen, fand allseits Zustimmung, und im großen Kreis sollte darüber befunden werden. Man wollte, wie es in ihrer Runde üblich war, ihm einen biblischen Namen geben. Sie schlugen ihm vor, nachdem sie ihm die Geschichten aus der heiligen Schrift vorgelesen hatten, in denen die Namen vorkamen, die ihnen passend

schienen, er solle daraus selbst wählen. Josef, der in die Fremde verkauft worden war, von seinen Brüdern verraten, jedoch von Gott niemals verlassen, in jeder neuen Umgebung bereit, sich anzupassen und fähig, Wohlwollen und Einfluß zu gewinnen, das war ein Mann, den man bewundern und gern haben mußte, wenn er seinen Brüdern vergab und ihnen und seinem Vater eine neue Heimat schenkte. Aber der junge Mann fühlte, daß er anders war, viel leichter aufgab und verzweifelte, der Versuchung eher erlegen, was die Geschichte mit der Frau des Potifars betraf.

Moses, viele Jahre vor seiner Bestimmung davongelaufen, erst im Alter mit einer großartigen Aufgabe von Gott betraut, Mittler zwischen Gott und dem Volk Israel, nein, auch das war sein Name nicht. Samuel, vom Priester aufgezogen, Richter über Gottes Volk, der sein Amt schließlich zugunsten eines Königs abgibt. Samuel, welch würdevoller Name, voll Klang und Demut. David war einer von seinen Lieblingsfiguren, weil, er in der Jugend zum Helden geworden, nicht nur Größe, Stärke und Mut bewiesen hat, sondern auch, weil seiner Feder so wundervolle Psalmen entsprungen sind. „Der Herr

ist mein Hirte" und „er erquickt meine Seele." Dieser David hätte ihn aber vor allem in seinem Begehren, seinen Versuchungen verstanden, in dem Gefühl der Schuld, weil die Schönheit einen so starken Reiz ausübt. Wie hatte Gott diesen David lieb, ihm diese

Sünde zu vergeben. Er konnte die Tiefe der Reue, die diesen mächtigen König ergriffen hatte, mitfühlen. Und dann den Glauben, der Worte hervorbrachte, die Jahrtausende überdauert haben. Schon damals waren Menschen wie er großartig und stolz, demütig und niedergeschlagen und alles in einer Person. Der Name dieses Davids könnte auch seiner sein.

Salomo, dessen Weisheit ihm vielfach verborgen blieb, sein hohes Lied auf die Liebe; ganz klein mußte er werden, wenn er daran dachte, daß auch dieser Mann nicht aus eigener Kraft bestehen konnte. Ja, und Daniel, der treue Prophet Gottes, mit Dingen vertraut gemacht, die bis heute niemand so recht begreifen kann. Zu ihm fühlte er den stärksten Bezug, wenngleich er nicht sagen konnte warum. Nichts hatte dieser Mann an sich gehabt, das man mit ihm vergleichen konnte, und doch war ihm sein Name am

liebsten. Da hatten sie sich Gedanken gemacht, wie am sinnvollsten ein Name für ihn gefunden werden mochte, und nun erwies sich diese Gangart als untauglich, weil er sein Gefühl mit dem Verstand nicht begründen konnte. Daniel, immer wieder sprach er

diesen Namen aus, das langgezogene „a" und dann die leichtfüßige Endung „iel".

In einer kleinen Feierstunde, in der entgegen der Regel reichlich Essen geboten wurde, verlieh ihm der Vorsteher diesen Namen. Wenn er zunächst Angst vor einem Namen gehabt hatte, jetzt war er froh und stolz, mit diesem gerufen zu werden.

Noch immer bevorzugte er seine eigene Kleidung. Aber als der Frühling begann und damit die Arbeit im Freien, trug er wie alle die braune Kutte. Seine Kenntnisse über Heilpflanzen sollten der Gemeinschaft zu Nutzen kommen. Er hatte mit dem Vorsteher besprochen, einen Kräutergarten anzulegen. Sein Vorschlag diesbezüglich war auf breites Interesse gestoßen, denn niemand unter ihnen kannte sich zuverlässig mit der Behandlung von Krankheiten aus.

Ihm zur Seite wurde der scheue Stephan gestellt, den er bislang meistens übersehen hatte. So ist das manchmal mit Menschen, die in engster Umgebung leben. Man sieht sie, ohne sie wahrzunehmen, weil an ihnen nichts Prunkvolles, Brillantes, Außergewöhnliches ist. Sie sind einfach vorhanden, ohne etwas besonderes vorzustellen. Stephan war ein junger Mensch, den die Natur mit nichts anderem als Mittelmäßigkeit ausgestattet hatte: Unscheinbar in seinem Äußeren, öfter Zuhörer als Redner. Dieser Stephan zog, als es Frühling wurde, mit Daniel los, um alles Notwendige heranzuschaffen, was für die Einrichtung eines Kräutergartens unabdingbar ist. Er wurde ein treuer Begleiter, ein zuverlässiger zweiter Mann, der von sich aus keine Anregungen für Innovationen gab, sich aber unentbehrlich bei deren Durchführung zeigte. So sammelten sie in der erblühten Bergwelt Blumen, Gräser, was alles wuchs und brauchbar schien. Da Stephan schreiben konnte, diktierte ihm der junge Apotheker die Anwendungsbereiche nebst entsprechender Pflanzen und ihrer Zubereitung. Und sie übten sich beide im Zeichnen der Blätter, Blüten

und Gräser. Einige Pflanzen wurden zu Tee verarbeitet, andere gekocht, getrocknet und Salben beigemischt. Dafür waren schon etliche Anschaffungen notwendig.

Wie freuten sie sich, als zum Sommeranfang der Verkauf in den Dörfern der Umgebung beginnen konnte. Ein Handwagen, den sie je nach Neigung des Untergrundes beide zogen oder schoben, diente als Lastenträger. Die Gemeinschaft genoß Ansehen und eine

gewisse Achtung bei der Bevölkerung. Daß sie nun auch Heilmittel vertrieben, sprach sich bald herum und steigerte die allgemeine Nachfrage. Dazu verteilten sie kleine Broschüren über gesunde Lebensweise, über Erkenntnisse von Wetterzusammenhängen, über ihren Glauben und das neue Gebiet: Heilkräfte aus der Natur. Viele Leute nahmen es dankbar auf, was sie ihnen brachten und sagten, einige fragten nach mehr, andere aber auch wiesen sie schroff und unfreundlich ab. Wie doch die Menschen verschieden waren. Nie würde Daniel sagen können, daß er sie begreife oder gar zu beurteilen vermochte. Stephan war ihm jetzt vertraut. Mit ihm konnte er über alles reden, ahnte seine Reaktionen im voraus, fühlte sich von ihm verstanden, weil sein Empfinden von ähnlicher Beschaffenheit war. Eines konnte der Freund besonders gut. Wenn man seine Gedanken auf den gemeinsamen Wegen äußerte, war er ein aufmerksamer Zuhörer, der im rechten Moment seinen Beitrag zum Gespräch lieferte. Daniel hatte das Gefühl, daß er mehr spräche, mehr den anderen mit seinen Gedanken beschäftigte als umgekehrt. Er würde anderen nicht solange mit ganzer Aufmerksamkeit zuhören können, ohne seine innersten Interessen angesprochen zu wissen. In dem Maße, wie Stephan das Anliegen anderer zu seinem persönlichen Anliegen machte, ohne je seinerseits mit Sorgen zu belästigen, spürte der junge Mann, daß der Vertraute eine Stufe erreicht hatte, auf der man selbst nicht mehr Mittelpunkt sein mußte. Und er beneidete ihn beinahe über die Zuneigung, die er ihm entgegenbrachte. Sehr früh morgens mußten sie sich aufmachen, wenn sie auch weiter entfernt gelegene Ortschaften erreichen wollten.

An solchen Tagen bedurfte es einer besonderen Anstrengung, und sie kamen dann spät am Abend zurück. Eine spezielle Beimischung zum Badewasser half dem Körper leichter zu entspannen und ließ ihn besser ruhen, so daß der nächste Tag wieder mit ganzer Kraft

begonnen werden konnte.

An einem solchen Tag machten sie die unerfreuliche Bekanntschaft mit einem älteren Mann, dem sie ihr Entspannungsmittel empfehlen wollten. Er hatte am Gartenzaun gestanden und zugehört, wie sie mit seiner Nachbarin gesprochen hatten. Als dieses Gespräch zu Ende gewesen war, hatte er zu ihnen herüber gewunken und in angriffslustiger Weise nach dem Gegenstand ihrer Empfehlung gefragt. Daraus ergab sich die folgende Auseinandersetzung: „So, Entspannungsessenzen wollt ihr verkaufen? Wer sagt euch denn, daß ich mich entspannen will?" Stephan antwortete ruhig: „Sie haben uns nach unseren Verkaufsgegenständen gefragt. Ein jeder Mensch will Frieden haben. Dazu gehört..." Hier fiel ihm der Alte ins Wort: „Aha, Frieden wollt ihr verkaufen. Wer sagt euch denn, daß ich Frieden will? Ihr streicht herum, den Leuten vorzuschreiben, was sie zu wollen haben. Stellt euch vor, ich pfeif` auf euren Frieden." Er hatte so erregt gesprochen, daß ihm eine Atempause Not tat. Diesen Moment nutzte Stephan, um zu erklären: "Wir wollen keinen Menschen seiner Freiheit berauben, nur wissen viele oft nicht, an wen sie ihre Fragen und Sorgen richten sollen. Ich glaube, daß wir einigen Menschen eine gute Antwort geben können." Der Alte würgte kurz, bevor er weiter zeterte: „Eure Ratschläge dürft ihr für euch behalten. Meine Freiheit kann mir sowieso niemand rauben. Ihr wohnt da droben in abgeschirmten Käfigen, um eure Seele nicht zu beflecken, spielt Heilige und Vormund anderer Leute. Daß euch nur das Himmelreich

gewiß sei. Faß` mir ja keiner ein Weib an. Ihr könntet eure Seligkeit verlieren. Ich will euch sagen, was ihr seid: erbärmliche Schwächlinge seid ihr, Nichtsnutze, Schmarotzer, die von der Plage anderer leben. Mir erzählt keiner, ich solle mich enthalten. Ich habe mein Leben lang nach dem Motto gelebt: wo es am besten schmeckt, da iß dich satt." Stephan erwiderte schlagfertig: „Und je mehr sie gegessen haben, desto hungriger sind sie geworden." „Pah, du Grünschnabel, willst du mich Weisheit lehren? Ihr verreckt doch in euren Löchern wie unsereiner auch. Macht euch davon, ihr Tagediebe, sonst helfe ich euch." Daniel wurde sichtlich immer aufgeregter, während er den Streit verfolgte, in dem sein Freund völlige Ruhe behielt. Er wollte losplatzen und von seinem goldenen Flügelpaar erzählen, das der beste Beweis war für das Vorhandensein von Dingen, die

den menschlichen Horizont übersteigen, wurde aber von Stephan zurückgewiesen, und so kehrten sich beide um und ließen den keifenden Mann hinter seinem Zaun zurück.

Auf dem steilen Rückweg in die Berge mußte einer von ihnen den Wagen von hinten schieben, indessen der andere an der Deichsel zog. Viel Luft blieb ihnen nicht, um über den Vorfall zu sprechen. Daniel fand sich jedoch schwer ab mit dem Urteil des alten Mannes. „Wie kann er, ohne uns zu kennen, so von uns reden," fragte er. „Er hat doch überhaupt keine Ahnung von dem, was wir ihm hätten bringen können." Stephan widersprach:" Und ob er eine Ahnung hat. Viel mehr, als du glaubst. Eine innere Stimme sagt ihm. daß etwas dran ist, an dem, was wir verkündigen. Das versetzt ihn so in Panik.

Er ahnt, daß er sein Leben falsch angefangen und geführt hat. Um es jetzt aber noch zu ändern, glaubt er sich einer immensen Anstrengung gegenüber. Er denkt, wir wollten, daß er sein Heil erkämpfe. Daß er dadurch nichts erreichen würde, ahnt er ebenfalls. Nun Überfällt ihn diese wahnsinnige Angst. Darum versucht er sich, sich allein einzureden, daß sein bisheriger Weg der richtige war. Aber mit dem Einreden ist das nicht so leicht. Vor allem, wenn das Alter mit seinen Beschwerden das Gegenteil lehrt. Verzweiflung ist es, die ihn überfallen hat. Pure Verzweiflung. Mir tut er leid, der arme Mann."

Diese Rede war ganz bezeichnend für Stephan. Mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen hatte er die Hintergründe durchschaut und gleichzeitig für den Betroffenen Anteilnahme bekundet. Daniel hatte sich persönlich angegriffen gefühlt, hatte diese Beschimpfungen als Ungerechtigkeit empfunden, wieder seine Person in den Vordergrund seiner Überlegungen gestellt. Nicht so Stephan. Von diesem stillen, unscheinbaren Menschen würde er eine Menge lernen müssen. Stephan war ein richtiger Freund, wie er in gleicher Art noch keinen erlebt hatte. Mit dem Mädchen, das er liebte, hatte er wohl ähnliche Gespräche gehabt, auch mit dem Gefühl, ganz verstanden zu sein, aber durch die körperliche Anziehungskraft war diese Freundschaft von ganz anderem Charakter gewesen. Stephan hatte er nicht gesucht, durch ihn war nicht so ein Gefühl des Begehrens erzeugt worden, dafür hatte er auch niemals Angst haben müssen, zurückgestoßen zu werden. Seine Zuneigung war erst durch den täglichen Umgang mit ihm entstanden. Jetzt war er die eigentliche Vertrauensperson für ihn. Ja, Daniel ertappte sich sogar dabei, daß er manchmal seine Handlungsweise so korrigierte, wie er annahm, daß es der andere gutheißen müßte. Früher hatte er sein Verhalten stets unter dem vermeintlichen Urteil seiner Freundin betrachtet, immer mit der Frage vor Augen: „Was würde sie wohl sagen, wenn sie mich jetzt sehen könnte?" In erdachten Gesprächen mit ihr hatte er sich zu rechtfertigen versucht. Jetzt war es das Bild seines Freundes, vor dem er all seine Gedanken prüfte.

Der Sommer wurde für alle Mitglieder der Gemeinschaft zu einer handlungsgeladenen Zeit. Jeder von ihnen ging seinen bestimmten Aufgaben nach. Tage der Entspannung gab es nur wenige, zumindest kam es Daniel so vor. Diese Tage kehrten in bestimmtem

Rhythmus wieder, und er freute sich immer darauf. Die Arbeit lag

dann brach. Der Kontakt zueinander und zu Gott sollte im Vordergrund stehen. Es waren besondere Tage, an denen der Schöpfer die Natur noch schöner zu gestalten schien oder zumindest ihre Augen dafür empfänglicher machte. Danach arbeitete es sich mit frischer

Kraft. Allerdings steigerte sich zu dieser Zeit der Muße die Sehnsucht nach der Freundin. Ihre lachenden Augen zu sehen, ihren anschmiegsamen, geschmeidigen Körper in den Armen zu fühlen, dieses Verlangen wurde mitunter so mächtig, daß Daniel sich diese

Bilder nicht länger vorstellen mochte, aus Furcht, daran zu zerbrechen. Der Verstand konnte dieses Phänomen nicht klären. Er begann, darüber zu diesem Gott zu sprechen, da der ja allmächtig, allwissend und von grenzenloser Liebe war. Nun redete Gott in seinem Buch meistens von einer Liebe, die das körperliche Verlangen zu zügeln wußte und charakterliche Tugenden in den Vordergrund stellte. War am Ende das Begehren in sinnlicher Weise auf der gleichen Ebene anzusiedeln, wie die Gier nach Macht, Reichtum und Ehre? Die wenigen Gespräche, die er mit den anderen darüber hatte führen können, deuteten darauf hin. Sie duldeten deshalb auch keine Frauen in ihrer häuslichen Umgebung. Die Gefahr, die für den Menschen im Begehren liege, werde in ihrer Gegenwart zu mächtig, um nicht als Hemmschwelle zwischen Mensch und Gott zu wirken. Vorsichtig, mit aller ihm angebracht erscheinenden Zurückhaltung, bat er den großartigen Schöpfer, ihm eine Antwort zu geben. Er las daraufhin in der Bibel, zu sehen, welche Vorbilder dort aufgezeigt wären. Aber eine eindeutige Antwort wurde ihm daraus nicht zuteil. Einige der Personen dort schienen in höchster Lust zu schwelgen, gleich von mehreren Frauen umgeben, ohne Gottes Tadel zu erwirken, andere predigten bedingungslose Enthaltsamkeit. Daniel schloß daraus, daß es Gott sich vorbehalte, von

einigen grundlegenden Richtlinien abgesehen, im Leben des Einzelnen so einzugreifen und die Frage nach der körperlichen, zwischenmenschlichen Beziehung so zu lösen, wie es ihm fruchtbar erschien. Eigentlich hieß das ja, sich ganz Gottes Willen zu unterstellen und in Geduld abzuwarten, wie seine Führung das Problem löse. Geduld aber und Vertrauen zu haben, fiel Daniel mitunter unsagbar schwer. Und dann tat er Dinge, die ihn nachher reuten und Schuldgefühle erweckten. In dieser schuldgeladenen Stimmung schien es unmöglich, zu Gott zu sprechen. Aber immer wollte Gott wieder vergeben, selbst dann noch, wenn Daniel selber zugab, so beschmutzt zu sein, daß ihm nicht verziehen werden könne, zumal er ahnte, stets von Neuem schuldig zu werden. Schon auf dem goldenen Flügelpaar hatte er die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit gekannt. Damals war es ihm möglich gewesen einzugreifen. Inzwischen gab es kein Steuer mehr. Nur, das Verlangen war heute mitunter noch fordernder. Hätte er Gott

zwingen können, ihm seine Freundin zurückzugeben, vielleicht hätte er es getan. So aber bestimmte Gott, der wohl alles für ihn tat, aber eben zu dem Zeitpunkt, der gut und passend war. Eigentlich konnte Daniel froh sein, kein Flügelpaar mit Steuerung mehr zu besitzen. Zu trügerisch zeigten sich seine Sinne, um Führung über sein Leben zu übernehmen. Als er auf dieser Erde gelandet war, hatte er menschliche Reaktionen nicht begreifen können, weil überall nur Widerspruch lag. Jetzt aber stand er als Mensch den gleichen Konflikten gegenüber und handelte oftmals ebenso unsinnig, wie seine Brüder. In dem Moment, da er Fehler beging, glaubte er noch, sie rechtfertigen zu können.

Dann aber obsiegte jedesmal ein Schuldgefühl. Scham, Demut und Reue überfielen ihn. Eines nachts hatte er einen merkwürdigen Traum, so intensiv, so echt und einprägsam, wie er noch nie zuvor geträumt hatte. Er schwebte über der Welt dahin ohne Flügel, schwerelos, aber nicht vom eigenen Willen getrieben. Was er unter sich sehen konnte, erzeugte Schrecken in höchster Potenz. Berge wankten, explodierten, Lavastrom wälzten sich glühend heiß die Hänge hinab durch die Straßen der Dörfer. Menschen schrien in panischem Entsetzen, versuchten der tödlichen Masse zu entkommen. Bäume und

Häuser gingen in Flammen auf, herabfallende Balken erschlugen die Flüchtenden, oder sie versanken in dem brodelnden Feuerbrei. Die Erdkruste riß auf, verschlang eine alte Frau, die ein ärmliches Bündel ihrer Habe retten wollte. Sie stürzten in die Spalte, ehe

sie ihren eiligen Lauf hätte bremsen können. Daniel blickte ihr hinterher, sah und hörte noch, wie sie in mörderischer Tiefe dumpf aufschlug.

Felsbrocken wurden durch die Luft geschleudert, zermalmten alles Lebendige, wo sie auftrafen. Endlich spülte eine gigantische Flutwelle alles hinfort. Wer jetzt noch am Leben war, ertrank in den haushohen Wassermassen. Ein ohrenbetäubender Lärm begleitete das grausige Geschehen. Daniel konnte sich nicht die Ohren zuhalten und seine Augen nicht verschliefen. Nachdem es an diesem Ort kein Leben mehr gab, wurde er weitergetrieben zu einem anderen. Dort wurde er Zeuge, wie zwei riesige Menschenmassen gegeneinander losstürmten, mit allen erdenklichen Waffen aufeinander einschlugen, sah Menschen mit gespaltenem Schädel während ihres letzten Atemzuges ihr Gegenüber vernichten. Blutströme flossen aus den Wunden abgerissener Gliedmaßen, quollen aus Mündern und Leibern. Geschrei und Gezeter, erbarmungsloses Abschlachten, ein Gewirr und Gewimmel steigerten sich zu einer alles zerstörenden Welle von Haß. Daniel war nicht fähig, sich abzuwenden. Kein Laut entfloh seiner Kehle.

Das Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung, der grenzenlosen Empörung fand keinen Weg aus ihm heraus. Bald flog er über ein Schlachtfeld von gegenseitig hingemordeten Menschenkörpern, auf dem sich kein Arm, kein Bein, kein Kopf mehr regte, nur ein

eiskalter Wind hinweg fegte und das strömende Blut erstarren ließ.

Jetzt war er fähig, seinen Flug zu steuern, aber wohin er auch lenkte, überall wankten die Berge, kochten die Meere, begruben Feuermassen alles Lebendige unter sich. Eine mächtige Feuersäule schleuderte ihn empor bis in den Weltenraum. Drückende Hitze ergriff nun auch ihn. Als er unter sich den glühenden Planeten sah, stand eine Frage mit einem Schlag quälend und drängend im Raum: Wohin sollte er sich wenden, jetzt, da er seinen Flug steuern konnte? Die Erde unter sich duldete kein Leben mehr, die

Sterne über ihm hatten nie welches geborgen. Wo war die Welt des ewigen Lichtes und Lebens, der endlosen Freiheit und des inneren Friedens? Niemals würde er sie in dem grenzenlosen Weltall alleine finden können. Als er erwachte, schlug in seinem schweißgebadeten Körper das Herz bis zum Hals. Er richtete sich in seinem Bett auf und spürte, daß ein Schmerz in seiner Magengegend ihn zum Erbrechen reizte. Noch ehe

er weiterdenken konnte, hatte sein Hals sich Luft verschafft.

Offenbar war sein Angsttraum nicht unbeobachtet vorüber gegangen. Jemand war im Raum, der ihn stützte und half, das Bett zu säubern. Gegen Morgen hatte er sich nur wenig erholt. Sein Schädel summte vor Schmerzen, er atmete schwerfällig, und der Körper erhöhte, um einer Infektion zu wehren, seine Temperatur. Jeglicher Versuch, Nahrung aufzunehmen, mündete in erneutem Erbrechen. Alles in ihm wurde auf Abwehr eingestellt. Sein Herz schlug schneller, um die erhöhte Temperatur erzeugen zu können, Verdauung setzte völlig aus, da alle Kräfte für die Bekämpfung eines inneren Feindes benötigt wurden. Selbst das Gehirn schien nur noch die nötigsten Funktionen auszuführen. Einen klaren Gedanken vermochte Daniel nicht mehr zu fassen. Willkürlich suchte es etwas vorzugaukeln. In diesem Stadium gelang es ihm nicht mehr, sich zusammenzureißen. Die kleinste Gemütsregung rührte ihn zu Tränen. Sentimentale Vorstellungen ergriffen Besitz von seinem Denken.

Die Angst, er könne sterben, ehe er seiner Freundin Lebewohl gesagt habe, befiel ihn. Wie ein ungezogenes Kind weinte er, bäumte sich auf gegen jeden Schmerz. Er mochte sich drehen und wenden, in jeder Stellung peinigte ihn etwas. Der Vorsteher der Gemeinschaft besuchte ihn und erkundigte sich nach einem Wunsch. Mühsam rang Daniel nach Worten: "Schnell, schickt jemanden... schickt jemanden in das Dorf, aus

dem ich komme. Dort... dort findet er den Doktor... den Doktor; ich kenne ihn. Er hat vielmehr Kräuter, als wir. Er weiß, was mir helfen kann. Beeilt euch und sagt ihm..." Weiter konnte er nicht sprechen. Er dachte noch an sein Mädchen, und dann verlor er die

Besinnung. Die Männer beschlossen, sich an seinem Bett zu versammeln, um Gott für seine Genesung zu bitten. Gott, der Blumen und Gräser, Schmetterlinge und Würmer bewahrt und behütet, könne wohl als größter aller Ärzte auch Daniel retten.

Stephan erbot sich sogleich, binnen vier Tagen die erforderliche Medizin zu beschaffen. Der Vorsteher aber wehrte ihm: „Kann ein Doktor besser helfen, als Gott? Versuche Gott nicht, indem du seine Macht bezweifelst. Wenn er will, daß Daniel lebt, wird er ihm helfen. Wenn er aber nicht will, darfst du ihm nicht vorgreifen." Stephan entgegnete in einem Ton, der allen anderen eine für ihn untypische Entschlossenheit zeigte:" Ich werde alle Möglichkeiten nutzen, um Daniel wieder gesund vor mir zu sehen. Wer sagt denn, daß Gott nicht auch durch uns seine Gnade und Stärke offenbart? Wenn er Daniel sterben lassen will, dann kann er das auch gegen mein Bemühen. Ich werde jedenfalls alles tun, was mir in irgendeiner Weise geeignet scheint, meinem Bruder zu helfen."

Ein unsinniger und heftiger Streit entwickelte sich, in dem die einen davor warnten, Gott zu mißtrauen und der andere sich genötigt sah, für seinen Freund zu handeln. Stephan zog ohne Wünsche der Gemeindeleitung los, in aller Eile mit dem Notdürftigsten versehen, zwischen Bangen und Hoffen, aber unaufhaltsam.

IV

Die Tochter des Arztes hatte dem jungen Mann nicht nachblicken können in jener sternenlosen Regennacht. Sie wollte zu ihren Eltern ins Dorf zurücklaufen. Aber die Vorstellung, daß eine lichterfüllte Stube ihrer wartete, hielt sie zurück, denn Licht, Wärme und Trockenheit paßten so gar nicht zu der Stimmung in ihrem Herzen. So setzte sie sich also auf irgendeinen Baumstumpf, stützte die Ellenbogen auf die Knie und hielt den schweren Kopf mit den Händen. Es regnete jetzt stärker, und als sie das bemerkte, fing sie erneut an zu weinen. Sie weinte stumm, ohne einen Laut von sich zu geben. Was hatte er Böses getan, daß er gehen mußte, flüchten, wie ein gejagtes Wild? Sie selbst hatte

die aufgebrachten Leute gesehen, in ihrer Dummheit von dem Bauern aufgehetzt, ohne einen Funken von Verstand. Wie könnte sie den Menschen im Dorf morgen und übermorgen, in den folgenden Tagen und Monaten begegnen, ohne zornig auf sie zu werden? Der Regen durchweichte ihre Kleider. In Strähnen hing ihr das nasse Haar ins Gesicht. Sie wollte ihren Freund wiederhaben, alle Tage bei sich haben. Wann könnte er wohl zurückkehren?

Sie beschloß in ihrem Innersten, daß sie auf ihn warten wolle. Niemals würde sie einen Menschen so liebhaben wie ihn. Was waren das noch bis gestern für Tage gewesen. So fröhlich und unbeschwert waren sie ihren Neigungen nachgegangen. Jäh und unvorbereitet hatte nun all das ein vorzeitiges Ende genommen. Wieder brach sie

in Tränen aus bei dem Gedanken, was ihr mit seiner Flucht verloren gegangen war. Er mußte zurückkommen, er mußte. Wenn nicht, würde sie ihn suchen gehen. Beim Onkel in der Stadt. Das lag nicht aus der Welt. Für ein Mädchen natürlich unmöglich alleine

dorthin zu gelangen. Der goldene Seidenfaden, was war das schon für ein Trost? Nicht einmal ein Fetzen Stoff, nur eine Erinnerung an den, den sie ohnehin nie vergessen würde. Sie fror. Ihr nasser Körper zitterte. War doch egal. Leben ohne ihn. War doch alles egal. Endlich begab sie sich auf den Heimweg. Die Mutter schalt sie ob ihres langen Fortbleibens. Der Vater besänftigte: „Laß sie doch. Was würdest du tun, wenn ich

fort müßte?" Sie antwortete scherzend: „Ich würde dem Bäcker Bescheid geben, daß er zwei Brötchen weniger liefern soll." Die Eltern lachten beide. Das Mädchen schwieg. Nachdem sie sich von ihren nassen Kleidern befreit hatte und die Haare trocken gerubbelt waren, ging sie auf ihre Kammer, legte sich zu Bett und schlief ein. Die Träume versuchten sie zu trösten, indem sie ihr eine heile Welt vorgaukelten. Wieder lag sie in seinen Armen, wieder spürte sie seine Hand zärtlich streicheln. Doch irgend etwas in ihrem Unterbewußtsein entlarvte diese Träume jedesmal als Lüge. Dann erwachte sie und fühlte diesen Schmerz noch überwältigender, noch erdrückender als zuvor. Eines ums andere Mal brach sie in Tränen aus, bis die Erschöpfung sie traumlos schlafen ließ. Der nächste Tag kam und verging, ohne daß er eine Veränderung brachte. Sie blieb im Hause. Erst auf Drängen der Mutter stürzte sie sich in Arbeit, die half, für Stunden den Schmerz zu vergessen. Von den Leuten im Dorf mochte sie keinen sehen.

Nach einigen Tagen lugte über den regennassen Wäldern die Sonne wieder hervor. Von ihr angelockt kam das Mädchen wieder heraus, um einen Spaziergang zu unternehmen. Ihr erster Weg führte sie zu der Stelle im Walde, an der hochgewachsenes Farnkraut

ihnen so oft Schutz vor unliebsamen Beobachtern gewährt hatte. Da war sie noch, die niedergedrückte Fläche, ganz von hohem Farn umgeben. Was sollte das jetzt alles? Wozu war es nutze, wenn das Wichtigste fehlte? Sie rannte hinab zum See, lief über den Steg

und blickte über das windbewegte Wasser. Dort hinten, von hier aus konnte man den Platz nicht einsehen, dort hinten hatte sie ihm Schwimmen beigebracht, das erste Mal seine Zärtlichkeit verspürt. Vorbei, bedeutungslos geworden. Früher hatte sie jedesmal, wenn sie am Steg vorbeikam, an ihn denken müssen und sich gefreut. Ihr waren diese Plätze lieb gewesen. Jetzt riefen sie eine Erinnerung wach, die nur noch weh tat. Also würde sie diese Orte von nun an meiden. Keine Erinnerungen, keine Schmerzen. Die folgenden Tage verbrachte sie voller Ernst und Schweigsamkeit.

Doch wie sich Freude und Liebe nicht bewahren lassen, so lassen sich auch Kummer und Leid nicht festhalten. Zunächst war es die Arbeit, die ihr half, seltener traurig zu werden. Dann entdeckte sie so etwas wie Gewöhnung an ihr Schicksal. Nur die Träume kämpften noch einen aussichtslosen Kampf. Sie gaben es nicht auf, ihr Bilder des Glücks hervorzuholen. Was sie jedoch so mühsam erbauten, zerplatzte bei Erwachen wie eine Seifenblase. Zurück blieb dann immer nur die Feststellung: „Ich habe ihn noch nicht vergessen." Die Mutter neigte dazu, ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen nicht zu untermauern, wohl weil sie die Nachbarn fürchtete. Ihr Vater spürte in zunehmenden Maße, wie seine Tochter ihm immer weniger von sich anvertraute, wie sie verschlossener und fremder wurde. Sie hingegen versuchte sich frei zu geben, schmückte sich, trug neue Kleider, je öfter, je lieber. Den Humor ihres Vater probierte sie nachzuahmen. Es gelang ihr oftmals nur ein albernes Gehabe, voll unreifer Lächerlichkeit.

Irgend jemandem wollte sie sich anvertrauen, doch im ganzen Dorf fand sie niemanden, vor dem sie sich nicht geschämt hätte. Gedanken um Freundschaft und Liebe, um Zärtlichkeit und Sehnsucht durfte man nicht überall breittreten lassen. Sie umgab ein unergründliches Geheimnis, ein Zauber, den allzu leichtfertiges Plaudern zerstört hätte. Das Mädchen begann, Tag für Tag einige dieser Ideen, Vorstellungen und Träume aufzuschreiben, nicht, damit es jemand lesen könnte, allein, um sie loszuwerden, um ihrer Seele Luft zu verschaffen. Und tatsächlich, ein wenig innerer Druck verschwand, während sie schrieb. Nur eines mußte sie vermeiden: Sätze, die sie in abendlicher Stimmung verfaßt hatte, am Tage zu lesen. Dann nämlich muteten sie ihr peinlich an. Die Nüchternheit des Tagesgeschehens vertrug sich nicht mit traumähnlichen Gefühlsäußerungen. Bald reichte ihr die Tätigkeit im Hause und Garten nicht mehr aus, um Bestätigung vor sich selbst zu finden. Sie sah sich im Dorfe um, welche Aufgabe dort zu erfüllen wäre. Den erwachsenen Leuten wollte sie nicht helfen. Sie hatten sich zu schäbig benommen. Das kleine Mädchen, das der Fremde einst aus dem zugefrorenen See gezogen hatte, brachte sie auf die Idee, die Kinder zu betreuen, deren Eltern tagsüber so mit ihrer Arbeit beschäftigt waren, daß sie sich nicht um den Nachwuchs kümmern konnten.

Sie versammelte die Kinder um sich, nachdem sie mit den Eltern gesprochen hatte, und interessierte sie für allerlei Spiele im Hof, im Walde oder am See. Einige der Erwachsenen waren recht froh, ihre Jüngsten unter Beaufsichtigung zu wissen. Acht bis zehn Jungen im Alter von fünf bis zehn Jahren bildeten den festen Kern dieser Truppe. Sie gaben sich geheimnisvolle Namen, versteckten und suchten Schätze, bauten Hütten und Baumhäuser im Wald und lernten von ihr Bezeichnung und Aussehen fast aller

ortsansässigen Pflanzen und Blumen. Und ihr bereitete es viel Freude zu erleben, wie die Kinder mehr und mehr Vertrauen bekamen, sich ihr öffneten, wenn ein Kummer sie plagte oder eine Neuigkeit dringend aus ihnen heraus mußte. Sie kamen auch angelaufen, wenn sie einfach nur mal eben gestreichelt werden wollten. Im Grunde ließ sich mit ihnen vernünftiger reden, als mit den anderen Dorfbewohnern. Sie waren noch nicht so stark in Vorurteilen gefangen, stellten jede Frage ungehemmt. Ein kleiner Junge, der sie sichtlich sehr verehrte, fragte sie, als sie besonders schöne Kieselsteine am See suchten: „Bist du eigentlich schon groß?" Sie erwiderte: „Du, das weiß ich gar nicht. Manchmal denke ich, ich werde gar nicht erwachsen. Man muß, glaub` ich, sehr ernst sein als Großer. Warum fragst du?" „Och, nichts Besonderes." Er machte eine künstliche Pause, die deutlich verriet, daß er unbedingt noch etwas sagen wollte, das intensivster Beachtung bedurfte, und ergänzte dann: „Es ist, weil du noch keinen Mann hast."

Daher also wehte der Wind. Sie stellte sich ahnungslos: „Keinen Mann? Muß man denn einen Mann haben, um erwachsen zu sein?" Natürlich," erklärte der Kleine." Eine Frau muß einen Mann haben, der sie beschützt, dem sie Essen kocht und wegen dem Kinderkriegen. Dazu braucht ihr doch einen Mann, oder." Sie spürte eine leichte Verlegenheit und gleichzeitige Erregung aufkommen und beschloß, so ungehemmt wie möglich zu antworten: „Ja, wenn man Kinder kriegen will, braucht eine Frau einen Mann. Die Kinder wollen doch einen Vater haben, mit dem sie spielen können." „ Mit dir kann man aber auch toll spielen." Sie freute sich über das Kompliment. Noch war aber der kleine Junge nicht dort angelangt, wo er hinwollte.

Zunächst suchte er weiter, entfernte sich etwas von ihr, hob einen flachen, grünbläulichen, durchscheinenden Stein auf und zeigt ihn dem Mädchen. „Der sieht aber schön aus," lobte sie seinen Fund. Er nahm ihn zurück, kniff ein Auge zu und hielt den Stein vor das andere gegen die Sonne. Dies schien ihm der günstigste Moment für

seine heikle Frage. So beiläufig wie möglich erkundigte er sich: „Hast du schon einen Freund." Sie zögerte mit einer Antwort, überlegte, was der Junge wohl begreifen könnte. Dann nahm sie allen Mut zusammen und gestand ihm so aufrichtig, wie sie es eben

vermochte: Weißt du, ich habe jemanden mal sehr lieb gehabt. Doch der mußte das Dorf verlassen, weil ihn die Leute für eine Tat bestrafen wollten, die er nicht begangen hatte. Und jetzt weiß ich nicht, ob er jemals zurückkommt." Der Kleine verstand den Ernst ihrer Aussage und wurde nachdenklich. Seine Lösung für das Problem deckte sich mit dem

Anliegen, das er auf dem Herzen gehabt hatte: „Du kannst ja warten, ob er kommt bis ich groß bin. Und wenn er bis dann nicht zurück ist, heiratest du mich." Sie nannte das eine großartige Idee und versprach, daß sie sich daran halten werde. „Aber bis du groß bist, bin ich natürlich nicht mehr jung. Dann habe ich Falten und Flecken im Gesicht, vielleicht graue Haare, eine große Nase und eine zittrige Stimme. Glaubst du, daß du mich dann noch magst?" Er gab sich überzeugt, wenngleich insgeheim ihm doch Bedenken kamen. Schließlich bräuchte sie im Alter erst recht eine schützende Hand.

Solche Gespräche ließen sich mit Kindern führen. Freilich gab es auch unter ihnen solche, die über den eigenen Tellerrand nicht hinaus blicken wollten. Sie kannten nur ihr Vergnügen und konnten sehr böse werden, wenn sie sich hierin behindert glaubten.

Im Winter stellte die Dorfgemeinschaft einen Schuppen zur Verfügung, in dem sich das Mädchen mit den Kindern versammeln konnte. Dort wurde gebastelt, gelesen, im Stroh gerauft, heimlich ein Feuer entzündet, aber auch ernsthaft und fleißig schreiben und rechnen gelernt.

Die Zeit verging, wie sie es sich hat zur Gewohnheit werden lassen. So erreichte das Haus des Doktors eines Tages, es war Spätsommer, ein Ordensbruder, der den Eindruck vermittelte, als sei er in Eile. Es war Stephan, der Medizin für seinen schwerkranken Freund benötigte.

Er wurde hinein gebeten, mußte so ausführlich, wie es in der knappen Zeit möglich war, erzählen und trat, mit einigen Arzneimitteln und Genesungswünschen versehen,

die Rückreise an. Die Tochter des Arztes wollte mit ihm gehen, doch der Vater verbot es ihr.

„Du kennst nicht das Leben von Klosterinsassen. Sie haben sich dieser Welt losgesagt und führen ein bizarres, karges und engstirniges Leben. Wenn er sich in ihre Kreise eingewöhnt hat, hast du kaum eine Möglichkeit, ihn zurückzugewinnen.

Ich will dir nur weitere Enttäuschungen ersparen."

Die Nachricht, die Stephan von ihrem Freund gebracht hatte, löste trotz seiner bedrohlichen Krankheit Freude bei ihr aus. Ein Lebenszeichen von ihm, eine vage Hoffnung auf ein Wiedersehen und dann das Verbot und der Einwand des Vaters,- wenn sie geglaubt hatte, daß der Schmerz der Trennung schon überwunden war, jetzt befiel er sie erneut mit unverminderter Heftigkeit. Nichts war ausgestanden, die Sehnsucht nicht, die Liebe nicht, die Angst nicht und der nagende Zweifel nicht. Beinahe jedes Wort, das Stephan gesprochen hatte, blieb ihr im Gedächtnis, um zu untersuchen, ob nicht eine Aufforderung an sie darin versteckt sein könnte. Sie konnte nicht wissen, daß ihr Freund die Besinnung verloren hatte, bevor er von ihr hätte sprechen können.

Als Stephan den schwerkranken Daniel wiedersah, lag dieser immer noch ohnmächtig auf seinem Lager. Die Glaubensbrüder beteuerten viel, gar ständig für Daniel gebetet zu haben, aber sein Zustand verschlechtere sich von Stunde zu Stunde. Aus der mitgebrachten Medizin wurde nach Anweisung des Arztes ein Getränk gebraut und dem Kranken eingeflößt. Dann kniete sich Stephan in der Stube von Stephan nieder und redete laut zu Gott: „Lieber Vater im Himmel, du siehst, wie ich um das Leben meines Freundes bange. Ich weiß um deine Macht, uns Menschen zu heilen und um deine Liebe zu uns. Bitte, laß Daniel gesund werden. Auf deine Führung vertraue ich, glaube, daß es für ihn, wolltest du ihn sterben lassen, der richtige Weg ist, wenngleich ich es nicht verstehen könnte. Vergib mir, wenn mein Vertrauen zu schwach ist, aber mach` meinen Freund gesund. Bei dir ist ewige Weisheit, gnädige Liebe und Macht über alles. Erbarme dich unser." Und als Bekräftigung fügte er das Wort "Amen" hinzu. Dann setzte er sich an

den Rand von Daniels Bett, ergriff dessen Hand und wachte bei ihm, bis die Sonne des nächsten Tages hoch am Himmel stand.

In Daniels Körper tobte inzwischen ein schrecklicher Krieg. Alle entbehrlichen Funktionen hatte er eingestellt, dennoch reichte die Abwehr nicht aus, um den Feind zu vernichten oder in die Flucht zu schlagen. Das Medikament, das Stephan besorgt

hatte, bewirkte eine letzte große Mobilisierung der körpereigenen Armeen. In einem gewaltigen Feldzug marschierten sie und zerstörten alles, was fremd war. Diese großangelegte Aktion war am nächsten Morgen beendet. Nun galt es, die Reserven wieder aufzufüllen. Nahrung mußte beschafft werden. Das sollte der bewußte

Teil des Gehirns besorgen. Also wurde er wieder eingeschaltet, und Daniel erwachte. Als erstes erkannte er seinen Freund, der noch immer an seiner Seite saß. Der begriff sofort, reichte ihm zu trinken, stützte seine Schulter beim Essen und erzählte, wie er zum Doktor in sein Dorf gewandert wäre und dessen Rat eingeholt habe.

Daniels erste Frage galt seiner Freundin. Von ihr wußte Stephan nichts weiter zu berichten, als daß sie hatte mitkommen wollen, aber von ihrem Vater zurückgehalten worden war. „Warum läßt er sie nicht zu mir? Was habe ich ihm getan? Er weiß doch, wie sehr ich sie liebe. Oder glaubt er jetzt auch, daß ich am Tod dieses Bauernmädchens schuld bin? Stephan, vielleicht bin ich ja wirklich schuld. Ihr sagt doch auch immer, daß aus dem Begehren die Sünde erwächst. Vielleicht mußte sie wegen meiner Sündhaftigkeit

sterben." Hier widersprach ihm der andere: „Gott tötet nicht Menschen, um uns zu bestrafen. Dazu hat er sie viel zu lieb. Sicher entsteht viel Leid aus unserem kurzsichtigen, falschen Begehren. Aber dann ist es nicht Gott, der das Leid noch verschlimmert, indem er uns obendrein noch quält. Im Gegenteil, unablässig vergibt

er uns die Schuld, damit wir mit ihm als mächtigen Freund neu anfangen können. All diese Schuld nimmt er auf sich. Wenn du Jesus hättest dafür sterben sehen, würdest du so etwas nicht denken können. Freilich müssen wir uns Mühe geben, damit nicht noch mehr

Grausamkeiten durch uns in die Welt kommen, aber unsere Mühe allein ist nichts nütze. Erst der Tod Jesu und seine Vergebung werden es uns möglich machen, einmal ewig ohne Schuld zu leben."

Soviel Güte und Wärme strahlte Stephans Gesicht jetzt aus. Eine feste Zuversicht begann in Daniels Herzen zu keimen. „Du meinst, wir würden in Gottes unmittelbarer Umgebung leben können, ohne in der Glut seiner Gerechtigkeit sterben zu müssen?"

„Ich bin ganz sicher. Jesus hat es schon geschafft. Die Schlacht ist bereits geschlagen, der Sieg errungen. Was soll noch geschehen können? Zugegeben, wir können noch Fehler machen, aber keine Fehler mehr, die durch Jesu Opfer nicht abgedeckt sind. Du wirst

es ja erleben." „Und dann, wie werden wir dann sein? Was werden wir in Gottes Nähe tun?" Stephan konnte keine umfassende Antwort darauf geben, aber er versuchte, das Wesentliche deutlich zu machen: „Stell` dir das schönste Bild vor, das du im Leben erblickt hast, die herrlichste Musik, das ergreifendste Gefühl, den wundervollsten Duft und das wohlschmeckendste Essen. Siehst du, das ist vielleicht ein ganz geringer Abglanz dessen, was es dort für uns zu erleben gibt. Du darfst dich uneingeschränkt darauf

freuen. Jedenfalls werden deine kühnsten Erwartungen weit übertroffen.

Alles, was uns hier noch jede Freude schmälert, wird es dort nicht mehr geben." In Daniels Augen stieg ein Glanz, der verkündete, daß er den Worten seines Freundes Glauben schenkte.

Kaum war der Kranke soweit genesen, daß er wieder stundenweise aufstehen konnte, wurden er und Stephan zum Vorsteher gerufen. Der hatte einen Entschluß gefaßt, den mitzuteilen ihm sichtlich nicht leicht fiel. Stephan hätte sich dem Rat der Gemeinschaft

widersetzt und Gottes Hilfsbereitschaft und Fähigkeit in Frage gestellt, indem er ärztliche Weisheit höher eingeschätzt habe als die Möglichkeiten Gottes. „Es ist eine Mißtrauensäußerung erster Ordnung, wenn jemand, statt zu beten, zum heidnischen

Medizinmann rennt und versucht, mit allerlei Zauber eine Krankheit zu besiegen. Daniel, du bist gesund geworden, aber nicht infolge unseres Gebetes. Stephan, du hast kleingläubig gehandelt,

vielleicht gar den Bösen und seine Helfer bemüht. Es ist verständlich, wenn ein weltlicher Mensch am Krankenlager seines Nächsten Angst hat. Du aber hättest wissen sollen, wie ein Gläubiger sich in diesem Fall verhalten muß. Gott hat Daniel nicht

gesund gemacht, das steht fest, denn sonst hätte er auf unser Beten gehört. Wenn Gott aber nicht gehandelt hat, bleibt nur einer, der eingegriffen haben kann. Und mit ihm wollen wir um keinen Preis zu tun bekommen."

Die beiden standen da, ohne eines weiteren Wortes fähig zu sein. Nicht im Entferntesten hatten sie diese Rede erwartet. Sicher war Stephan in Sorge gewesen und hatte sich gefragt, ob Gott helfen will. Aber seinen Beitrag als eine Mißtrauensäußerung zu werten, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Der Streit, der vorausgegangen war, hatte ihn wohl verunsichert. Die Genesung Daniels begriff er jedoch ganz als Wunder Gottes. Da sie in ihrer Überraschung keine Antwort geben konnten, wertete der Vorsteher dies als Bestätigung seines Gedankenganges und fuhr fort: „Mich hat der Allmächtige als Obmann über eine kleine Gemeinschaft bestimmt. Ich kann vor ihm nicht verantworten, daß ein schlechtes Glied am Leibe den ganzen Körper verdirbt. Es fällt mir bestimmt unsagbar schwer, aber ihr könnt nicht hierbleiben. Besser, daß ein Glied verderbe,

als daß der ganze Mensch ins höllischen Feuer geworfen wird. Diese Nacht dürft ihr noch bei uns schlafen, aber morgen früh müßt ihr fort. Möchte einer von euch noch etwas sagen?"

Daniel platzte beinahe vor Empörung. Er wollte die empfundene Ungerechtigkeit hinaus schreien, doch Stephan kam ihm zuvor. „Nein," sagte er beinahe gleichgültig. Mehr nicht, nur dieses eine Wort, und Daniel begriff, daß jedes weitere unnütz und zuviel gewesen wäre. Sie blieben die Nacht über, wenngleich an Schlaf nicht zu denken war. Vorzubereiten gab es kaum etwas. Stephan nahm nichts als seine Kutte mit, Daniel zog seine alten Kleider wieder an. Und kaum war die Sonne über den Horizont

gestiegen, brachen sie auf, unbekannten Zielen entgegen.

V

Der junge Tag wirkte auf sie beide wie eine Befreiung. Die Härte der kommenden Zeit blieb ihnen heute noch unerkannt. Wieder einmal bedeutete dieser Abschied für Daniel die Aufgabe einer vertraut gewordenen Tätigkeit und Umgebung. Doch dieses Mal war Stephan dabei. Er nahm jemanden mit, und das gab dem Aufbruch sogar einen gewissen Reiz. Der Zwang der strengen Regelung, der sich mit dem Genius eines allmächtigen Schöpfergottes nicht vereinbaren ließ, blieb hinter ihnen. Sie würden auf ihrem gemeinsamen Weg eine neue Ordnung finden müssen. Jedenfalls sollte sie leichter sein, heiterer und weitaus erfreulicher.

Die Jahreszeit begünstigte die Nahrungssuche. Während der ersten Rast pflückten sie an einem Strauch, der über und über mit reifen Früchten behangen war, Brombeeren. „Einfach phantastisch, Daniel, ganz großartig. Wie süß die sind. Paß auf, sonst zerquetschst du sie, und dann kriegst du Flecken auf`s Hemd. Ganz toll finde ich das." Daniel ahnte, daß er nicht allein die Früchte meinte und fragte: „Was, was findest du toll?" Sie hatten sich einen kleinen Vorrat gepflückt, den sie genüßlich im Grase verspeisten. „Ich hatte schon lange das Gefühl, dort nicht bleiben zu können. Ihren Glauben habe ich schon verstanden und finde ihn richtig und gut. Aber wie sie ihn zum Ausdruck bringen, läßt mich manchmal verzweifeln. Gott hat doch nicht so vieles geschenkt, um im Nachhinein es uns zur Geisel werden zu lassen. Sicher kann ich

seine Schöpfung mißbrauchen. Hüte ich mich aber davor, wenn ich so tue, als sei sie nicht für mich bestimmt?"

Daniel schreckte auf, weil einige Ameisen ihn als Störenfried empfunden hatten und

zu einer ersten Objektbesichtigung aufgebrochen waren. Die eine oder die andere erprobte auch ihre Beißwerkzeuge an seiner Haut. Diese kleinen Biester konnten schon so manchen Koloß in die Flucht schlagen. Die beiden Wanderer wechselten den Ruheplatz und ließen sich im Grase zwischen zwei jungen Fichten nieder.

„Verstehst du denn, wie der Vorsteher dich beschuldigen kann, mit dem Teufel im Bunde zu sein? Das hat er doch gemeint," forschte Daniel. „Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Ich habe mich in letzter Zeit dort nicht mehr wohlgefühlt. Das wurde noch

schlimmer, als du kamst, so von draußen aus der Freiheit. Vom ersten Tag an hast du mich interessiert. Die Gedanken oder vielmehr die Argumente der anderen waren mir bekannt. Von dieser Seite konnte nichts Neues kommen. Aber deine Fragen, dein Wachsen im Glauben zu Gott, reizten mich. Sie waren lebendig. Die Thesen der

Brüder schmeckten wie eingekellerte Kartoffeln, wenn das Frühjahr kommt. Der Vorsteher hat mein häufiges Schweigen bemerkt. Es fiel mir immer schwerer, in lauten Gebeten Begeisterung zu heucheln. Mit dir war die Begeisterung wieder frisch. Ich denke, ein Glaube braucht immer wieder offene Ohren, sonst versiegt er. Als ich

dann zu euch ins Dorf gewandert bin, habe ich gespürt, wie sehr ich mich nach Neuerungen sehne. Eines muß ich dir gestehen: dein Mädchen hat mit ausnehmend gut gefallen. Sie kam mir in der kurzen Zeit so offen und frei vor. Ich hätte sie wohl gerne mitgenommen zu dir. Doch ihr Vater hatte ja recht. Ein Mann im Kloster ist für ein Mädchen verloren. Wir waren dort so gefangen, wie Gott seine Geschöpfe bestimmt nicht haben möchte. Er hat nicht eine so große Welt geschaffen, damit wir uns in einen Winkel verkriechen, sondern sie erfahren, sie sehen, von ihr lernen, in ihr und an ihr wachsen. Ich will nicht sagen, daß ein Mensch jede Sünde und jede Sucht erlebt haben muß. Man kann aber auch nicht allem ausweichen, indem man sein Wesen verstümmeln läßt."

Sie lagen jetzt im Gras, jeder mit einem Halm zwischen den Zähnen und glichen eher Vagabunden als Mönchen. „Eigentlich ist es gleich, warum wir das Kloster verlassen mußten. Wichtig ist, die Erfahrung im Herzen zu bergen, die uns weitergeführt

hat." Stephan hatte Sätze gesprochen, die Daniel tief nachempfinden konnte, wenn er auch nicht in der Lage war, sie so treffend zu formulieren. So manche Fragen, die ihn vorher noch bedrückt hatten, lösten sich einfach auf. Stephan benutzte keine

ausgeklügelten Gedankenkonstruktionen, um Probleme zu zerreden.

Er traf sie im Kern, ganz direkt, und baute so die geheimnisbegründete Hemmschwelle ab, die sie umgeben hatten.

Das Leben im Kloster gehöre nun endgültig der Vergangenheit an. Eine Erwartungsstimmung erfaßte sie beide. In ihren Gedanken sahen sie eine Zukunft vor sich, die hell strahlte, viele Möglichkeiten eröffnete. Die Wärme der Herbstsonne umfing

sie so wohltuend, daß sie bis zum späten Nachmittag verweilten.

Als sie endlich aufstanden und weiter marschierten, erfüllte sie Tatendrang. Die Luft wurde kühler, die Sonne sank tiefer und der Wald warf längere Schatten. Stephan erzählte, wie er ins Kloster gekommen war: „Meine Eltern lebten mit uns Kinder

am Meer. Mein Vater war ein Fischer, einer von denen, die ein eigenes Boot besaßen. Ich habe oder hatte noch eine Schwester, von der ich allerdings nicht weiß, ob sie noch dort lebt. Eines nachts, als ich zwölf Jahre alt war, ertrank mein Vater auf hoher See. Sein Boot wurde nie gefunden. Meine Mutter versuchte ein Jahr lang, die Familie zu versorgen. Sie half Nachbarn bei der Wäsche und im Haushalt. Aber viel konnten die uns nicht geben. Niemand in unserem Dorf war richtig begütert. Es reichte bei allen gerade immer so hin. Der Pfarrer im Nachbardorf, der auch unsere Siedlung versorgte, bot meiner Mutter an, mich bei sich aufzunehmen. Meine Schwester sollte bei meiner Mutter bleiben, um ihr im Haus bei der Arbeit zu helfen, da sie fast den ganzen Tag für uns unterwegs war.

Beim Pfarrer blieb ich, bis ich fünfzehn war, dann wurde er versetzt, und seinen Nachfolger konnte ich nicht ausstehen. Der war nur auf sein Wohlbefinden bedacht und umgab sich mit allerlei Gehabe und Falschheit, damit man nicht entdecken möge,

wie gut er sich gesonnen war. Bei seinem Vorgänger habe ich den ersten Einblick in den Glauben bekommen. Meine Mutter hatte wohl immer gebetet, aber nie in Gegenwart anderer ein Wort darüber verloren. Die Kirche wurde von allen Dorfbewohnern besucht, weil sie fürchteten, nichts mehr auf See zu fangen, wenn der Segen Gottes fehlte. Ich wollte damals mehr von Gott wissen, weil ich nicht glauben konnte, daß er so dumm wäre, auf menschliche Heuchelei hereinzufallen. Im Kloster habe ich dann viel mehr darüber erfahren. Die ersten Jahre kam mir die Bibel wie ein Schlüssel zum Paradies vor. Ich habe gelernt, daß Menschen mit Gottes Hilfe Unmögliches vollbringen können. Ich glaube das auch heute noch, doch so richtig in Frieden leben werden wir wohl hier niemals. Wir können versuchen, das ärgste zu verhindern, eine heile Welt wird es nicht mehr werden. Dazu sind zu viele Menschen von Willkür, Ichsucht, Neid und Haß erfüllt. Und selbst wir können uns nicht ganz davon befreien. Zu einem Zeitpunkt, den Gott allein bestimmt, geht diese Welt völlig zu Bruch. Für alle, die seine Liebe und Gnade begriffen haben, wird er eine neue Erde schaffen. Daran glaube ich ganz fest, und das hilft mir auch, wenn ich liebgewonnene Menschen oder Dinge verliere, aber weh tut

es allemal. Irgendwie hängen wir ja doch noch sehr an dieser Welt. Ist ja auch verständlich, wenn man bedenkt, daß Gott selbst uns erhält. Wenn er sagt "Schluß", dann ist wirklich Schluß. Dann hat er auch alles bereit für ewigen Frieden und unsere heiß ersehnte Liebe und Freiheit."

Daniel verglich diese Worte mit seinen Erfahrungen. Was Stephan sagte, mochte wohl stimmen. Überprüfen konnte er es nicht. Was lohnte noch der Kampf mancher Menschen um Macht und Ansehen, wenn tatsächlich alles von neuem geschaffen werden mußte? Nicht leicht zu begreifen, aber Menschen taten ohnedies das Unbegreiflichste und Sinnloseste, wenn sie von Gott weg strebten. Ihn machen lassen, auf ihn vertrauen. Irgendwas mußte man doch aber selber tun, wenn auch erst nach Rücksprache mit dem Schöpfer. Daniel fühlte, daß es im Vergleich zu Gottes Anteil nicht viel sein könnte, was der Mensch zur neuen Erde beitrüge.

„Wohin gehen wir jetzt, Stephan? Ich würde gerne meine Freundin wiedersehen. Nur, was soll ich machen, wenn mich ihr Vater nicht mehr annimmt?" „Du wirst noch zu deinem Mädchen gelangen. Wart` nur ab. zunächst mit schauen, ob meine Familie

noch am Platz ist. Kennst du das Meer? Die Wellen, die Gezeiten, den windgepeitschten Sand? Hast du jemals in einer Düne gelegen und den Wellen zugehört? Nie schweigen sie. Bist du schon einmal mit einem Schiff hinausgefahren? Weißt du, wie es sich im Magen anfühlt, wenn der Wind mit dem Schiff sein übermütiges Spiel treibt? So ein Wind ist nicht eigentlich böse. Er kann nur sehr stark sein. Und dann weiß er nicht, was er mit seiner Kraft Gescheites anfangen soll. Ist doch Unsinn, was ich rede. Als ob

Stürme ein Gewissen hätten. Sie sind da, und es bleibt uns Menschen überlasen, ob wir uns ihnen aussetzen wollen. Bis zu einem gewissen Grade bedeuten sie für uns Anreiz, danach höchste Gefahr und manchmal den Tod. Mein Vater hat die rauhe See geliebt. Ihn

machte mildes Wetter krank, war gleichbedeutend mit sterben. Irgendwann aber war das Wetter doch zu rauh für ihn gewesen. Ich glaube nicht einmal, daß er es dem Meer übelgenommen hat. Wenn ich daran denke, wie ich damals fort bin. Meine Schwester wurde gerade vierzehn. In dem Alter pflegte man bei uns, sich festlich zur Kirche zu bekennen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit ihr über meinen Glauben gesprochen zu haben. Irgendwie war sie mir immer zu dumm, besonders, als ich sie in der letzten Zeit nur noch selten gesehen hatte. Ich würde ihr so gerne von Christus, dem Heiland und Erlöser der Menschen erzählen. Ob sie das wohl verstehen wird? Ich werde ihr einfach die Stellen in der Bibel vorlesen, in denen Jesus in seiner ganzen Sanftmut und

Freundlichkeit offenbar wird. Dann muß sie doch einfach begreifen, für wen alle Mühe und alles Leid erduldet wurde. Glaubst du Daniel, daß sie es verstehen kann, wenn ich nicht nachgebe und es ihr immer wieder vor Augen führe?"

Die Antwort fiel dem Kameraden leicht: „Wenn sie sich danach sehnt." Er spürte, welche Angst seinen Freund befiel. Nun oblag es nicht dessen Verantwortung, ob seine Schwester gerettet würde oder nicht. Er stellte sich vor, was er bei dem Gedanken

leiden würde, wenn seine Freundin kein Verhältnis zu Gott bekäme.

Sie hatte eigentlich, wenn er sich recht entsann, seinen Worten aufgeschlossen gegenüber gestanden. Es war ja ein goldenes Flügelpaar, das er ihr mitbringen wollte. Und Jesus war weit mehr, als seine Flügel.

Sie liefen an diesem Abend noch eine ganze Weile. Es war bereits dunkel, als sie begannen, nach einer Unterkunft im Walde Ausschau zu halten. Sie freuten sich, als sie Licht wahrnahmen, in einer Gegend, die kaum Menschen beherbergte. Die Hütte vor

ihnen machte einen verkommenen Eindruck. Das Licht aber, das sie in der Nacht ausstrahlte, ließ die beiden Wanderer auf behagliche Unterkunft hoffen. Stephan klopfte an die Holztür, während Daniel vorsichtshalber einmal um das Anwesen schlich und dabei versuchte durch die Fenster in das Innere zu spähen. Ein dicker, bärtiger Mann lag auf einer Matratze und hatte die Decke bis zu den Füßen herunter gestrampelt. Er trug seine Kleider noch am Leibe. Hätte nicht eine junge Frau im Schein einer Kerze am Tisch vor einer geöffneten Schublade gesessen, wäre Daniel überzeugt gewesen, daß es sich um einen Landstreicher handelte. So aber gewann er den Eindruck, daß die beiden dort wohl Zuhause seien. Als er zum Eingang zurückkehrte, sprach Stephan schon mit der Frau. Er stellte sich dazu und hörte noch, wie sie sagte: „Wenn der Alte morgen aufwacht, müßt ihr aber wieder verschwunden sein." Als sie Stephans fragenden Blick erfaßte, fügte sie hinzu: „Keine Bange, der ist voll bis Morgenmittag. Schnaps ist sein tägliches Brot, müßt ihr wissen." Ihre Stimme klang wie das Rasseln einer Kette in einem leeren Kessel. Während sie redete, zog sie mehrmals den Naseninhalt hoch, wobei sie die Augen zusammenkniff und heftig schluckte. Die Haare trug sie offen und lang, wenngleich die

mangelnde Pflege zu einer anderen Frisur geraten hätte. Ihre Oberlippe ragte weit über den Unterkiefer hervor, fast soweit, wie das Kinn, das spitz und kantig wirkte. Daniel spürte ein Unbehagen, als er mit seinem Freund eintrat. Die Frau tastete sich rückwärts an den Tisch und schob hastig dessen Schublade zu, in der sie zuvor noch gekramt hatte. Dann wies sie ihren beiden Gästen eine Schlafstelle zu und löschte mit angefeuchteten Fingern die Kerzen aus

Wären sie bloß an der frischen Luft geblieben, dachte Daniel." Hier stink es, als ob seit dem letzten Winter nicht mehr gelüftet worden ist."

Stephan erwachte, als jemand mit der Stiefelspitze unablässig gegen seinen Oberarm trat. Er schlug die Augen auf und erblickte über sich den Koloß vom Vorabend, der zeitig, aber noch nicht ausgenüchtert aufgestanden war. Er grinste breit und hämisch, und seine Zähne blinkten rostig-weiß zwischen den Bartstränen hervor. „Ha, du fauler Sack! Wirst du wohl aufstehen?"

Stephan rollte sich zur Seite, um den Tritten zu entgehen und sah, wie die Frau versuchte, Daniel zu wecken, indem sie ihn an den Haaren packte und seinen Kopf auf den Boden schlug. „Haben euer Hochwohlgeboren angenehm geruht? Das Mahl ist bereitet. So

lasset uns zu Tische schreiten," höhnte der Fettsack. Stephan fühlte einen unbändigen Zorn in sich aufsteigen. Wütend sprang er auf und wollte sein Gegenüber zurechtweisen, mußte sich aber, am Kragen gepackt, folgende Erklärung anhören: „Wohl geglaubt, das

ist ein Gasthaus, was, du Piesel. Hör mal gut zu. Hier bin ich der Boß. Was ich sage, wird gemacht, verstanden?"

Den drohenden Protest seines Opfers erstickte der Riese im Keime, indem er ganz einfach Stephans Kragen fester packte, so daß der kaum mehr Luft bekam und sich nicht anders zu helfen wußte, als so kräftig, wie er eben vermochte, das Schienenbein des Dicken zu mißhandeln. Für einen Moment lockerte sich der Griff und Stephan sprang zur Wand. Neben ihn stellte sich Daniel, um eine geschlossene Front zu bilden. "Wohl wahnsinnig geworden, wie," brüllte das Monstrum. "Na, wartet!" Er packte den Tisch, hob ihn hoch, wobei die Schublade herausfiel und ihren Inhalt auf dem Fußboden verstreute. „Jetzt habe ich euch," dröhnte er. Mit einem gewaltigen Schubs schleuderte er den Tisch in Richtung auf seine Gäste. Mit den Oberschenkeln klemmte er sie zwischen Tisch und Wand ein und schlug Stephan mit der Faust ins Gesicht, so daß der die Besinnung verlor. Daniel zitterte vor Empörung am ganzen Leib. Nie zuvor hatte er sich so unmittelbar in Gegenwart gewissenlosester Gewalt befunden. Die Gerechtigkeitsfanatiker in seinem Dorf waren dagegen ein frischer Wind auf der Sturmskala der Brutalität. Als er den ohnmächtigen Freund hilflos neben sich über den Tisch gebeugt sah, drohte sein Herz zu zerspringen.

„Komm` her, Junge, sonst zerquetsche ich dich zu Mus." Daniel ließ sich an der Jacke zerren und auf die Matratze schleudern. „Ich erkläre es dir jetzt noch einmal ganz genau. Hier wird gemacht, was ich sage, wenn du willst, daß dein Kumpel am Leben bleibt." Bei jedem Wort, das er betonte, schlug er Daniel mit der flachen Hand ins Gesicht. „Gott, wo bist du Gott," dachte Daniel. Das Weib unterstützte jeden Schlag mit keifendem Gezeter:

„Gib es ihm, Alter, zeig es ihm. Jawohl, gut so. Immer feste." Und mit bösartigem Gekicher berichtete sie ihrem Herrn, daß die beiden Gefangenen ihr am Vorabend gedroht hätten, die Unschuld zu rauben, wenn sie ihnen nicht Unterkunft gewährte. Daniel versuchte, sich zu verteidigen, bis er begriff, daß die beiden ein vorher abgesprochenes Spiel trieben. Er wurde an Händen und Füßen mit Stricken zusammengebunden und an ein Tischbein gekettet.

Die Frau hob die Schublade auf und sammelte ein, was herausgefallen war. Allerlei Münzen und Uhren, Goldstücke, Ketten und Ringe waren das. Zweifellos Diebesbeute. Stephan wurde durch eine Falltüre in den Keller getragen, aus dem ein quälender Gestank entwich. Danach verabschiedete sich der Gewaltmensch, indem er das Weib zu

sich heranzog und seine Lippen auf ihre preßte. Sie beantwortete diese Geste mit einem schrillen Gekreische und schleuderte ihm ihre Hand ins Gesicht. „Paß gut auf unsere noblen Gäste auf, du Scheusal Sie werden uns viel Gewinn bringen."

Damit verschwand er und kehrte am frühen Nachmittag mit einigen Flaschen zurück.

Vor sich hinsummend ließ er sich auf seine Matratze fallen, entkorkte seine Flasche und setzte sie mit dem Hals an die Lippen In hastigen Zügen schluckte er die Brühe, die abscheulich nach billigem Fusel roch.

Stephan war in dem Kellerloch bald nach seinem Abtransport erwacht. Nicht der schwächste Lichtstrahl bot seinen Augen Gelegenheit zu schauen. Ein bestialischer Gestank reizte seine Nase, und er glaubte, sich immerfort übergeben zu müssen. Schon

oben in der Stube herrschte dicke Luft. Hier unter aber war sie kaum mehr zu ertragen. Stephans Hirn arbeitete fieberhaft. Zweifellos befanden sie sich in der Gewalt eines grausamen Verbrechers. Dies war sein Unterschlupf. Gering die Wahrscheinlichkeit,

daß jemand sich in diese Gegend verirren würde, um ihnen herauszuhelfen. In seiner großen Not flehte er um ein Wunder oder um einen gnädigen Tod. Danach versuchte er, die Umgebung zu ertasten. Was er mit den Händen fühlte, konnte sein Verstand zu keinem Bild zusammenreimen. Es lagen hier unter wohl allerhand Gegenstände verstreut, die jemand hatte loswerden wollen. Am besten war es wohl, sich nicht zu rühren. Die Zeit wurde lang. Stephan versuchte, an das Sonnenlicht und die Waldgegend von gestern zu denken. Die Angst, all das Gute und Schöne nicht mehr zu sehen, befiel ihn. Was tat Daniel jetzt? Vielleicht konnte er sich befreien und Hilfe holen.

Irgendwann öffnete sich die Luke über ihm, und das feiste Gesicht des Bärtigen grinste ihn an.

„Er soll doch an unserem Fest auch teilhaben," grunzte er mit gespielter Großzügigkeit. „Komm, Freundchen, komm herauf, mein Engel und laß es dir wohlgemut sein." Durch das Licht von oben geblendet, wendete Stephan seinen Blick und schauderte. Was dort stank, war der halbverweste Leichnam eines Menschen, der dort schon monatelang gelegen haben mußte. „Ja, schau nur. Hier ruht ein alter Freund von mir, der sich

nicht von seinem Flügelschrott trennen wollte."

Bei diesen Worten sprang Daniel, der inzwischen entfesselt worden war, auf, rannte den Dicken fast um, stürzte die Kellerstiege hinab und verharrte mit weit aufgerissenen Augen vor den beiden Bruchstücken seines Flügelpaares. Der Körper dort unten neben dem goldseidenen Flügelpaar mußte dem Bauern gehört haben, der ihn um seine Habe betrogen hatte. „Woher hast du Scheusal meine Flügel?" schrie er den Mörder an. Der war infolge fleißigen Fuselkonsums ungewöhnlich friedlich gestimmt und lallte fast entschuldigend: „Ich wollte es dem Alten abkaufen, aber der konnte sich nicht davon trennen. Kann ich gut verstehen. Sieht ja auch prachtvoll aus. So, ihr zwei. Jetzt kommt aber rauf, sonst mache ich die Klappe wieder dicht." „Zu," verbesserte Stephan. „Du

machst die Klappe wieder zu und den Keller damit dicht." Daniel verstand nicht, wie Stephan in dieser Lage daran denken konnte, ihren Gefängniswärter belehren zu wollen und dazu noch über eine Nebensächlichkeit, die ihm nicht einmal aufgefallen war. Stephan verfolgte hingegen mit dieser Zurechtweisung eine Ablenkungstaktik, die beitragen sollte, die Lage zu entspannen. Der Augenblick war günstig, da der Säufer sich in einem vergleichsweise friedlichen Zustand befand.

Als sie oben auf der Matratze saßen,- die Frau machte sich wieder an der Schublade zu schaffen,- verriet ihnen der Räuber seinen Plan. „Wir werden hervorragend zusammenarbeiten. Ich sage euch, wo es was zu holen gibt, und einer von euch steigt

ein. Mit meinem Umfang kann ich nicht mehr so gute Geschäfte tätigen. Damit ihr einen kleinen Anreiz habt, mir behilflich zu sein, bleibt einer von euch hier, während der andere mir zuvorkommend zur Hand geht." Er hatte das in fast versöhnlichem Ton gesprochen. Daniel faßte Mut, ihn nochmals nach dem Flügelpaar zu fragen und ob er wüßte wozu es nütze sei. "Ja, Junge, das war so.

Der Alte dort unten im Keller hatte vor ungefähr zwei Jahren das Ding in der Stadt von Kneipe zu Kneipe geschleppt. Alle haben ihn ausgelacht, weil er sagte, daß es aus reinem Gold sei. Aber er hatte recht. Ich habe mich freundlicherweise seiner angenommen.

Aber ihr wißt ja, wie undankbar die Menschen auf Freundlichkeiten reagieren." Bei seinem letzten Satz wurde der Fettsack gewahr, daß er schon lange nichts Teuflisches mehr begangen hatte, und er faßte den Entschluß, sich erneut von seiner widerwärtigsten Seite zu zeigen. Mit einem Schlag auf seinen rechten Oberschenkel forderte er Daniel und Stephan auf, sich mit ihm die Flasche zu teilen .Die beiden wagten nicht abzulehnen, da er jetzt wieder gemein und höhnisch spottete: „Trinkt nur, ihr Süßen, nur zu. Es soll euch

prachtvoll bei mir ergehen." Als er von dieser Seite nicht genügend Reibungsfläche bekam, wandte er sich an die Frau. „Du alte Mistkröte, was stöberst du immer in meinen Sachen. Denkst wohl, du könntest mich beklauen, ha? Ha, mich beklauen! Dazu bist du

doch viel zu blöd. Komm` her. Setz` dich." Als sie nicht sofort

reagierte, brüllte er in ohrenbetäubender Lautstärke: „Du sollst herkommen, habe ich gesagt. Kannst du nicht hören?" Er sprang auf, wankte auf sie zu, griff einen Arm von ihr und zog sie auf die Matratze. „Laß mich, du alter Saufkerl," entgegnete sie mit derselben Lautstärke etliche Tonstufen höher. Darauf erfolgte eine Jagd durch die Stube, wobei alle Gegenstände, die im Wege waren, in Mitleidenschaft gezogen wurden. Endlich verprügelte er sie, daß Stephan und Daniel erschauerten.

Es kam, wie es der Dicke vorausgesagt hatte. Einer von ihnen mußte bei seinen Diebestouren zur Hand gehen, der andere blieb als Geisel gefesselt in der Hütte. Wenn es nur ein Mittel gäbe gegen diese skrupellose Gewalt. Mehr als einmal dachte Daniel daran, wenn er irgendwo eingestiegen war und das Monstrum draußen wartete, sich auf anderem Wege aus dem Hause zu schleichen und seinen Fronherrn zu erschlagen. Er brachte es nicht fertig, vielleicht weil er fürchtete, bei Mißlingen selbst arg zugerichtet zu werden, eher aber noch, weil von dieser beinahe grenzenlosen Willkür ein Machtstrom ausging, der ihn lähmte.

Schlau genug war der Verbrecher, um seinen unfreiwilligen Helfern des nachts bei Verlassen der Hütte die Augen zu verbinden. Einige Wochen vergingen, Wochen, die mehr und mehr mit Gemeinheit, Willkür, Grausamkeit und Schmerzen angefüllt wurden.

Sie mußten bis zum Erbrechen Fusel trinken. Ihre Köpfe dröhnten hernach und ihre Sinne blieben stundenlang umnebelt. Die schlechte Ernährung, die ständige Wut im Bauch und die Schmerzen, die er ihnen zur Verdeutlichung seiner Macht bereitete, füllten das

Maß an, bis es überlief.

Ein brauchbares Gewissen stumpft in solcher Umgebung unter ständiger Belastung ab. Zunächst war es so etwas wie Gewöhnung, das die Gefangenen härter machte. Dann

begann Stephan seinen Peiniger zu reizen. Er beschimpfte ihn, bis er blutig geschlagen wurde. Der Dicke vermochte sich nun bald nicht mehr zu steigern. Er dehnte seine Gewaltausbrüche auf die Frau aus, die in seiner Gegenwart zu einer Schlange geworden war. Daniel bangte um den Freund. Er ahnte wohl, daß hinter dessen Verhalten ein vager Plan stand. Noch begriff er nicht, welchen Weg Stephan eingeschlagen hatte. Auch das Böse hat irgendwo und irgendwann seine Grenze. Es kann sich in seiner rasenden Wut

steigern und steigern, läßt man es gewähren, geht es soweit, bis es sich selbst vernichtet. Darauf baute jedenfalls Stephans Taktik.

Eines morgens, als Daniel von dem Fettwanst zur Türe herein geschoben wurde, erklärte Stephan: „Ich werde dir nicht mehr gehorchen. Mein Herr ist Gott, und ihm allein will ich dienen." Er brachte diese beiden Sätze so bestimmt und sicher hervor, daß der Strolch stutzte, einen Moment nach Luft schnappte, als hätte ihn jemand in den Magen geboxt, dann auf Stephan zu stapfte, ihn einfach überrannte und unter seinem fetten Leib begrub. Daniel sprang in äußerstem Entsetzten hinzu, wälzte den Dicken von seinem Freund herunter und bekundete ebenfalls: „Auch ich werde dir nicht mehr zu Willen sein."

In seiner Wut griff der Gigant nach einem Stuhl und schleuderte ihn gegen Daniel, daß der sich vor Schmerzen krümmte.

„Jetzt will ich doch mal sehen, ob ihr nicht macht, was ich sage." Von der Wand schnappte er sich einen eisernen Feuerhaken, hob ihn über den Kopf und fauchte: „Auf die Knie mit dir, du elender Wurm. Ich bin dein Herr, und niemand sonst. Wo bleibt

denn dein Gott, du kümmerlicher Zwerg? Wird`s bald!" Seine Augen funkelten in teuflischer Entschlossenheit. Stephan nahm all seine Kraft zusammen. „Lieber Gott, jetzt halte du ihn auf," betete er stumm. Laut sagte er mit dem größtmöglichen Maß an Beherrschung: „Schlag zu, wenn du kannst. Schlag uns doch beide tot? Macht dir

ein Mord mehr noch was aus? Ich gehorche dir nicht," und er blickte ihn fest und starr in die Augen. Einen Moment lang glaubte Daniel, der Wahnsinnige würde mit dem schweren Eisen Stephans Schädel zerschmettern. Tonlose Stille. Auch die Frau hielt

den Atem an. Ein klirrendes, dröhnendes Geräusch, der Feuerhaken fiel vor Daniels Füße Der Koloß brach auf der Matratze zusammen.

Stephan sprang zur Seite und riß Daniel an der Hand hinaus ins Freie. Sie liefen durch den morgendlichen Nebel, bis sie die ersten Häuser erreicht hatten. Dort trommelten sie etliche Anwohner aus dem Schlaf, erklärten kurz den Sachverhalt, wurden verstanden, da die Einbrüche nicht unbemerkt geblieben waren und eilten mit einer Horde bestohlener Menschen zur Hütte zurück. Die indessen war leer. Erst nach stundenlangem Suchen fanden sie den Leichnam des Gewalttäters in einer Schlucht. Er war ihnen wohl

nachgeeilt, die Frau ihm hinterher, um ihn zu erstechen. Blut quoll an den Seiten des Messerschaftes hervor, das bis zum Heft im Rücken steckte, rann über sein Hemd und tropfte auf den felsigen Untergrund. Stephan wandte sich, im Innersten tief getroffen, ab.

Einige Tage versuchten sie, sich bei den erlösten Einwohnern zu erholen. Die kalte Jahreszeit stand unmittelbar bevor. Dann aber siegte der Wunsch, die grausame Gegend zu verlassen, und trotz Sturm, Wind und Blätterregen setzten sie ihre Wanderschaft fort.

Nachdem Stephan und Daniel die kleine Glaubensgemeinschaft verlassen hatten, entdeckte ihr Vorsteher ganz plötzlich, aber vollkommen klar, den Grund für seine eigene Handlungsweise.

Nicht Gottes Wille war es, was er zu schützen gesucht hatte, sondern seine vermeintlich angegriffene Machtposition. Daniels Erfolge mit dem Kräutergarten, die Belebung, die das Kloster durch seine Fragen erfahren hatte und schließlich der Erfolg von Stephans Mission hatten ihm das Gefühl gegeben, ins Abseits gedrängt zu werden. Ein bißchen mehr Widerstand von Seiten der beiden wäre ihm lieber gewesen. Da sie nun kampflos verschwunden waren, wurde dem Vorsteher einsichtig, daß zu keiner Zeit von ihrer Seite eine Gefahr für seine Person ausgegangen war. Deshalb erkannte er seine ärmliche Reaktion jetzt so deutlich.

Wo hatte Gott bei alledem gestanden? Der Vorsteher hatte ihn wie eine Schachfigur für seine Pläne einzusetzen versucht, aber nicht einen lebendigen Gott, sondern eine fiktive, theoretische Gestalt, die sich in Dogmen fest schreiben und bewegen ließ. Wäre Gott so gewesen, dann hätte er jetzt verzweifeln müssen. Nun aber konnte er seine Gedanken, Entdeckungen und Befürchtungen ihm erzählen, einem Gott, der zuhören konnte und vergab.

Darüber hinaus entdeckte der Vorsteher seinen persönlichen Freund in Jesus Christus wieder, der ihm jetzt half, Gottes Wegweisung und Vertrauen in seine menschliche Person zu erkennen. Infolgedessen ging vom Kloster bald eine neue Welle der Glaubensbelebung aus, die Menschenherzen im ganzen Umland ergriff.

VI

Ein Schneesturm zwang Stephan und Daniel eines Nachmittags, sich wiederum eine schützende Unterkunft zu suchen. Der kalte Wind hatte ihnen Eisdecke um die Ohren geschleudert, daß Hände, Nasen und Füße von beißender Kälte ergriffen worden waren.

Das erste Haus einer Siedlung versprach ihnen zwischenzeitlichen Schutz und Wärme. Seltsamer Weise war es ein etwa zehnjähriger Knabe, der ihnen das Tor öffnete, und weil er selbst nicht frieren wollte, sie eilig hereinbat und hinter ihnen wieder zusperrte. Freundliche Menschen waren hier Zuhause. Der Junge hatte eine ältere Schwester, die aufgrund der lebendigen, klugen Augen Vertrauenswürdigkeit und Verständnis ausstrahlte.

Mit ihren Eltern saß sie ums prasselnde Kaminfeuer und spielte in Vierergemeinschaft ein Brettspiel, das offensichtlich aus Holzstücken, Papier und Phantasie entstanden war. Das

Mädchen erhob sich auf einen Wink des Vaters hin, nahm den beiden Fremden die überflüssigen Kleidungsstücke ab und geleitete sie an den wärmsten Platz am Kamin. Der Junge mußte das Spiel forträumen und Stephan und Daniel sollten erzählen. In dieser behaglichen Atmosphäre flossen die Worte von selbst von den Lippen. Der Kleine schäumte vor Neugier über, so daß Daniel häufig versucht war, die eine oder andere Begebenheit mit abenteuerträchtigen Zügen zu verbrämen. Dabei blieb es nicht aus, daß Widersprüche auftauchten, die manches Gesagte schnell ad absurdum führten und

den Erzähler unter Lachen und freundlichem Hohn auf den Boden der Tatsachen zurückdrängten. Mit zehn Jahren vermag ein Kind besser zwischen Wahrheit und Schein unterscheiden, als der unkundige Erwachsene gemeinhin annimmt. Stephan ließ Daniel gewähren. Nur hin und wieder korrigierte er mit einem Blick in seines Freundes Augen den Verlauf der Erzählung. Als die Zeit für das Nachtmahl näher rückte, verschwand

das Mädchen in der Küche und kurz darauf auch Stephan, um ihr zu helfen. Da die beiden ohnehin nicht viel gesprochen hatten, fiel ihre Abwesenheit nicht weiter auf. Mit strahlenden Gesichtern und einigen Tellern voller Brotschnitten kehrten sie bald daraufhin zurück. Als die Gäste ein kurzes Dankgebet sprechen wollten, verstummte die Familie einige Augenblicke und ließ dann durch den Vater erklären: „Als die Kinder noch klein waren, haben wir mit ihnen auch immer gebetet. Dadurch bekommen sie einen ganz anderen Respekt vor dem Essen und gehen nicht so leichtfertig mit der Speise um. Doch heute kann man ihnen nicht mehr vormachen. Dafür sind sie jetzt aber auch schon vernünftiger."

Stephan mißfiel diese Rede, deklassierte sie doch das Gebet zum bloßen Erziehungsmittel. Zunächst erwiderte er aber nichts, um seinen Gastgeber nicht zu verunsichern. Das Mädchen, das den Vornamen Kerstin trug, hatte an seiner Seite platzgenommen, da sie beide als letzte hereingekommen waren. Wäre Daniel nicht noch immer mit Erzählen und jetzt auch mit Essen mehr als genug beschäftigt gewesen, hätte er vielleicht bemerkt, wie Stephan und Kerstin einander anzogen. Sie fragte häufiger als notwendig, ob er noch zu essen wolle, es ihm wohl schmecke und blickte seitlich zu ihm auf, auch wenn er nichts gesagt hatte. Die Mutter übernahm die Abräumarbeiten, und der Junge wurde bald darauf zu Bett geschickt. Er verschwand unter andauerndem Protest

auf sein Zimmer und träumte bald darauf von der Überwältigung und Gefangennahme eines Räuberhauptmannes, wobei er abwechselnd die Rolle des Banditen und auch die des gerechten Helden übernahm.

Nicht lange darauf führte Kerstin die zwei Fremden in eine Dachkammer, die mit ihrem breiten Bett den beiden Platz zum Schlafen bieten sollte. Zusätzlich brachte sie noch eine Decke, da im Zimmer kein Ofen stand. Stephan und Daniel kleideten sich nur wenig aus, um nicht zu frieren. Allerdings war es doch noch sehr kalt, so daß Daniel nach kurzer Zeit wieder erwachte mit dem Gefühl, die Toilette aufsuchen zu müssen. Er richtete seinen

Oberkörper im Bett auf und stellte verwundert fest, daß Stephan nicht im Zimmer war. Sicher würde er ihm unterwegs begegnen. Er tastete sich die schmale Treppenstiege hinab und vernahm aus der Stube leise Stimmen. Mit wem sprach Stephan da? Waren sie wieder in die Hände von finsteren Gestalten geraten?

Daniel schlich weiter und erblickte durch den Türspalt zur Stube seinen Freund, wie der auf der Kaminbank kauerte und daneben das junge Mädchen, das sich ganz fest an seine Seite schmiegte und den Kopf mit den kurzen Haaren auf seine Schulter gelegt hatte. Ein Arm war jeweils um den Hals des anderen geschlungen, und die beiden freien Hände hielten einander fest.

Sie sprachen unaufhörlich miteinander. Daniel wollte sich leise zurückziehen, da ihm dieses Bild weh tat. Wie konnte Stephan nach so kurzer Bekanntschaft so dicht mit dieser Kerstin zusammensein? Er hatte doch im Kloster nie eine Freundin gehabt und vorher auch nicht, soweit Daniel informiert war. Jetzt sah er seinen Freund in einer Situation, die er ihm nie zugetraut hatte. Stephan war immer überlegt und vernünftig gewesen, ein Mensch, der wohl bedachte, was er sagte und tat. Wie groß mochte seine Sehnsucht all

die Jahre über gewesen sein? Er hatte geduldig warten können und befand sich nun erstmalig in einer Umarmung, die er sich in ihrer Herrlichkeit und Geborgenheit nicht schöner und größer hätte ausmalen können.

Daniel schwankte zwischen einem Gefühl der Mitfreude und einer Eifersucht, die den beiden Leichtsinn und Voreiligkeit unterstellen wollte. Aber dann siegte der Gedanke, er möge es ihnen gönnen, zumal sich jetzt die Erinnerung an seine Freundin einstellte. Kerstin sah ganz anders aus, als sie, hatte kurzes Haar, hellere Augen, ein etwas runderes Gesicht. Der Mund war sinnlicher, breiter, aber als sie Stephan so zärtlich in die Augen blickte, sah sie genauso lieb aus, genauso reizvoll und verführerisch. Dieser Glanz mochte wohl allen Mädchen zu eigen werden, wenn sie verliebt waren, vertraut wurden und Glück versprachen. Nur mußte man diesen Glanz sehen können, den Ausdruck ihrer Augen zu deuten wissen, und das konnte nur jemand, der Sehnsucht und Liebe kannte.

Daniel wollte die beiden alleine lassen, da er sich schon wie ein Verräter vorkam, aber ihr Gespräch fesselte ihn: „Glaubst du, die würden uns rausschmeißen, wenn sie uns so sehen könnten?" fragte Stephan. „Weiß nicht. Mein Vater war nie sehr streng. Dann würde ich immer bei dir bleiben, wohin du auch gehst. Ich gehe einfach mit dir. Kerstin sprach diese Worte ohne zu denken. Sie fühlte sich nur wohl in seinen Armen und wollte sobald dieses Gefühl nicht wieder verlieren. „Ich kenne dich erst seit heute nachmittag, aber mir ist, als wäre ich schon immer so mit dir zusammen. Nie hätte ich gedacht, daß es so leicht ist, die Zuneigung eines Mädchens zu gewinnen." Stephan sprach mit kurzen Pausen und blickte dabei starr in den Raum. Kerstin gestand: „Gleich, als ich dich sah, wußte ich, daß ich dich mag. Ich glaube nicht, daß es immer so leicht ist, sich zu verlieben. In dich bin ich

jedenfalls wahnsinnig verliebt."

Stephan hörte diese Worte nicht nur, er sog sie auf, wie ein Verdurstender vor einer Quelle frischen Wassers, die jeden Augenblick versiegen mochte. „Ich will bei dir bleiben, Kerstin, verstehst du. Ich will dich niemals wieder hergeben müssen. Aber ich bin auf der Reise zu meinem Heimatort, um meine Schwester zu besuchen und zu sehen, ob meine Mutter noch lebt. Kannst du glauben, daß jemand die ganze Welt

erschaffen hat? Kennst du Gott? Weißt du, wie liebevoll er sie versorgt? Kerstin, du wirst das alles erfahren müssen." Das Mädchen hob den Kopf von seiner Schulter, blickte Stephan kurz in die Augen und legte sich dann an seine Brust, ehe sie erklärte: „Dir werde ich alles glauben. Du belügst mich nicht. Wenn du sagst, daß es Gott gibt, dann wird es so sein. Wir haben als Kinder immer beten müssen, daß er uns behütet in der Nacht, daß wir lieb zu den Eltern sind und genug zu essen bekommen. Später

hat mein Vater dann gesagt, wir seien groß genug, uns einen Gott auszusuchen. Danach haben wir nicht mehr gebetet."

Sie machte eine Pause, und Stephan schwieg ebenfalls. Daniel merkte, daß er schon viel zu lange gelauscht hatte, aber jetzt konnte er nicht mehr gehen, da ihn der Ausgang des Gespräches brennend interessierte. Er wollte, daß die beiden zusammenkämen und blieben. Dazu mußte Kerstin Stephans Glauben und Gott kennenlernen. Er beschloß, seinem Freund nach Kräften bei dieser Aufgabe behilflich zu sein. Im Moment konnte er aber nichts tun als schweigen.

„Gott kann man nicht aussuchen. Es gibt nur einen, der wirkliche alle Macht innehält. Alles andere sind Attrappen, Irrtümer, bewußte oder unbewußte Fehlvorstellungen, die nur ein Ziel kennen: den Menschen von Gott zu trennen, um ihn zu versklaven und endlich zu töten." Kerstin wurde schläfrig. Gähnend murmelte sie: „Ich dachte immer, die Menschen hätten Gott erfunden, um ihre Kinder im Zaum zu halten oder alten Leuten das Sterben leichter zu machen. Man kann mit der Idee von Gott auch ganz gut Menschen beherrschen, wenn sie daran glauben. Aber wenn du an Gott glaubst...; ich kann mir nicht vorstellen, daß du jemanden ausnutzen willst. Du weißt so viel und hast so viel gesehen und glaubst doch daran. Das mußt du mir erklären. Aber heute Nacht nicht. Ich bin so müde. Am liebsten würde ich bei dir einschlafen. Du bleibst doch noch länger mit deinem Freund bei uns. Es ist so kalt, daß ihr nicht weiterziehen könnt. Ich werde meinen

Vater bitten,... vielleicht kann er euch gebrauchen, Stephan. Komm jetzt zurück ins Bett. Wenn dein Freund aufwacht und uns entdeckt, das wäre nicht schön."

Daniel verzog sich bei diesen Worten eilends. Im Bett mußte er allerdings noch lange warten bis Stephan kam.

Der Schneesturm hatte sich am nächsten Tag gelegt und ein strahlend blauer Himmel schloß sich über den verschneiten Wiesen, Wäldern und Häusern an. Die beiden Wanderer hätten weiterziehen können, ein oder zwei Dörfer bis zum Abend. Irgendwo wäre schon eine Unterkunft gefunden worden. Im Winter läßt man niemanden nachts draußen auf der Straße. Aber Kerstin hätte nicht mitkommen dürfen, also suchte Stephan einen Vorwand, um zu bleiben. Diese plötzliche Liebe hätte jedermann bezweifelt, daher mußte sie geheim bleiben. Nur Daniel sollte davon wissen, bevor er es auf andere Weise bemerkte. „Du Daniel," begann er, „mir ist da was passiert. Du wirst es nicht glauben, es klingst jedenfalls merkwürdig. Ich habe mich in die Tochter unseres Gastgebers verliebt. Verstehst du? Einfach verliebt. So ganz plötzlich. Sag` doch was." Daniel gab sich gelassen: „Ist doch schön für dich. Sie sieht ja auch sehr hübsch aus. Und wie mir scheinen will, ist sie auch gescheit. Hast du ihr schon etwas davon zu verstehen gegeben? Soll ich mit ihr sprechen, eine Andeutung machen, vielleicht?" Stephan war nun

doch etwas verwundert über die unerwartete Reaktion des Freundes. „Du findest es nicht unglaubwürdig, daß sich jemand so mir nichts dir nichts in ein Mädchen verliebt? So einfach unterwegs? Es ist ja schon sehr viel mehr, als du denkst. Gestern Nacht, du hast

schon geschlafen, habe ich mich mit ihr getroffen, unten in der Stube am Kamin. Du glaubst gar nicht, wie sehr sie meine Liebe erwidert. Sie fühlt genau wie ich." „Stephan, warum soll ich dir nicht glauben. Du bist ein junger Mann und sie ist ein hübsches

Mädchen. Wenn du dich nicht in sie verliebt hättest, hätte ich es vielleicht getan. Ich weiß doch, wie so was geht. Ich habe es ja selbst erlebt." Und er beeilte sich hinzu zufügen: „Mit meiner Freundin." „Ja, und du meinst nicht, daß es Schwierigkeiten geben

könnte? Ich habe in der Nacht überlegt, was ich machen soll, wenn mich ihr Vater hinauswirft. Ich will sie doch nicht gleich wieder verlieren. Daniel, weißt du keinen Rat?" Der Angesprochene legte seinem Freund die Hand auf die Schulter, deutete ihm, sich auf

die Bettkante zu setzten und hockte sich neben ihn. Soviel ich weiß, Stephan, ist ihr Vater Tischler. Er repariert den Leuten in der Gegend die Stühle, Tisch und Schränke.

In dieser Witterung wird altes Holz durch die Feuchtigkeit schnell morsch und zerbricht. Das heißt, er hat in dieser Jahreszeit alle Hände voll zu tun. Bieten wir ihm für Unterkunft und Verpflegung unsere Hilfe an, und vielleicht können wir bis zum Frühjahr bleiben. Es läßt sich doch schwer im Winter weiterziehen. Hier ist es warm, und die Menschen sind freundlich."

Stephan mutete dieser Vorschlag wie die Lösung all seiner Probleme an. Gestern am Kamin hatte es sich so leicht träumen lassen. Heute morgen war ihm der Mut schon fast völlig geschunden gewesen bis zu diesem Augenblick. „Wie bist du nur so schnell auf

diesen Gedanken gekommen. Ich habe die halbe Nacht überlegt, und mir ist nichts eingefallen. Und du schüttelst so was einfach aus dem Ärmel." „Och," murmelte Daniel. „Das war doch nur so eine Idee," und dachte: „Ich habe auch eine Nacht lang überlegt, um ihm das zu sagen."

Noch jemand war zu diesem Zeitpunkt dabei, auf eine Beeinflussung des Vaters hin zu wirken. Kerstin half ihrer Mutter bei der Küchenarbeit. „Was habe ich heute für eine fleißige Tochter," stellte die Mutter fest. „Du hast ja auch mehr zu tun als sonst, nicht wahr," begründete das Mädchen. „Ja," erwiderte ihre Mutter. Deine beiden Gäste wollen versorgt sein." „Wieso meine Gäste? Ich habe sie nicht eingeladen." Kerstin biß sich auf die Lippe. So abweisend hatte sie gar nicht antworten wollen." Da wollen wir mal

zusehen, daß wir sie so schnell wie möglich loswerden, mein Kind." „Ja, natürlich," bestätigte das Mädchen. „Es sei denn, sie würden sich etwas nützlich machen. Wenn sie Vater bei seiner Arbeit zur Hand gingen, dann hätte er mehr Zeit am Apostel Paulus

weiter zu schnitzen. Und vielleicht könnte dann zum Frühjahr der neue Altar eingeweiht werden. Was würde sich der Pastor freuen. Und er wäre uns nicht mehr böse, daß Vater nie zum Gottesdienst kommt."

„Sag` mal, Mädchen, was liegt dir mit einem Mal an unserem guten Ruf? Oder ist es etwa einer der Fremden, der dir gefällt? Mir kannst du es doch sagen. Meinst du, ich merke das

nicht? Du benimmst dich seit gestern Abend völlig verändert. Das muß selbst einem Blinden auffallen. Und ich kenne dich gut genug. Welcher ist es denn? Sie schauen ja beide fesch aus."

Einen Moment lang dachte Kerstin an leugnen. Dann aber trieb ihr die Angst um ihre neue Liebe die Tränen in die Augen, und sie schluchzte in die

Arme der Mutter: „Der Blonde, Stephan. Du glaubst gar nicht, wie lieb ich ihn habe. Wenn er gehen muß, gehe ich auch. Kannst du nicht mit Vater reden?" Die Mutter klopfte ihr tröstend auf den Rücken, als ob sie sich verschluckt hätte und wandte dann ein:

„Kind, was denkst du nur. Ich war auch einmal siebzehn und über beide Ohren verliebt. Das vergeht wieder." Ein Aufheulen in ihren Armen kündigte verstärkten Protest an, und so lenkte sie ein: „Laß nur, ich rede mit Vater. Vielleicht können sie ihm ja wirklich helfen."

So geschah es, daß Stephan und Daniel bei der Tischlerfamilie zunächst wohnen blieben. Arbeit gab es tatsächlich genug. Das Holz, das zu Reparaturzwecken dienen sollte, mußte im Winter trocken gelagert werden. Dazu bedurfte es von Zeit zu Zeit der

Qualitätskontrolle und der Umlagerung. Der Vater warnte die beiden Verliebten nur scherzhaft: „Seht zu, daß im Herbst kein Nachwuchs ankommt, sonst kriege ich Ärger mit dem Pastor. Dann muß ich ihm auch noch den Johannes schnitzen, damit er uns nicht

mit dem kirchlichen Bann belegt." Stephan nutzte die Gelegenheit zu einem tiefergehenden Gespräch: „Was haben Sie nur gegen die Kirche? Ist Ihnen ihre Lehre nicht verständlich?" „Zu verständlich, junger Freund, viel zu verständlich. Sie reden immer von der Vergebung der Sünden. Und wenn sie vergeben sollen, belasten

sie die Menschen mit Martern und allerlei Schikanen, als ob sie dadurch Schuld ungeschehen machen könnten. Ich will dir sagen, was das soll. Auf diese Weise machen sie sich den kleinen Mann gefügig. `Bist du hübsch brav, kommst du ins Himmelreich. Funktionierst du nicht, wirst du schon sehen, was du davon hast.` So reden sie doch. Und wehe, du sagst was dagegen. Gott ist nicht in den Domen und Kathedralen. Gott steckt in jedem Ding, in jedem Wesen, das lebt. Wenn ich einen Stuhl mache, dann ist das Gott in mir, der ihn macht. Dazu brauche ich diese Pfaffen und Heuchler nicht.

Wenn die Sonne am Morgen aufgeht, und die Welt zu neuem Leben erwacht, so ist das auch ein Stück Göttlichkeit. Gott ist in allem oder nirgends. Auf jeden Fall läßt er sich nicht von einem Verein pachten."

Stephan wollte eine Brücke bauen und versuchte zu ergänzen: „Ganz sicher können Menschen nicht nach Belieben über Gott verfügen. Aber so ein Wesen, das überall und nirgends steckt, wie soll mir das Trost und Hilfe sein? In der Bibel gibt es doch Angaben über Wesenszüge Gottes. Das neue Testament offenbart sogar seinen Sohn, den Menschen gesehen und getötet haben." „Ja, die Bibel, junger Mann, die Bibel. Ist doch von Menschen geschrieben. Sicher, eine Ahnung Göttlichkeit steckt in jedem Wesen. Meinetwegen kannst du das den Geist Gottes nennen. Für mich sind das alles nur Erklärungsversuche für etwas, was der menschliche Verstand nicht begreifen kann. Diese Lücke versucht er mit dem Glauben zu füllen. Und so unterschiedlich, wie die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Erklärungsversuche. Von mir aus kannst du es nennen, wie du willst, nur versuche nicht, jemanden damit zu gängeln."

Stephan gab sobald nicht auf: „Aber was ist mit den Wundern, die Gott gewirkt hat? Die Auferstehung Jesu, das ewige Leben? Das kann man doch nicht einfach von der Hand weisen. Was ist mit den Prophezeiungen, die sich exakt und minutiös eingestellt

haben? Sie können das nicht alles übersehen, wenn sie auch nur einen Funken Ernsthaftigkeit im Leibe haben."

„Ach ja, kann ich nicht, wie? Ich habe noch keine Prophezeiung erlebt, noch niemanden auferstehen sehen, und Wunder kann man alles nennen, was man nicht begreift. Die Bibel und euer Glaube mögen in sich widerspruchsfrei sein, aber jedes System gilt nur innerhalb vorgegebener Grenzen. Wenn du dich außerhalb von ihnen aufstellst und fragst, bricht alles zusammen. Glaub` mir, ich bin nicht oberflächlich. Ich habe darüber nachgedacht.

Aber wenn jemand eine Behauptung aufstellt und darauf ein ganzes Thesengebäude setzt, ist dieses Gebäude immer von dieser Behauptung abhängig. Ziehst du die Behauptung weg, stürzt das ganze Gebäude ein. Ich glaube gerne daran, daß ich auferstehe und ewig

lebe, aber ich sehe keine Anzeichen dafür. Und so bin ich genauso gerne für alle Zeit nach meinem Tod ohne Empfinden und Leben. Wenn die Auferstehung wahr ist, gut, wenn nicht, auch gut. Ich will dafür jedenfalls nicht ein Leben lang Büttel der Kirche

sein."

Solche Gespräche führten sie abends am Kamin. Kerstin schmiegte sich dann an Stephan, ohne das geringste Schamgefühl, und hörte einfach nur zu. Sie kannte die Ansichten ihres Vaters und hatte sie, bis Stephan gekommen war, auch geteilt. Wenn sie mit ihrem Freund alleine war, hörte sie seine Argumente an und mehr noch, sie lernte biblisch zu empfinden. Denn es war ein Unterschied, ob man mit dem Verstand eine Gottestheorie erfassen wollte, oder ob man einfach nur Geschichten aus der Bibel auf sich einwirken ließ und ihnen Glauben schenkte. Kerstin gelangte zu dem Schluß, daß sie wohl glauben könnte und es auch gerne wollte, solange es ihr möglich wäre, aber mit dem Verstand Gott nie begreifen würde. Es war so ähnlich wie mit ihrer Liebe zu Stephan. Keiner konnte sagen, woher diese Liebe kam, aber solange sie ihn liebhatte glaubte und vertraute sie ihm. Und aus diesem Glauben und Vertrauen erwuchs wieder neue Liebe. Da mochte es Situationen geben, in denen sie Stephans Verhalten mit dem Verstand nicht akzeptieren konnte. Dann brauchte sie nur zu denken: „Ich habe ihn von Herzen lieb," und es war wieder gut. Wie lange konnte sie ihrer Liebe sicher sein? Solange, bis ihr Gefühl sich gegen ihn kehren würde? Dann hatte sie noch immer ihren Willen,

aber könnte der je ausreichen, um das Gefühl zurück zu zwingen? Kerstin war kein Mädchen, das lange schweren Gedanken nachhing. Schnell lachte sie wieder und zeigte sich fröhlich.

Daniel machte sich hingegen häufiger Sorgen. Er hatte bei sich beschlossen gehabt, die Liebe der beiden nach Vermögen zu unterstützen, was nicht immer eine leichte Aufgabe bedeutete. Kerstins kleiner Bruder entwickelte seine Einfallsgabe dahingehend, daß er

allerlei Methoden erfand, seine Schwester und Stephan bei ihren Vertraulichkeiten zu beobachten oder gar zu stören. Daniel vermochte nicht zu entscheiden, ob dies aus Eifersucht oder aus bloßer Neugier geschah. Wahrscheinlich hatte beides Anteil an der

Ursache dieser Störmanöver.

Ein begehrter Platz für die beiden Verliebten war zum Beispiel der Holzschuppen. Dort gedachten sie vor allem in der ersten Zeit ein heimliches und witterungsbeständiges Plätzchen gefunden zu haben. Ein Wassereimer, der sich von oben herab über sie entleerte und panisches Entsetzen verursachte, bewies ihnen ihren Irrtum. Der Kleine hatte sich auf einem Holzstapel versteckt und den günstigsten Zeitpunkt für seine Störaktion abgewartet. Er begründete dies mit der Erfahrung, daß man es bei Hunden auch so mache, mußte sich aber in einer langen Strafpredigt unter anderem sagen lassen, daß Hunde nicht küssen. Wie auch immer, der Unsicherheitsfaktor in Gestalt des Kleinen wurde so groß, daß aktive Abwehraktionen angezeigt erschienen. Sofern es Zeitpunkt und Wetter zuließen, verzogen sich die beiden Verliebten in die Wälder, und Daniel erhielt die Aufgabe, den Knaben abzulenken.

Er tat das mit geteiltem Herzen, denn manchmal war er selbst versucht, den beiden nachzuspionieren oder ihnen gar hinderlich bei ihren Heimlichkeiten zu sein.

Merkwürdig dünkte es ihm schon, sein eigenes Verhalten. Was er mit seiner Freundin getan hatte, war nichts anderes, als was Stephan mit Kerstin unternahm, nur, das alles von Ferne bei einem Freund zu erleben, tat mehr als einmal weh. Sein Gewissen versuchte er zu entlasten, indem er Kerstin oberflächliche und leichte Wesensart nachsagte. Tatsächlich lag es dem Mädchen fern, tiefsinnige Betrachtungen anzustellen, und ihr Interesse an religiösen Fragen währte meist nicht lange. Entweder wurde sie dann

still, oder sie versuchte Stephan durch ihr reizvolles Äußeres auf andere Gedanken zu bringen. Oft genug war ihm dies mehr als recht.

Daniel, der seine Überlegungen beim beiläufigen Beobachten angestellt hatte, sprach seinen Freund einmal darauf an: „Sag' mal, Stephan, ich kenne dich als einen nachdenklichen und gewissenhaften Menschen. Du weißt das Verhalten anderer Leute so gut

einzuordnen. Bei Kerstin aber, so kommt es mir jedenfalls vor, bist du für diese Dinge blind. Sie benimmt sich oftmals so kindisch. Man kann mit ihr nicht längere Zeit über wichtige Fragen sprechen. Wie kommst du nur damit zurecht?" Stephan holte tief

Luft, doch ehe er antwortete, atmete er wieder ganz aus. „Ich habe geahnt, daß du eines Tages so fragen würdest. Ich selbst merke das ja jeden Tag. Und zuerst hat mich diese Feststellung etwas verunsichert. Ich habe, so wie du, geglaubt, meine Freundin müsse

alle meine Gedanken nachempfinden können. Aber zum einen kann ich mit ihr über alles reden, wenn auch nur in einem Umfang, den sie zu begreifen imstande ist, und zum anderen bin ich von ihr völlig fasziniert. Die Art, wie sie mich anschaut, ihre Anschmieglichkeit, ihre Heiterkeit, ihre Weichheit und Unbekümmertheit, wie

sie es versteht, meine Sinne auf sich zu lenken. Das alles ist etwas, was mir sehr gefehlt hat vor ihr. Und doch merke ich, es war früher schon Teil von mir. Sie aber hat diesen Teil erst zugänglich gemacht. Und umgekehrt, etwas von mir steckt auch in ihrem Wesen. Zusammen erst ergeben wir einen ganzen Menschen. Es ist ja nicht so, daß sie mich gar nicht verstünde. Im Gegenteil, manchmal hat sie einen Gedanken längst erahnt, für den ich noch Worte suche. Mich verblüfft dann immer, wie einfach sie sich ausdrücken kann, aber wie genau sie den Kern einer Sache trifft.

Weißt du, Daniel, viele Menschen versuchen ihre Liebe umständlich zu erläutern, einzukreisen, überschaubar zu machen. Wenn sie glauben, sich vollständig und umfassend ausgedrückt zu haben, stellen sie fest, daß ihre Liebe verschwunden ist. Kerstin sagt einfach: „Ich habe dich lieb." Und darin liegt all der Zauber,

alles unaussprechlich Geheimnisvolle, ihr ganzes Vertrauen, ihre ganze Hoffnung. Und wenn sie das sagt, dann weiß ich, daß es so ist, ohne es in Einzelheiten zerpflücken zu müssen."

Daniel spürte seine Argumente unter dem Glanz der Liebe zerrinnen. Dennoch mußte er die folgende Frage stellen: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie so komplizierte Wahrheiten, wie sie die Bibel offenbart und wie wir sie besprochen haben, begreifen kann. Fehlt dir dann nicht irgend etwas, wenn du merkst, daß du ihre Grenzen erreicht hast?" Stephan lachte: „Sei doch nicht so hochmütig, Daniel. Als ob sich eine Wahrheit nur kompliziert ausdrücken läßt."

Gott hat doch auch Kerstin lieb. Also findet er einen Weg, das, was er ihr sagen will, verständlich zu machen. Letztlich ist Gottes Beziehung zu ihr wesentlich intensiver, als meine je sein kann. Er kennt jede Faser an ihr. Also weiß er am besten, was sie begreift. Wahrheit ist immer einfach und für jeden erkennbar, wenn er nur will. Glaub` mir, Daniel, Kerstin will bestimmt. Und ihre Grenzen werde ich niemals erreichen. Jeder Mensch ist für den anderen grenzenlos, immer neu und anders erfahrbar. Grenzen

erreichst du erst dort, und zwar schlagartig, wo du nicht mehr liebhast. Da kann ein Mensch noch so einfach sein, Liebe macht ihn unendlich wertvoll. Siehst du, und Liebe ist Jesus, Gott Vater. Laß dich nicht verblenden, Daniel. Behalte deinen klaren Blick für Wesentliches. Halte deine Verbindung zum Schöpfer aufrecht."

In den Augen des Angesprochenen zeigte sich ein Anflug von Reue. Stephan hatte ihn wieder mal beschämt. Dieser Stephan, der keinen unendlichen Weltraum kannte, kein immens schnelles Flügelpaar... Sonderbar, war ihm, Daniel, der Gedanke an die

goldseidenen Flügel schon so fremd geworden? Er hatte in Jesus Christus eine bewußte Hoffnung gefunden. Und doch war ihm, als ließe der Zweifel nie ganz von ihm ab.

Bis zum Frühjahr hatten sich die beiden Hilfsarbeiter bei ihrer Gastfamilie sehr gut eingelebt. Kerstins kleiner Bruder fand sich schließlich mit der Tatsache ab, daß die große Liebe noch nichts für Kinder seines Alters sei und er sich gedulden müsse bis... nun, ein Datum konnte man ihm nicht nennen... also bis er reif genug wäre.

Während eines Waldspazierganges mit Stephan äußerte Kerstin einmal: „Eigentlich gehen wir jetzt herrlichen Zeiten entgegen. Draußen wird's wärmer, die Sonne bleibt länger wach. Mein Bruder lauert uns nicht mehr auf. Das Gras ist bald trocken, um

darauf liegen und hoch genug, um sich darin verstecken zu können. Ich weiß, Stephan, daß ich jetzt glücklich sein müßte. Aber irgendwie ist das komisch. Ich meine, ich habe dich schon noch lieb, aber ich weiß gar nicht mehr, was ich mir wünschen soll."

Zu diesem Zeitpunkt faßte Stephan dies als Kompliment auf, und er beeilte sich zu erklären: „Ja Kerstin, es ist schon so, wenn wir Menschen aufhören Wünsche zu haben, hören wir auf Menschen zu sein. Ein Rest von Unzufriedenheit wird immer in uns stecken."

Das junge Mädchen hatte darüber nicht sprechen wollen, sondern versucht, leise Zweifel an ihrer Liebe zu Stephan auszuwischen. Da nun Stephan eine so gänzlich andere Richtung mit seiner Antwort eingeschlagen hatte, drängte sie den Druck auf ihrem Herzen zurück und gab sich Mühe fröhlich zu sein.

Stephan war glücklich. Kerstin an seiner Seite, dieses leichte, biegsame Mädchen, fast noch ein Kind, mit den phantasievollen Ideen und den zauberhaften, spielerisch- reizvollen Blicken, sie würde ihm ein Leben lang genügen, mehr noch als das,

miteinander würden sie wachsen, zueinander und Gott entgegen, der ihnen diese Liebe geschenkt hatte. Stephan war so glücklich, daß er Kerstins Schweigen bei seinem Versuch, diesen Gedanken Ausdruck zu verleihen, als Zustimmung deutete. Und tatsächlich lehnte sie sich beim Gehen an seine Schulter, daß er ihr weiches Haar

an seiner Wange spürte. Dies entfachte in ihm ein heftiges Verlangen nach Zärtlichkeit. Er warf sie auf den Boden und balgte sich mit dem herrlichen Wesen, wie zwei übermütige Kinder es tun. Sie spielte mit bis die ersten Anzeichen von Ermüdung auftraten. Mit einem Mal empfand sie seine Berührungen als unsauber, lästig und zog sich zurück. Stephan gab nach. Mochte er ihre Laune dulden. Auf dem Rückweg beeilten sie sich. In den nächsten Tagen war diese winzige Störung zwischen ihnen wieder vergessen.

Stephan und Daniel hatten einige schwere Umlagerungsarbeiten zu bewältigen, so daß für gemeinsame Stunden wenig Zeit blieb. Im Kreise der Familie gaben sie sich sehr vertraut. Daniel mochte nicht fragen, wie lange sie noch bleiben würden. Schließlich kam sein Freund selbst darauf zu sprechen: „Ich hätte nicht gedacht, daß ich mich so sehr an Kerstin gewöhnen würde. Vielleicht wird es Zeit, daß wir zu meiner Schwester ans Meer weiterziehen." Er sagte dies, ohne daran zu glauben, daß er es könnte. Daniel nahm ihn jedoch ernst und wendete ein: „Wie willst du sie denn verlassen. Mitnehmen können wir sie nicht, so ins Ungewisse hinein." Stephan erkannte mit einem Schlag den Ernst seiner Aussage: „Du hast Recht, Daniel. Wenn wir jetzt gehen müßten, wüßte ich keine Lösung aus meinem Problem. Wir haben uns so lieb, daß wir wohl immer beieinander bleiben müssen. Seltsam, ans Heiraten habe ich noch gar nicht gedacht."

Stephan erfuhr, daß sich manche Problem auf höchst einfache Weise lösen, allerdings sehr zur Unzufriedenheit der beteiligten Personen. Kerstin war eines Tages seinen Berührungen abgeneigt. Er schob ihr Verhalten auf eine vorübergehende Laune. Sie

verschloß sich. Seine Versuche, sie aufzuheitern, brachten nur vordergründigen Erfolg. Noch ahnte er nicht, wie tief dieses Unbehagen saß, das in Kerstins Herzen steckte. Ihr gelang es zuweilen, sich zu verstellen. Er atmete dann auf, bis sie ganz klar ihre Unfähigkeit zu einer neuerlichen Beziehung zu Stephan erkannte und nicht mehr zu Zärtlichkeiten bereit war. Eine Schranke schloß sich zwischen ihnen, die nicht nur bewirkte, daß sie ihn nicht mehr berühren mochte. Nach einer Zeit des inneren Kampfes

rang sie sich durch, Stephan ihren Entschluß mitzuteilen. Sie überlegte sich jedes Wort vorher genau. Es sollte so schmerzlos wie möglich werden. Wie sie aber noch plante, konnte sie sich seine Reaktion schon gar nicht mehr vorstellen.

Sie saßen auf dem Sofa nebeneinander, als sie es ihm sagen wollte: „Stephan, du, ich glaube, ich habe dich nicht mehr richtig lieb." Der Angesprochene fühlte sich wie von einem Stein getroffen. Er wandte sich ab, starrte aus dem Fenster und überlegte, wie er den eben gehörten Satz einzuordnen hätte. Aber sein Gehirn war leergefegt. Nichts fiel ihm dazu ein. Schon gar nicht eine Antwort. Kerstin stand hinter ihm und bat: Sag `doch etwas, Stephan," und als er sich nicht rührte fuhr sie fort: „Jedenfalls ist es jetzt raus. Wir können nicht zusammen bleiben. Ich finde dich ja sonst ganz nett, aber so richtig lieb habe ich dich, glaube ich, nie gehabt."

Stephan kämpfte mit den Tränen, und als er spürte, daß er diesen Kampf nicht gewinnen würde, weinte er ohne Hemmung. „Ich verstehe dich nicht, Kerstin. Wir haben doch einander so lieb gehabt. Was ist nur mit dir los? Was kann ich tun, daß es wie früher wird?" Sie zögerte, ehe sie sprach: „Es liegt nicht an mir. Wir gehören nicht zusammen. Ich habe gedacht, ich käme mit dir zurecht, aber dann habe ich gemerkt, daß ich mich immer nur verstellt habe. Ich wollte jemanden liebhaben. Und da kamst du gerade. Aber richtig schön war es nur, wenn wir beieinander lagen. So haben wir überhaupt keine Gemeinsamkeiten."

Stephan dachte: „Das ist doch nicht wahr. Sie hat sogar meinen Glauben verstanden. Es war alles so einfach, so, als wenn Gott uns füreinander bestimmt hätte." Diesen Gedanken konnte er schon nicht mehr äußern. Er hörte, beinahe wie von Ferne, Kerstin sagen: „Ich werde dir mal schreiben." War das ein Hoffnungsschimmer? Sie konnte doch gar nicht wissen, wo er sich aufhielte. Er gab ihr die Adresse seiner Schwester. So nun sah das Ende einer Freundschaft aus, die angeblich niemals Liebe werden konnte. Stephan glaubte nach wie vor, für Kerstin alles zu empfinden. Er wollte ihr Zeit geben, sich zu entwickeln, zu besinnen. Aber offenbar wußte sie, was sie tat, denn sie änderte ihre Meinung nicht mehr. Also blieb den beiden Jungtischlern nichts anderes übrig, als ihre Sachen zu packen, um weiterzuziehen. Die Mutter tröstete Stephan: „Sie wird sich schon wieder besinnen," aber sie sollte nicht Recht behalten.

VII

Auf dem gemeinsamen Weg mit Daniel konnte Stephan seine Gedanken nicht verschweigen, wenngleich er fühlte, daß es wohl besser wäre: „Daniel, du hast doch miterlebt, wie gern sie mich gehabt hat. Ich kann nicht begreifen, daß so plötzlich alles vorbei sein soll. Wir haben über alles miteinander reden können. Sie hat oftmals genau wie ich empfunden. Sicher, du hattest mich gewarnt. Du wußtest vorher, daß aus uns beiden nichts werden konnte. War ich denn so blind? Selbst jetzt noch kann ich einfach

nicht glauben, was sie zuletzt gesagt hat."

Daniel spürte, daß sein Freund im Moment keiner Moralpredigt bedurfte, sondern nach Verständnis Ausschau hielt. Entsprechend wählte er seine Worte vorsichtig: „Du hast gefühlt, Stephan, und gehandelt, wie ich an deiner Stelle auch gehandelt hätte. Für Kerstin, die in dir ihren ersten Bewunderer gefunden hatte, war eure Beziehung ein unvergleichliches Abenteuer. Sie hat ihre Fühler ausgestreckt und ist fündig geworden, ehe sie noch erwartet hatte auf Gegenliebe zu stoßen. Ihrer Natur folgend hat sie mit dir wunderbare Erlebnisse gehabt. Du hast sie ernstgenommen, sogar, wenn sie sich selbst nicht sicher war, ob sie es überhaupt ernst meinte. Eigentlich seid ihr die Opfer eurer eigenen zahlreichen Irrtümer geworden. Ich habe sehr für euch gehofft, aber nie an eure gemeinsame Zukunft glauben können."

Stephan dachte bei sich: „Er hat nicht recht. Wahrscheinlich begreift er die Situation überhaupt nicht. Wir haben uns geliebt, und so eine Liebe kann nicht einfach mit einem Schlag tot sein. Ich werde um diese Liebe kämpfen. Wenn ich nur lange genug

Geduld habe, wird sie zur Besinnung kommen."

So wanderten sie Tag um Tag dem Meer entgegen, schliefen und aßen im Feld oder auf einem Bauernhof. Stephan bemühte sich, seinen Schmerz nach außen hin zu verbergen, aber sooft er Gelegenheit fand, drängte es ihn, von Kerstin zu sprechen. Dann redete

er mehr als ihm lieb war. Gott war anders als Daniel. Wenn Stephan betete, versuchte er, seinem Schöpfer so aufrichtig wie möglich seine Gedanken zu schildern, aber er wurde das Gefühl nicht los, den Kern seines wirklichen Problems nicht finden zu können. Er wußte, daß Gott ihm nur vergab und weiterhalf, wenn er aufrichtig bereute. Aber was er mit Kerstin erlebt hatte, konnte er nicht bereuen. Jeder Traum erzählte davon. Gott um Liebe zu bitten, war erlaubt und gerechtfertigt. Gott um Kerstin zu bitten, war möglich unter der Einschränkung, wenn es Gottes Wille wäre. Diese Einschränkung fiel Stephan schwer, denn er wußte, was er wollte und glaubte und er fürchtete, Gott nicht verstehen zu können, wenn der etwas anderes mit ihm vorhaben sollte.

Jedenfalls gelang es ihm nicht, sich locker zu lassen und für andere Wege offenzuhalten, deren Ende er nicht absehen konnte. Daniel fühlte sich unfähig, seinem Freund ein guter

Ratgeber und verständnisvoller Zuhörer zu sein. Stephan wollte Kerstin und keine Ratschläge. Allein in der Verbindung mit ihr sah er sein Glück. So wanderte er lustlos ohne eigentliche Hoffnung, fast schon gewiß, seinen Traum nie mehr zu verwirklichen.

Als sie das Meer erreichten und den Heimatort Stephans, hoffte Daniel, beide könnten seinen Freund von seinem Kummer ablenken oder sogar heilen.

Sie fanden das alte Fischerhaus wieder. Auch lebte Stephans Schwester noch dort. Die Mutter war vor einigen Monaten verstorben, und das Mädchen ging noch immer in

Trauer. Ihr ganzes Anliegen schien es, das kleine Haus so zu bewahren und instand zuhalten wie es die Mutter getan hatte. Die Verhältnisse waren immer noch ärmlich, aber alles in diesem Haus zeugte von peinlichster Sauberkeit und Ordnung. Stephan und

Daniel konnten jeder eine Kammer beziehen.

Erst nach etlichen Tagen besann sich der Bruder auf seine Botschaft, die er der

Schwester von seinem Gott bringen wollte. Sie war keine hübsche Frau, hatte ein hageres Gesicht mit fahlen Wangen, helle, ausdrucksarme Augen, krumme Schultern, die vom langen, strähnigen, aschblonden Haar bedeckt wurden. Ihre Hände waren vom Waschen, Putzen und Scheuern ständig rauh. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie, indem sie die Hütten der Nachbarn rein hielt. Immer gab sie sich beschäftigt, suchte sich Arbeit, fand sie, selbst, wenn sie zum dritten Mal an einem Tage die Treppe fegen mußte. Sie fragte ihren Bruder nicht viel, interessierte sich kaum dafür, woher er kam und was er getrieben hatte. Sie gewährte den beiden Obdach, weil Stephan nun mal ihr Bruder war und deswegen Miterbe des Hauses.

Der Tod ihrer Mutter hatte ihr Gefühl vollends abstumpfen lassen. Auf diesen Boden

sollte nun Stephan den Samen des Glaubens streuen. Er tat es ziellos, vage vortastend, mit größter Hemmung, da er in sich eine Blockade spürte, frei von seinen Erfahrungen mit Jesus zu berichten. Sie wehrte seine zaghaften Versuche ab, indem sie jedesmal

dringender Arbeit nachging, wenn sich ein Gespräch über Gott und Glaube ankündigte. Daniel kam sich denkbar hilflos und überflüssig vor. Ihren Namen Andrea fand er gänzlich unpassend, hatte er doch damit stets hübsche, intelligente Mädchen verbunden.

Was hatte sie aber auch schon erleben müssen, seit ihr Vater in ihrer frühen Kindheit verstorben war? Niemals war sie auch nur drei Dörfer weitergekommen. Was sie kannte, war der tägliche Kleinkampf gegen die Widrigkeiten eines rauhen Küstendorfes. Feiertags war sie mit der Mutter zur Kirche gegangen, da jemand, der sich diesem Ritual ausschloß allzu schnell Opfer eines grausamen Dorfklatsches wurde.

Es hatte für sie einmal eine Zeit gegeben, in der die jungen Fischer ihr nachgestiegen waren. Deren Plumpheit, Einfalt und Phantasielosigkeit hatten sie abgeschreckt. Und als sie schließlich schon fast bereit gewesen wäre, irgendeinen von ihnen zu akzeptieren, fand sich plötzlich keiner mehr. Schnell hatte sie den Ruf einer ewigen Jungfrau weg, der alle weiteren möglichen Bewerber fernhielt. Als sie nach dem Tode ihrer Mutter die

Kirche nicht mehr besuchte, zwangen sie das Gerede und die Intoleranz der Nachbarn in ihre jetzige Rolle, aus der kein Entkommen denkbar schien. Manchmal glaubte sie, sich mit ihrer Ehelosigkeit abfinden zu können, zumal, wenn sie den Streit und die Sorgen in umliegenden Familien beobachtete. Sie hatte wenigstens nur für sich selber zu kämpfen und konnte sich zurück ziehen, wenn ihr danach zumute war. Andere Hausfrauen kannten kein Entweichen, weil Kinder und Mann unabdingbare Forderungen stellten. So

jedenfalls versuchte ihr Verstand sie zu trösten. Wenn sie jedoch abends zu Bett ging, fühlte sie oftmals das übermächtige Verlangen, von jemanden fest in die Arme genommen zu werden. Und dann kam es vor, daß sie weinte, weil sie so gar keinen Weg aus der Einsamkeit entdeckte. Sie entschloß sich, ihr Gefühl sterben zu lassen oder zumindest es solange zu begraben, wie es nur dazu angetan war, ihr Kummer zu bereiten.

Stephan ließ nicht nach, in seinen Erinnerungen an Kerstin zu kramen. Ihm wollte es nicht in den Sinn, wie dieses Mädchen ihrer beider Liebe, welche von so vielen glücklichen Augenblicken begleitet gewesen war, so einfach aufgeben konnte. Wenn

sie sich mit jeder Faser ihres Körpers an ihn geschmiegt hatte, so dicht, wie es ihr nur eben möglich gewesen war, so zeugte das für Stephan von dem Ausdruck ihrer tiefsten Liebe. Er übersah nicht, daß auch sie offensichtlich Schwierigkeiten hatte, ihn als

Freund aufzugeben. Wenn es ihr aber schon Leid bedeutete, warum blieb sie ihm nicht treu? Er konnte es drehen, wie er wollte, eine Erklärung, die sein heißes Herz zufriedengestellt hätte, fand er nicht. So lebte er gespalten, ein Teil von ihm in der

glücklichen Vergangenheit und in einer fiktiven Zukunft, die seiner Ansicht nach hätte daraus resultieren müssen, ein anderer Teil in der freudlosen Gegenwart, deren Forderung an ihn nicht klar zum Vorschein kommen wollte.

Daniel war derjenige von den Dreien, der sich zwar nicht gerade wohl fühlte, aber seine eigene Position als ausgleichendes Element mit einer sinnvollen, wenn auch hoffentlich vorübergehenden Aufgabe in Verbindung brachte. Da nun Andrea um keinen Preis ihren Fuß Feiertags in die Kirche setzen wollte, schlug Daniel vor, in dieser Zeit ein wenig

hinauszugehen, über die Dünen zum Strand am Meer entlang. Nach einigem Drängen fand sein Vorschlag Zustimmung. So ein breiter Strand war Ort vieler möglicher Abenteuer mit der Natur. Allein ein Fußabdruck im Sand, den eine Welle überspülte, dann sich wieder zurückzog, die nächste Anlauf nahm, sich überschlug, langsam

auslief, bis der Sand sich wieder so gleichmäßig verteilt hatte, daß ein menschliches Auge nicht mehr sehen konnte, wo der Abdruck bestanden hatte, gab Anlaß nachzudenken über Vergänglichkeit, Vielfalt, Erneuerung und Unendlichkeit. Das Meer, das je nach

Bewölkungszustand seine Farbe wechselte, je nach Windeinfluß tobte oder nur den Strand sanft umschmeichelte, gigantische, immerfort sich ändernde Wellen aufwarf, erfüllte Daniel mit einer Erregung, konnte ihn bis ins Innerste aufwühlen und gab ihm Zeugnis von der Wesensart seines allmächtigen Schöpfers. Der weit gewölbte Horizont strahlte im Abendfrieden angesichts des roten Himmels einer untergehenden Sonne Erhabenheit und Sanftmut aus.

Dann wieder peitschte der Wind den Sand wie ungezählte Stecknadeln gegen seine unbedeckte Haut, daß er schutzsuchend zwischen zwei Dünen verschwinden mußte. Welch seltsame Formen hatten die Tiere, denen das Meer als Lebensraum zugedacht war. Jeder Wassertropfen barg noch den kleinsten von ihnen und gab ihm Nahrung. Quallen mit glockenförmigem Schirm, wasserhell durchscheinend und hauchdünnen Fäden, die Brennen am menschlichen Körper verursachten, wenn sie ihn berührten, kleine Krebse, die sich leere Schneckenhäuser als Heim gesucht hatten oder Muscheln, die wie ein Stein im sandigen Meeresgrund warteten, sie alle gaben Zeugnis von einem phantasievollen Schöpfer.

Andrea aber fand für all diese Wunder kaum Beachtung. „Was redest du!" schalt sie Daniel. „Die Fische fressen den Plankton, werden von größeren Fischen wiederum gefressen bis diese der Mensch fängt, und wenn der nicht achtgibt, bringt eine Welle sein Boot zum Kentern. Er ertrinkt, um am Meeresgrund zu verwesen, wo Fische und Kleingetier seine Überreste vertilgen. Ich kann in diesem Kreislauf keinen liebevollen Schöpfergott entdecken. Für mich ist dieses alles ein logischer, in sich folgerichtiger Ablauf, in dem Zufälle eine untergeordnete Rolle spielen. Das heißt, wie auch immer der einzelne Zufall entscheiden mag, er dient dem Ablauf des Ganzen, das sich so oder ähnlich ständig wiederholt."

Daniel war an dieser Stelle nachdenklich geworden. Er schaute zu Stephan hinüber, in der Hoffnung, daß dieser dazu etwas sagen möge, aber von seiner Seite erfolgte keine Erklärung. Statt dessen rannte Stephan ein paar Schritte voraus und ging in einigem Abstand vor ihnen her. Also mußte Daniel selbst eine Antwort auf Andreas Behauptung finden. „Tatsächlich kann ich dir nicht erklären, warum es in unser Welt oftmals für uns Menschen völlig unverständlich zugeht. Was ich jedoch im Glauben an Gott mich selbst betreffend erfahren habe - jedenfalls hoffe ich, daß es so ist - hat mich tief beeindruckt und überzeugt, daß er uns Menschen liebhat." Daniel spürte, während er sprach, wie wenig überzeugend er wirkte. Wenn er sich kritisch prüfte, mußte er zugeben, daß er sich selbst nicht einmal geglaubt hätte auf seine jetzige Rede hin. Andrea versuchte ein wenig auf ihn einzugehen: „Vielleicht sind Menschen im Zuge des Selbsterhaltungstriebes zum

Glauben angelegt, weil sonst die Schwermut zu groß würde. Ich kann jedenfalls in meinem Leben keine führende Hand Gottes erkennen. Wie oft schon wäre ich lieber gestorben, als weiterzuleben.

Das erste Mal habe ich ganz fest gebetet, als mein Vater nicht von der See heimkehrte. Vielleicht hat er sich verirrt und kommt nur später, habe ich zu hoffen versucht. Ich habe Gott dahingehend Vorschläge gemacht, wie er ihn noch zurückbringen könnte.

Damals habe ich fest an seine Hilfe geglaubt. Wie dumm das war, ist mir später klargeworden. Wenn mein Vater nämlich tot war, dann war er tot, und da konnte aller Glaube nicht helfen. Das ist nicht das einzige Beispiel, wo ich unsinnigerweise versucht habe, durch Glauben die Geschichte zu ändern. Wie lieb wäre mir gewesen, auf ausgleichende Gerechtigkeit bauen zu können. Mein Leben lang habe ich mir mit allerlei Dingen Mühe gegeben und erwartet, daß es sich auszahlen würde. Doch die Leute, die nichts gemacht hatten, als auf Kosten anderer zu leben, wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil, es ging ihnen hervorragend."

Während Daniel noch fieberhaft überlegte, mit welchen Argumenten er Andrea begegnen könnte, malte Stephan mit dem Zeigefinger Figuren in den Sand. Da er immer etwas vorauslief, war er schon mit der nächsten Zeichnung beschäftigt, wenn die beiden anderen noch an der vorher liegenden rätselten. Einige Teile hatte schon manchmal eine Welle wieder überspült, noch ehe sie hinzugekommen waren. So jagten sie schließlich Stephan hinterher, um rechtzeitig vor der Ankunft einer vernichtenden Welle Zeugen

seiner künstlerischen Äußerung zu werden. Stephan bemühte sich, seinen Vorsprung zu wahren. Das Geschehen steigerte sich, bis keine Zeit mehr für Sandmalereien und ihrer Betrachtung blieb und einer dem anderen hinterher stürmte.

Beinahe wie verabredet ließen sich alle drei an einer Stelle in den Sand fallen und blieben keuchend liegen. Auf dem Bauch ruhend schob Stephan mit der ganzen Länge seiner Arme vor seinem Kopf einen Haufen trockenen Sand zusammen. Weißt du noch, Andrea, wie wir als Kinder riesige Sandburgen gebaut haben?" Das Mädchen grub ihre Füße in den lockeren Untergrund ein. „Wir haben die Zeit am Strand verbracht, wenn Vater mit seinen Bildern hier beschäftigt war. Er hat stundenlang versucht, mit Ölfarbe und Pinsel verschiedene Stimmungen auf Leinwand festzuhalten. Wir Kinder haben nicht begreifen können, was ihn am rauhen Meer so fasziniert hat. Heute wüßte ich es. Es spiegelt die ganze Unruhe, Unbeständigkeit, ja, die ganze Sinnlosigkeit seines ganzen Lebens

wider." Stephan erwähnte noch einmal: „Wir haben uns im Sand immer eine Burg gebaut, mit mehreren Kammern und hohen Sandwänden als Schutz vor dem Wind. Wir haben dort gelegen, und es wurde uns ganz warm. Draußen mochte es noch so heftig wehen, in unserer Burg war es behaglich und bequem." Andrea wurde bei der Erinnerung ganz leicht zumute. „So eine Sandburg war richtig Schutz und Zuflucht für uns. Manchmal sehne ich mich nach dieser Zeit zurück. Damals lag unsere Hoffnung in der Zukunft. Heute liegt sie eher in Vergangenheit."

Hier fand Daniel eine Gelegenheit einzuhaken: „Unsere Hoffnung liegt nicht in der Vergangenheit. Jesus hat uns eine neue Welt verheißen, die alle Sehnsucht nach Geborgenheit erfüllt. Wir haben allen Grund, ihm zu glauben, gerade weil uns dieses Leben oftmals so unzufrieden macht. Natürlich können wir in dir nicht diesen Glauben erzeugen, aber erzählen müssen wir doch davon. Was du damit anfängst, ist dann deine Sache. Vielleicht bittest du einfach mal Gott um die Fähigkeit zu glauben. Oder lies mit uns die Bibel. Mag sein, es tut sich dann für dich eine ganz neue Möglichkeit auf."

„Ich kann doch nicht zu jemanden beten, an dessen Existenz ich nicht mehr glaube. Selbst wenn ich wollte, es geht nicht. Und wenn ihr so von der Bibel redet, spüre ich einen starken Widerwillen in mir. Es kommt mir alles so kindisch und albern vor, was darin steht. Ja, es ekelt mich sogar manchmal an." Andrea sprang auf und lief in Richtung ihres Hauses zurück.

Stephan setzte sich aufrecht, und während er den trockenen Sand durch seine Finger rieseln ließ, versuchte er das Verhalten seiner Schwester zu erklären: „Sie sehnt sich sehr nach etwas mehr Freude und Abwechslung. Durch den Einfluß unserer Kirche hat

sie von der Bibel den Eindruck gewonnen, daß dort Forderungen Gottes aufgestellt würden, die ihr Leben noch stärker einengen. Sie geht aber der Sache nicht selbst nach, sondern schlägt einen großen Bogen darum herum. Wenn es uns gelänge, ihr glaubhaft zu machen, daß Jesus befreit, dann wären wir ein gutes Stück weiter mit ihr." Er schob eine Ladung Sand zwischen seine ausgestreckten Beine und dachte weiter nach.

„Sie müßte an uns beiden und unserem Verhalten erkennen können, daß wir durch Jesu Barmherzigkeit fröhlicher, lebendiger und unbefangener geworden sind. Unser Beispiel würde weit mehr überzeugen als alle Worte. Aber zur Zeit fühle ich mich selbst sehr unsicher. Ich wünschte mir, ich könnte Gottes Nähe empfinden, wie in den Tagen meiner ersten Liebe zu ihm. Manchmal bete ich und denke, ich führe Selbstgespräche, weißt du, so als ob niemand zuhört. Gott ist noch da. Das weiß ich genau. Nur kann ich ihn nicht spüren. Ich komme mir so verlassen ohne Kerstin vor."

Daniel unterbrach ihn: „Kerstin ist nicht Gott. Du darfst deinen Glauben nicht von Menschen abhängig machen." Stephan fuhr fort: „Das weiß ich, Daniel. Und doch glaube ich manchmal, ich begreife ihn nicht, wie ich auch Kerstin nicht begreife. Wenn ich

wüßte, was er mit mir vorhat, wäre alles leichter. Ich kenne wohl das Ziel, aber den Weg weiß ich nicht. Mit Kerstin wäre er so einfach zu finden gewesen. Ich begreife es nicht." Daniel wollte ihm noch sagen, daß es gar nicht notwendig sei, den ganzen Weg zu

erkennen, daß es genüge, wenn man jeden Tag das Stück vor sich sähe, das es zu gehen galt." Aber das weiß er doch selber genauso gut wie ich," dachte er. „Was soll ich ihm mit Lehrbuchweisheiten kommen, mit abgedroschenen Predigten? Ich müßte ihn mit Gottes Hilfe ein Stück führen können, so wie er damals mit Gottes Hilfe für mich die rettende Medizin besorgt hat." Laut sagte er: „Laß uns heimgehen. Es ist nicht gut, wenn Andrea solange alleine bleibt." Und auf dem Rückweg fragte er: „Sag` mal, Stephan, hat

deine Schwester noch die Malsachen von eurem Vater?" Der Freund antwortete: „Kann sein, daß noch alles auf dem Speicher liegt. Meine Mutter hat nie etwas davon fortgeworfen."

So kam es, daß Daniel am nächsten Nachmittag im Schutz zweier Dünen eine Staffelei aufgestellt hatte und sich mit Kohlestift auf eine alte Leinwand die ersten Skizzen für ein Bild zeichnete. Es klappte wesentlich besser, als er vermutet hatte. Als er auf einer Palette versuchte, sich die Farben des wolkenverhangenen Himmels zu mischen, entdeckte er zum ersten Mal, daß es unendlich viele Abstufungen und Variationen gab, und wie sehr

das Sehen abhängig vom Standpunkt des Betrachters war.

Am Abend fühlte er sich sehr müde, aber auch stolz und froh über sein Bild, das ihm erstaunlich gut gefiel. So also ging man schlafen, wenn man etwas geschafft hatte. Es war ein wunderbares Gefühl, etwas vollbracht zu haben, das gefiel. Lag darin das Geheimnis eines zufriedenen Lebens, daß man auf Werke zurückblicken konnte? Wie wohl mußte sich Gott fühlen, der ein Universum geschaffen hatte! Es stand in der Bibel, daß er einen ganzen Tag lang hernach ausruhte und die Engel ihn lobten. Etwas Lobenswertes vollbringen, war das etwa ein Weg zurück zum Paradies? Da

eckte schon wieder soviel Eitelkeit darin, soviel Hochmut. Daniel seufzte tief bei diesem Gedanken. Dennoch, etwas wie Aufbruchstimmung und Tatendrang blieben in seinem Inneren haften. Er wußte jetzt daß seine Tage am Meer gezählt waren.

Als er einige Zeit später mit Stephan darüber sprach, wurde der noch trauriger. Seine Heimat war hier. Auch spürte er eine Verantwortung gebender der Schwester. Andererseits mußte Daniel eines Tages zurück zu seiner Freundin, und sei es nur, um

zu erfahren, daß auch sie, wie Kerstin, nicht treu war. Irgend etwas veranlaßte Stephan zu wünschen, daß auch Daniel erleben möge, wie weh nicht erwiderte Liebe tut. Er verdrängte diesen Gedanken sofort wieder, weil er merkte, daß er nicht rechtens

war." Du warst mir mehr als ein Bruder, Daniel, ein Teil meiner selbst. Der Sommer neigt sich dem Ende. Wenn du vor Wintereinbruch in deinem Dorf sein willst, wird es gerade Zeit für dich, Abschied zu nehmen. Was ich tun werde, kann ich heute noch nicht

sagen. Erstmal muß ich mein Vertrauen wiederfinden. Vielleicht gelingt es mir dann, Andrea mit Jesus bekannt zu machen. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, daß du die Liebe deiner Freundin so wiederfindest, wie du sie verlassen mußtest."

Daniel stellte fest, daß Abschied nehmen nicht seine Stärke war. Darum lenkte er auf ein anderes Thema: „Versuche einmal, ein Bild zu malen. Du wirst sehen, daß, wie genau du auch arbeitest, die Wirklichkeit viel feiner unterschieden ist. Unsere Bilder sind nur Stückwerk, nicht weil die Augen schlecht sähen oder das Gehirn versagte, sondern weil wir immer nur Geschöpfe Gottes sind und damit nicht besser als der Schöpfer sein können. Das beste, was uns hier auf Erden widerfahren kann, ist, mit unseren

großartigen, aber dennoch beschränkten Möglichkeiten, zufrieden zu sein. Darin liegt das Geheimnis des Glücks, das in dieser Welt zu verwirklichen ist."

Ehe Daniel endlich aufbrach, umarmten sich die beiden Freunde lange und innig. Was sie voneinander mitnahmen, waren Dinge, die das Herz bewahrte, der wohl sicherste Ort, wo Menschen ihre Schätze aufheben können.

VIII

In den ersten Tagen seiner Reise kam Daniel ein gutes Stück vorwärts. Je länger er lief, desto schwächer blies der Wind. Nachts träumte er noch manchmal, das Rauschen der Meereswogen zu hören, das ständige Kommen und Gehen der Wellen. Fast ein bißchen wehmütig erwachte er aus diesen Träumen. Das Meer hatte einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Die Stunden am Strand beim Malen hatten ihn an seine Zeit im Kloster erinnert. Damals war es ihm Freude gewesen, zu verfolgen, wie unter seiner Hände Arbeit ein Stück Stoff gewachsen war. Beim Malen war diese Freude noch intensiver zu spüren gewesen, weil das Auge oder vielmehr das Gedächtnis dem nachvollzogenen Abbild eine Erfahrung hatte zuordnen können. Die fertigen Gemälde hatte er Stephan zum Geschenk gemacht. Dabei war ihm aufgefallen, daß die Möglichkeit, ein Bild nach seiner Fertigstellung zu verschenken, die Arbeit beflügelte. Erst die Bewunderung seines Freundes hatte seine Werke wirklich wertvoll werden lassen. War das mit Gottes Schöpfung auch so? Brauchte Gott Engel und Menschen, die durch ihre Anerkennung und Bewunderung seiner Größe Wert verliehen? Nun, er brauchte sie vielleicht nicht, aber feststand, daß er sie wollte.

Daniel fiel ein, daß er in dem kleinen Fischerdorf außer mit Stephan und seiner Schwester mit kaum einem anderen Menschen Kontakt gehabt hatte. War der Grund dieser Tatsache darin zu finden, daß sie niemals dort den Gottesdienst besucht hatten? Oder kannten sich die Leute zu gut, um noch miteinander zu verkehren?

Wenn Gott Menschen wollte, die mit ihm eine Verbindung eingehen,

dann wollte er sicher auch die Gemeinschaft dieser Menschen untereinander. Wo also Menschen keine Gemeinschaft pflegten, waren sie fern von einer Verbindung mit Gott. Die engste Gemeinschaft zweier Menschen lag zweifellos in der Liebe zwischen Mann und Frau begründet. Diese Liebe mußte, da sie nur von Gott kommen konnte, auch ihn einschließen. Sollte Daniel bei seiner Rückkehr das geliebte Mädchen noch ihm zugewendet vorfinden, wollte er versuchen, mit ihr eine Beziehung einzugehen, deren tragende Säule Jesus wäre. Grausam der Gedanke an die Möglichkeit, seine Freundin sei vielleicht längst die Geliebte eines anderen Mannes geworden. Was sollte er dann tun? Was tat Jesus, wenn sich ein Mensch nicht für ihn entschied? Ja, selbst Gott wollte nur eine Liebe, die auf Freiwilligkeit beruhte. Also mußte auch er die Entscheidung, die sein Mädchen treffen würde, annehmen.

Daniel hatte auf seiner Wanderschaft viel Zeit, über solcherlei Erkenntnisse nachzudenken. Stephans Erfahrung mit Kerstin bereitete ihm viel Angst. Waren Untreue, Sinneswandel oder Launenhaftigkeit etwa typisch weibliche Eigenschaften? Wenn

Daniel ernsthaft darüber nachdachte, mußte er einräumen, daß er selbst schon oft in der Versuchung gestanden hatte, andere Mädchen zu begehren, und glücklicherweise gab es sogar einen Fall, in dem er erlegen gewesen war. Er hatte das damals zwar bereut, aber Reue allein hebt nicht den angerichteten Schaden auf. Da dieser schaden aufgrund seines seelischen Charakters durch materiellen Ausgleich nicht behebbar war, konnte nur Gott in seiner Güte Daniel Schuld erlassen.

Seit zwei Tagen Brachte ein kalter Nordwestwind einen Regenschauer nach dem anderen. Bei dieser Witterung reichten die Nächte nicht aus, um die feuchte Kleidung trocknen zu lassen. Fuhr dann der Wind dazwischen, durchlief Daniels Körper ein mächtiges

Zittern. Es nützte hernach nicht viel, wenn er mit seinen Armen um seinen Körper schlug, um den Blutstrom zu beschleunigen.

Bei diesem Wetter geschah es, daß er aus dem hochgewachsenem Kornfeld zwei Stiefel zum Graben hin herausragen sah. Als er näher herangekommen war, entdeckte er, daß zu dem Stiefelpaar ein ganzer Mensch gehörte, dem der strömende Regen offenbar nicht zu Bewußtsein gelangte. Daniel sprang über den Graben, um zu erfahren, ob seine Hilfeleistung von Nöten wäre. Dort erkannte er einen bärtigen, alten Mann, der, eingewickelt in seinen dicken Wintermantel, tief zu schlafen schien.

Tatsächlich bedurfte es nur einiger vorsichtiger Stöße, bis der Mann sich schwerfällig unter Stöhnen herumdrehte und Daniel aus tiefliegenden, verquollenen Augen anblickte. „Laß mich in Ruhe. Warum störst du meinen Schlaf? Ich habe nichts gestohlen.

Sieh zu, daß du deiner Wege gehst." Er sagte das nicht mürrisch oder unfreundlich, sondern in einem verblüffend ausdruckslosen, gleichgültigen Ton. Daniel hatte Mühe, seiner Verwunderung Herr zu werden.

„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich dachte nur, daß sie vielleicht Hilfe brauchen."

„Hilfe?" fragte der Bärtige fast zweifelnd. „Mir kann niemand mehr helfen. Schau mich an." Wie zum Beweis setzte er sich unter ausgibigem Geächse auf, so daß seine Füße in den Graben baumelten. Daniel rang zwischen zwei Gefühlen, von denen ihm

eines sagen wollte: „Bleib` und hilf!" und das andere: „Diesem Ungeheuer ist nicht zu helfen." Inzwischen hörte er sich sagen: „Sie können doch unmöglich in diesem Regen hier liegen bleiben. Kommen sie, wir suchen uns einen Unterstand." Schon griff er dem

Mann unter die Arme und stellte ihn mit einiger Anstrengung auf die Beine. Der Alte ließ sich führen, als wäre er an dem Unterfangen gänzlich unbeteiligt. Ganz langsam humpelte er durch den Graben und nahm keine Notiz davon, als er mit beiden Stiefeln mitten durch das Wasser patschte. Auf der anderen Seite krabbelte er auf allen Vieren den kurzen Hang zum Weg hinauf. Daniel nahm ihn wieder am Arm.

Eine kurze Wegstrecke weiter gelangten sie an eine Scheune. Knarrend und quietschend ließ sich das Tor öffnen. Drinnen war es dunkel. Nur durchs Dach drangen einige Lichtstrahlen. Allerdings tropfte es dort auch durch. Daniel schob den Alten eine Holzleiter hinauf und kletterte selbst hinterher. Hier oben war es zwar finster, dafür lag aber genügend Stroh, welches half, ein trockenes und gemütliches Lager zu bauen. Bald hörte er, wie der Mann schnarchte. Es ging von dessen Körper ein Geruch aus, der deutlich anzeigte, wie es um seine Pflege stand. In Daniels Nase mischten sich dieser und der des Strohs, so daß fortan, wenn er später einmal Stroh roch, seine Gedanken bei diesem Erlebnis hängen blieben.

Was brachte Menschen dazu, in dieser Weise durch die Lande zu laufen, ohne Ziel, ohne Aufgabe, offenbar auch ohne Hoffnung? Nicht einmal die Schmerzen, die der verwahrloste Körper dem Manne bereitete, vermochten ihn zu einer Änderung seines Lebensstils bewegen. Er litt offensichtlich, aber er unternahm nichts dagegen. Konnte es ihm gleichgültig sein? Warum schrie er dann?

Daniel hatte gehört, wie Menschen sich den Tod wünschten. Wenn es aber ans Leiden ging, klammerten sie sich mit aller Kraft an den letzten Hoffnungsschimmer, der ihnen Leben vortäuschte. Offenbar gab es für jeden Bereich menschlicher Existenz einen Teiltod. Erfolgte das Sterben der verschiedenen Bereiche nicht jeweils zum gleichen Zeitpunkt, führte der Mensch mit seinen noch nicht abgestorbenen Teilen ein seltsames, sinnloses Schattendasein. Zum wirklichen Leben gehörten körperliche Gesundheit, rechter Verstand und eine Aussicht auf kommende Zeit. Fehlte eines von diesen Dreien oder war es unterentwickelt, konnte nicht mehr von einem vollständigen Leben die Rede sein. Die Welt war voll von Krüppeln dieser Art.

Allmählich gewöhnte sich Daniels Nase an den Geruch, und seine Augen begannen mit den Informationen, die das spärliche Licht lieferte, etwas besser zurechtzukommen. Gegen eine lichterfüllte Ritze hatte eine Spinne mit dem Bau eines Netzes begonnen. Erst hatte sie sich Befestigungsleinen gewoben, dann lief sie solange im Kreise von außen nach innen, bis ihr Werk beendet war und setzte sich mitten hinein. Niemand hatte ihr gesagt, wie sie es zu bauen hätte, welche Fäden Lauffäden ohne Klebstoff sein müßten und welche nicht. Auch konnte Daniel nicht finden, daß sie es wüßte. Wahrscheinlich hatte sie gar kein Bewußtsein, und doch funktionierte sie in dem großen System eines unendlichen Universums. Von dem alten Mann, dessen ersichtliches Bestreben es war,

das Geschehen dieser Welt nicht mehr in sein Bewußtsein dringen zu lassen, konnte man das nicht sagen. Für ihn gab es als Mensch keinen Platz mehr. Vielleicht, daß die Fische oder die Fliegen noch etwas mit seinem Leichnam hätten anzufangen gewußt. Ob sich

Daniel nicht schnell aus dem Staube machen sollte? Es regnete immer noch. Er wäre gerne gegangen, hätte gerne die Erinnerung an diesen zottigen, zerlumpten Teilmenschen mit einer Handbewegung fort gewischt. Irgendwas jedoch hielt ihn fest, zwang ihn zu

bleiben, obwohl es lange, sehr lange währte, bis sich der Mann wieder regte. Etwas ungeduldig zerrte ihn Daniel am Ärmel, damit er wach würde. Seine erste Reaktion war sehr schreckhaft: „Was willst du von mir? Wer bist du? Was habe ich dir getan?" Seine

Stimme klang ängstlich. „Sie haben draußen im Regen gelegen. Ich habe Sie hierher gebracht, damit ihre Sachen trocknen können."

Langsam wurde der Mann wach. „Es war dir nicht gleichgültig, was mit mir passiert?" fragte er ungläubig. „Nein, natürlich nicht. Ich konnte Sie da nicht einfach liegen lassen." Mit einer verächtlichen Handbewegung warf der Kranke ein: „Du wirst es auch noch lernen. Sie haben es bislang alle gelernt. Sag` nicht immer „Sie" zu mir. Ich hatte mal einen Namen. Es hat mich zwar schon lange keiner mehr damit gerufen, aber wenn du willst, nenn` mich einfach Ferdinand." Wenn er so sprach, vermittelte er den Eindruck, geistig noch recht rege zu sein. „Ich heiße Daniel," stellte der junge Mann sich vor. „Gehörst du nirgendwo hin? Wo kommst du her? Welchen Weg nimmst du? Hast du niemanden, bei dem du bleiben kannst, der dich pflegt? Du bist doch krank." Ferdinand hustete wie zur Bestätigung und um Mitleid zu erregen. Dann kicherte er: „Wenn mich mal einer fragt, sag` ich immer: ich komme vom Morgen und gehe zum Abend. Und wenn jemand wissen will, was ich suche, sage ich: ich suche die Nacht." Wieder lachte er, als ob er einen Witz gemacht hätte. Daniel konnte nicht lachen. Zu sehr stimmte dieser Mensch mit den Gedanken überein, die ihm über dessen Person gekommen waren.

„Wovon lebst du?" fragte er wieder. Ferdinand erklärte mit gespielter Würde: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein." Dann fügte er hinzu: „Aber auch nicht von der Hand in den Mund. Ich esse, was ich finde. Manchmal gibt mir eine mitleidige Seele

etwas. Meistens habe ich aber sowieso keinen Hunger. Wozu auch? Sieh mich an! Was lohnt es da noch zu bewahren? Die Kälte und die Entbehrung haben mich mürbe gemacht. Aber was erzähle ich dir das? Ich will kein Mitleid, verstehst du!"

Sie schwiegen beide. Daniel fühlte, daß es kein Mitleid war, was er für den Alten empfand. Sicher hätte er ihm gerne geholfen, aber nicht aus Mitleid, sondern weil er merkte, daß das Leben an diesen Mann die gleichen Fragen stellte, wie an ihn. Es war nur eine vage Vermutung, als Daniel glaubte, daß es nicht an jeden diese Fragen stellte. Ferdinand fuhr fort: „Ich möchte nur noch schlafen, ganz fest schlafen, ohne Träume, ohne Schmerzen. Manchmal hoffe ich, wenn ich mich hinlege, daß ich nicht wieder

aufwache. Das wäre zu schön. Aber die Schmerzen sind stärker. Nachts erwache ich immerzu."

Wieder sagte keiner ein Wort. Ferdinand nahm einen Strohhalm und berührte damit das Spinnennetz. Sofort eilte die Spinne auf diesen Punkt zu, und, als sie dort nichts fand, rannte sie zurück und verharrte an ihrem Platz. „Wie dumm sie ist. Läßt sich so leicht täuschen." Der alte Mann warf den Strohhalm fort und überlegte dann laut: „Sie weiß wenigstens, was sie tun muß, und es klappt, auch wenn alles nur ein vorher vereinbartes Spiel ist. Warum sind wir Menschen nicht auch so? Sie macht sich kein Gewissen daraus, wenn sie eine Fliege verspeist. Nur wenn der Mensch tötet, findet er keine Ruhe mehr." Daniel fand diesen Vergleich unpassend. „Überlege dir mal, wenn wir so völlig ohne Entscheidungsfreiheit leben müßten, glaubst du, daß wir dann noch Freude hätten? Nichts ist auf Erden dem Menschen gleich. Niemand ist reicher oder hat mehr Möglichkeiten, auf seine Umwelt einzuwirken, als wir." In diesem Moment, da sie beide in einem finsteren Loch saßen, fühlte sich Daniel reich, großartig und frei. Im nächsten Moment konnte er schon nicht mehr begreifen, woher dieses Gefühl gekommen und wohin es gegangen war.

„Ist denn am Ende alles nur Einbildung," sprach er in die Stille hinein. „Woher nehme ich meine Freude? Wem gebe ich sie."

Fast aufbegehrend warf Ferdinand ein. „Welche Freude? Wovon sprichst du? Von vergänglicher Lust, für die man teuer, viel zu teuer bezahlen muß? Ich kenne nichts anderes und wünschte doch, ich hätte es nie kennengelernt." Daniel überlegte. Was war ihm je Freude gewesen? Wann hatte er das letzte Mal Glück verspürt? Zusammen mit seiner Freundin, und das war schon lange her. Ferdinand hatte recht. Ein Leben lang jagt man einer freundlicheren Zukunft hinterher. Oftmals fehlt nur ein winziges Stück, dann

wieder ist alles so weit weg. Mußte man da nicht zwangsläufig ein Leben nach dem Tode erfinden? Ferdinand schien seine Gedanken gelesen zu haben. „Wir sind selber Schuld. Etwas reizt uns. Wir geben dem nach, um zu erleben, daß es wie eine Seifenblase zerplatzt. Ich war nicht immer so wie heute. Ich habe einmal, als ich jung war, das ganz große Glück erjagen wollen. Als Bub habe ich davon geträumt, zur See zu fahren, ferne Länder zu bereisen, stark zu sein. Dieser Traum hat sich erfüllt. Ich bin Matrose geworden. Es war eine Mordsschinderei. Wir hatten einen grausamen Kapitän, der uns kaum an Land gehen ließ. Ich wollte dann ein eigenes Schiff haben mit eigenen Matrosen, die ich besser behandeln würde.

Zehn Jahre später habe ich ein eigenes Schiff gehabt, ein Handelsschiff. Ich fuhr die Güter der reichsten Leute, kostbare Stoffe, Perlen, Schmuck, Edelhölzer, Elfenbein. Wieder habe ich geträumt. Diesmal wollte ich reich sein, von kostbaren Dingen umgeben. Um diesen Traum zu erfüllen, mußte ich einen Trick anwenden. Ich meldete mein Schiff als gesunken und teilte mit meiner Mannschaft die Fracht. Tatsächlich bin ich reich geworden. Und weil ich meinen Reichtum gut anlegte, wurde ich noch wohlhabender. Man hat mich beachtet, bestaunt. Und dann habe ich davon geträumt, einen Menschen zu finden, der mich liebhat. Wenn man jedoch reich ist, lernt man nur Leute kennen, die Reichtum lieben. Ich konnte mir jede Frau kaufen. Sie waren mir alle zu Willen, bis ich eines Tages ein junges Mädchen entdeckte, daß sich für Geld nicht hergeben wollte. Ich hatte keine Hemmungen gehabt, sie anzusprechen. Ich war gewohnt, daß Leute mir Achtung entgegenbrachten. Sie aber erklärte mir, sie habe einen Freund und wolle sich um seinetwillen rein halten. Ich habe getobt vor Wut. Für eine Hand voll Gold haben einige Leute aus meiner Umgebung dieses Mädchen entführt. Ich habe sie gezwungen, sich mir hinzugeben. Sie hat mir hinterher gesagt, daß meine Lust sie nie besiegen könne. Immer wollte sie ihrem Geliebten treu bleiben. Ich wurde maßlos zornig und habe sie solange gewürgt, bis sie nicht mehr gezuckt hat."

Daniels Atem stockte. Hatte dieser alte Mann so schwere Fehler begangen, daß Gott ihn jetzt nicht mehr ruhen ließ? „Wie ging es weiter? Hat man Sie eingesperrt?" forschte Daniel zaghaft. „Ich wünschte, man hätte mich in einen Kerker gesteckt. Nie werde ich das Entsetzen in den Augen des jungen Mannes vergessen können, für den sich dieses Mädchen hatte bewahren wollen. Einige meiner Bediensteten sagten vor Gericht aus, daß er seine Freundin vergewaltigt habe und, um nicht in Verdacht zu kommen, sie tötete und in mein Haus schleppte. Der Richter verurteilte ihn zum Tod durch Erhängen.

Ich mußte damals dabei sein. Noch heute starren mich seine leblosen Augen von dem baumelnden Strick herab an. Ich habe alle Leute um mich herum davon gejagt. Einige meiner Güter sollten die Armen bekommen. Man lehnte sie einfach ab. Bald wußte jeder im Lande, was ich getan hatte. Aber niemand wagte es, mich anzuklagen. Ich schrie den Leuten ins Gesicht, daß ich ein zweifacher Mörder sei. Aber sie wollten es nicht begreifen. Niemand wollte mich verurteilen. So beschloß ich, selber Hand an mich zu legen. Ich mußte diese Augen loswerden, die mich überall verfolgten. Alles habe ich aufgegeben, was ich hatte. Heute bin ich ein Wrack. Meinen letzten großen Traum werde ich nie erfüllen können."

Daniel war entsetzt. Dieser alte Mann war so mit Schuld beladen, daß er Jesu Opfertod, der auch ein Tod war, den Verbrecher bewirkt hatten, nicht für sich in Anspruch nehmen konnte. Oder wollte er nur nicht?

Der Regen war verstummt. Daniel sehnte sich nach frischer Luft. Er wollte die letzten Reste dieses menschlichen Ungeheuers, das keine Gnade finden konnte, mitschleppen. Warum, wußte er nicht. Vielleicht würde er durch ihn lernen, seinen Haß auf den Bauern im Dorf, der an seiner Flucht schuld gewesen war, zu überwinden.

Bei seinem letzten Satz war Ferdinands Stimme auf einen ausdruckslosen, gleichgültigen Klang abgesunken. Mit den Worten: „So ein Quatsch," langte sein rechter Arm nach dem Spinnennetz und zerriß es. Die Spinne, die sich schnell mit einem hauchdünnen

Faden an seiner Hand befestigt hatte, versuchte er durch heftige Bewegungen abzuschütteln. Als ihm dies nicht gelang, sondern das Tier in Richtung auf seine Hand kletterte, ließ er den Arm sinken, bis die Spinne auf dem Boden krabbelte, stand auf und trat darauf. Dabei stieß er sich den Kopf an der Dachschräge, jammerte laut auf und sackte zu Boden.

„So ein Idiot," dachte Daniel. „Was ficht ihn an, die Spinne zu zertreten. Viel ärger hätte er sich stoßen müssen."

Eben noch war Daniel Zeuge eines grausigen Geständnisses geworden aufgrund dessen er sich gefragt hatte, ob diesem Manne nicht vergeben werden könne. Jetzt zeigte ihm Ferdinand im Kleinen, welcher Wesenszug das bislang immer wieder verhindert haben mochte. Hatte er die Wahrheit gesprochen, als er sein schlechtes Gewissen für seine jetzige Notlage verantwortlich machte, oder war es vielmehr sein Selbstmitleid, das gar keine echte Reue aufkommen ließ und Gott hinderte, sein Schicksal zu wenden.

Einen Moment lang tat es Daniel leid, sich mit dem Landstreicher überhaupt abgegeben zu haben. Als er aufstand, um zu gehen, folgte Ferdinand ihm die Leiter hinab. Auf der vorletzten Stufe angekommen, brach der Alte durch, was nicht nur zur Folge hatte, daß er seinen Fuß verstauchte, sondern auch, daß er die Leiter bei seinem Rückwärtsfall mit sich riß, die auf seinem ohnehin angeschlagenem Schädel landete. Daniel, der behende zur

Seite ausgewichen war, konnte ein höhnisches Gelächter kaum unterdrücken. Fast wollte er dem Bärtigen seinen Schmerz nicht mehr glauben. Zu komisch war die Szene gewesen. Schließlich stellte er die Leiter wieder gegen den Heuboden und half seinem Wandergesellen auf.

Das Licht des wolkenverhangenen Himmels blendete sie, als sie sich auf den Weg machten. Ferdinand humpelte zunächst einige Zeit auf dem rechten Fuß, dann, nach einer kurzen Rast, auf dem linken, bis er es bald ganz vergessen hatte. Als Daniel sich etliche Zeit später nach seinem Befinden erkundigte, griff er sich nur an den Kopf, der vermeintlich brummte, wie wenn er Heimstatt eines Bienenvolkes wäre.

Im nächsten größeren Dorf, in dem es eine Herberge gab, lieferte Daniel den Landstreicher mit der Bitte um Pflege ab. Er gab dem Wirt einige Goldmünzen, die er noch von der Arbeit beim Tischler übrigbehalten hatte und zog eilends weiter.

Indessen lichtete sich das Grau des Himmels, und zeitweilig schaute die Sonne aus hellblauen Umfeldern hervor. Sie gab dem Wanderer wieder Auftrieb , so daß er kräftigen Schrittes seinen Weg fortsetzte. Dabei versuchte er, sich das Wiedersehen mit seiner Freundin auszumalen. In seinem Gedächtnis erschien zunächst der Pfad, der zum Wald hinauf führte. Er sah sich hinab zum Dorfe steigen und sein Mädchen ihm entgegen laufen. Er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen. Mit einiger Anstrengung gelang ihm die Erinnerung an den Ausdruck ihrer Augen. Dann erst wieder sah er ihre Gestalt. Das komplette Erscheinungsbild brachte sein Vorstellungsvermögen jedoch nicht zustande. Kurzfristig übte er, eine Umarmung geistig und gefühlsmäßig nachzuvollziehen. Zu unbefriedigend blieb dieses Unterfangen, so daß er es bald aufgab.

Dazwischen mischten sich immer wieder Zweifel an ihrer Treue. Er malte sich aus, sie bei seiner Wiederkehr als Frau eines anderen Mannes vorzufinden. Immerhin war das ein möglicher Umstand, mit dem es fertig zu werden galt, sollte er sich als gegeben erweisen. Wenn sie doch nur mehr bei ihrem Abschied miteinander gesprochen hätten. Hatten sie überhaupt je miteinander gesprochen? Daniel erinnerte sich kaum mehr eines Satzes. War ihr Zusammensein beraubt Wirklichkeit gewesen? In seinem Gedächtnis existierte nur ein Traumbild, das Abbild eines Abbildes. Wie erst stand es mit dem goldenen Flügelpaar? Heute kannte er eine Vorstellung von Geschwindigkeit. Damals hatte er so was nicht gekannt. Welche Eindrücke hatte er von seiner Landdung auf der Erde bewahrt? Das Einzige, was er fand, war ein unklarer, aber immens starker Reiz, der irgendwo verborgen in seinem Inneren noch schlummerte. Heute glaubte er sich der Empfindung eines solchen Reizes beraubt nicht mehr fähig. Diese Vorfreude, die er noch beim Eintritt in die Atmosphäre in sich getragen hatte, war mächtiger und überwältigender gewesen, als je eine Freude auf Erden wieder erschienen ist. Sie war ungetrübt, vor aller Erfahrung, an keine Bedingung geknüpft, als an sein Vertrauen in ihre Verwirklichung. Mußte seine Bekanntschaft mit Gott nicht weit größeres Glücksgefühl ausgelöst haben? Daniel spürte so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil er fürchtete, daß es nicht so war. Jesus war ihm eine Hoffnung, gegebenenfalls ein Trost, aber kein Anlaß für inneres Jauchzen. Dabei hätte es der Sohn Gottes bestimmt verdient, einziger Mittelpunkt in seinem Leben zu sein. Eine ehrliche Prüfung ergab, daß die Aussicht auf das Wiedersehen mit seiner geliebten Freundin Daniel in tiefere Erregung versetzte, als die Aussicht auf eine baldige Ankunft seines Heilands, für alle Menschen sichtbar in den Wolken über der Erde. Das war doch die falsche Reihenfolge.

Umgekehrt hätte es sein müssen. Nicht, daß der Gedanke an sein Mädchen ihn völlig unberührt hätte lassen sollen, aber er durfte nicht mächtiger sein, als seine Hoffnung auf Jesus Christus. „Das ist verkehrt," flüsterte er. „Wenn sie mich nicht mehr liebt, werde ich ihn wieder brauchen. Aber wird er mich dann noch wollen? Muß er gar diese Liebe zerstören, weil sie droht, meinen Glauben zu überflügeln?"

Sein ganzer Schwung war mit einem Schlag abgebremst. Er setzte sich auf einen Stapel Baumstämme, die am Wegesrand auf ihren Abtransport warteten und zerpflückte einen Grashalm, den er unterwegs unbewußt mitgenommen hatte. Alle Gedanken an freundliche Ereignisse wurden von solchen belagert, die jeweils die Kehrseite aufzeigten. Je länger er diese Erde bewohnte, desto mehr Einschränkungen bestimmten seinen Weg. „Bald schon wird es besser werden." So hatte bislang seine Zukunftserwartung ausgesehen. Sie war falsch. „Es wird immer schwieriger werden." War das eine wirklichkeitsgerechtere Aussage? Andrea hatte behauptet, alles drehe sich im Kreise. Infolge dessen verliefe der Weg eines Menschen ständig auf und ab. Daniel wünschte sich im Augenblick, sein Denken abschalten zu können. Darum wechselte er den Standort, legte sich auf seine Jacke ins feuchte Gras und schlief mit etlichem Unbehagen ein.

Er erwachte, weil ihm jemand gegen die Schuhsohlen trat. Als er aufblickte, erkannte er Ferdinand. Dessen verlegenes Grinsen verriet ihm, daß für seine Wegbegleitung gesorgt sein würde.

„Nun also doch," dachte Daniel. „Vielleicht will es Gott so." Er richtete sich auf und grüßte mit einem betont vorbehaltsträchtigem „Na!?" „Ich habe keine Ruhe in Häusern," erklärte Ferdinand. „Wenn ich einmal in einem Bett zum Liegen komme, stehe ich nie

wieder auf." Er setzte sich, um ein tiefes Bücken zu vermeiden, nebenan auf die Baumstämme und ergänzte: „Noch bin ich nicht bereit abzutreten. Ich weiß, daß meine Tage gezählt sind, aber der Abschied von dieser Welt wird mir schwer." „Wie lächerlich

hochtrabend er sich ausdrückt. Ich glaub` ihm kein Wort." So oder ähnlich empfand Daniel bei diesen Sätzen. Die Reise mit Ferdinand wurde beschwerlich. Wo immer er

konnte, wies er auf sein Leiden hin, auf seine Hoffnungslosigkeit, als wollte er Daniel herausfordern, ihm zu widersprechen. Oft genug fiel der junge Mann darauf herein. Er sprach dann von seinem Glauben an Gott, von Erlösung und ewigem Leben. Schnell

stellte er fest, daß Ferdinand die bekanntesten Stellen der Bibel und etwas darüber hinaus auswendig wußte. Allein das Wissen um Gottes Erlösungsplan änderte an seinem dummen Geschwätz nichts. Wenn Daniel ihm widersprach, widersprach er ihm oftmals in dem Wissen, daß der Alte imstande wäre, sich selbst die richtige Antwort zu geben, dies aber nicht tat, um sie als Bestätigung des Gegenteils seiner Äußerung zu hören. Ferdinand sprach, um Unrecht zu haben. War das eine Form der Selbstkasteiung oder hatte er es

sich als Bußplan auferlegt? Der Herbst hatte bereits Einzug gehalten, als Daniel seine schwerste Prüfung mit dem Landstreicher erleben mußte. Um die Reisekasse etwas aufzufüllen, unterbrachen sie gelegentlich ihre Wanderung. Ferdinand konnte aufgrund seiner Gebrechlichkeit keine Arbeit verrichten. So lieferte er ihn in einer Dorfgaststätte ab, gab ihm Geld für ein bescheidenes Mittagessen und machte sich auf die Suche nach einer Gelegenheitsarbeit. Bei den Bauern fand er genug davon, jedoch erhielt er als Lohn meistens nur eine Mahlzeit oder etwas Wegzehrung. Selten wurde er mit barer Münze bezahlt, und wenn er danach verlangte, weil er auf eine Wintermütze für Ferdinand sparte, wurde er häufig davon gejagt. Besser war es da schon, Arbeit bei Kaufleuten anzunehmen. Allerdings mußten sie dazu kleinere Städte aufsuchen.

In so einer Stadt holte Daniel seinen älteren Kameraden eines abends nach mühsamer Schlepparbeit aus einer Gaststätte ab und fand ihn bis zur Besinnungslosigkeit betrunken vor. Der Wirt erzählte, daß Ferdinand noch mit einem älteren Kumpan den ganzen Tag über am Tresen gesessen und für beide eine Flasche Schnaps nach der anderen bestellt habe. Dabei sei er jedesmal zu ihm hinter den Tresen gekommen, um die Getränke zu bezahlen und zwar bar. Woher hatten der Landstreicher das Geld? War es ein Rest von

seinem ehemaligen Reichtum? Daniel hatte ihm nur einige Münzen gegeben, um das Essen zu bezahlen. An diesem Abend erfuhr er es nicht mehr. Ferdinand wachte erst am nächsten Morgen aus seinem Rausch auf. Er inszenierte dabei eine Art Sterbeszene, die jedoch nicht im Mindesten dazu geeignet war, Daniels Mitleid zu erregen. Im Gegenteil, er strafte den Alten mit Verachtung und Schweigen. Erst zwei Tage später fragte er beiläufig, woher das Geld für den Schnaps käme. Wahrheitsgemäß gestand der Gefragte: „Das Geld hat mir der Wirt gegeben, bei dem du mich abschieben wolltest. Er hatte es nicht verdient, weil ich sofort wieder aufgebrochen bin." „Das war nicht dein Geld, Ferdinand. Das hatte ich ihm doch gegeben. Warum hast du es mir vorenthalten?" Daniel bemühte sich ruhig zu bleiben. Bei der folgenden Antwort jedoch spürte er, wie er rot vor Zorn im Gesicht wurde. Der alte Mann begründete nämlich: „Weil du mich loswerden wolltest. Ich war dir lästig, nicht war. Du wolltest mich doch loswerden? Einen alten

Krüppel, der sich nicht helfen kann. Aber so leicht lasse ich mich nicht beiseite drängen." Jetzt war Daniel nicht mehr zu bremsen: „Du schäbiger Lump, du! Was kann ich dafür, wenn du dein Leben verstümmelt hast? Habe ich dir gesagt, daß du morden sollst? Du wirst dich nicht unter dem Mantel von Gottes Barmherzigkeit verstecken können. Glaub` ja nicht, daß es mir um das Geld leid tut. Leid tut es mir, daß ich nur einen Augenblick zu

hoffen gewagt hatte, dir sei zu helfen. Nicht nur ein Mörder und Ehebrecher bist du, sondern auch ein Dieb. Nicht einen Moment hat es dir je leid getan. Erbärmliche Angst vor einer gerechten Strafe hat dich so weit getrieben. Eine Bosheit hast du versucht, mit

der anderen zu decken. Was bin ich für ein Narr! Mich so zu täuschen!"

Beim letzten Satz rannte Daniel so schnell er konnte voraus. Mochte dieser Kerl sehen, wo er bliebe. Erst als er ihn beim Zurückschauen nicht mehr sehen konnte, fiel der empörte Daniel in die normale Gangart zurück. Ferdinand hatte ihm hinterher geschrien: „Warte! Du kannst mich doch nicht einfach hier stehenlassen. Ich zahle dir alles zurück!"

Dann war er in sich zusammengesunken, wie sooft vorher geübt, und jammerte, daß es ihm die Zähne gezogen hätte, falls noch welche in seinem Kiefer vorhanden gewesen wären. Hatte Daniel recht? War alles Leid, daß er empfunden hatte, nur Selbstmitleid? Das junge Mädchen, das unter seinen Händen zu Tode gekommen war... reute ihn seine Tat nicht um ihretwillen? Sie war jung, anmutig und begehrenswert gewesen. Niemand würde sich ihres Körpers mehr erfreuen können. War es nur dieser Aspekt, der ihn schmerzte oder wirklich die Angst vor Strafe?

„Vielleicht habe ich versucht, mir selbst Richter zu sein, in der Hoffnung, ich sei gnädiger als andere." Was hätte aus ihm werden können, wenn er fromme Eltern gehabt hätte, die ihm nicht Reichtum und Stärke als Grundlage für ein erfülltes Leben vermittelt hätten, sondern Liebe, Barmherzigkeit, Treue, Glaubwürdigkeit, na eben all die Ideale, von denen Fromme so ausgiebig reden? Eine Vorstellung von diesen Tugenden hatte er

wohl, wenngleich er als Liebe nur das bezeichnete, was andere ihm entgegenbringen sollten. Ebensolches galt für die anderen Ideale.

Wie hätte Gott sein Leben ändern können, wenn man seine Spenden, die er als Sühnegeld gedacht gehabt hatte, angenommen hätte. Wieviel Gutes wäre damit zu vollbringen gewesen? Menschenleben hätte man damit retten können. „Zwei töte ich, zwei rette ich." Gott ließ so nicht mit sich handeln. Die Bibel forderte für einen Mörder den Tod, weil nur Blut Blutschuld tilgen konnte. Ferdinand wollte jetzt aus tiefstem Herzensgrund sterben, hier und auf der Stelle. Aber wer sollte ihn töten? Daß doch ein Blitz ihn träfe. Wenn es nur ein schmerzloser Tod würde. Einfach hier liegenbleiben, Augen schließen, müde werden, einschlafen, nimmermehr erwachen. Hätte ihm Daniel wirklich nicht helfen können? War er so abgrundtief verkommen? Warum lebte er dann noch? Weil endgültiger Tod nicht genügend Strafe bedeutete? Gott war ein rachsüchtiger Gott, der für die kleinste Missetat Gerechtigkeit forderte. Wann galt seine Gnade und wann nicht? Daniel verlangsamte seine Schritte, als er bei diesem Gedanken verweilte. Gott vergab

Schuld. Das stand fest. Ebenso: Gott war gerecht. Um beides miteinander in Einklang zu bringen, mußte Jesus sterben und auferstehen. Weiter hatte Daniel aus der Bibel und aus Gesprächen mit Stephan erfahren, daß nur demjenigen seine Schuld vergeben werden

konnte, der Reue empfand. War aber das Empfindenkönnen von Reue nicht auch eine Gabe Gottes? So wäre dann nur der für das ewige Leben erkoren, dem Gott genügend Reue schenkte. Irgendwie biß sich die Katze in den Schwanz. Genauso unverständlich war Daniel die Herkunft des Bösen. Gott hatte alle Wesen erschaffen, auch Engel, darunter diejenigen, die von ihm abgefallen waren und durch ihre Vermessenheit

soviel Elend über die Welt gebracht hatten. Gott war somit Schöpfer des Bösen. Da er allwissend war, mußte ihm vorher der Verlauf der Geschichte bekannt gewesen sein. Also bevor er das Universum geschaffen hatte, hatte er schon gewußt, welche überragenden Bosheiten geschehen würden. Dennoch hatte er den Schöpfungsvorgang gewagt, für ihn ohne Risiko, da er den Ausgang der Geschichte kannte. Aber Ferdinand und all seine Spießgesellen kanten den Ausgang nicht. „Gott, ich kann das nicht verstehen." Wie Daniel das Wort „Gott" in den Mund nahm, schien ihn all sein Verständnis

dafür verschwunden zu sein. Vielleicht war Gott doch bloß eine Erfindung von Menschen, eine Erfindung, die sich über Jahrtausende entwickelt hat. Viele beteten andere Götter an, waren von deren Existenz ebenso überzeugt, wie er und Stephan von dem Vorhandensein Gottes. Das heißt, Daniel fand gar nicht mehr, daß er überzeugt wäre. So viele Menschen lebten ohne eine Ahnung von Glauben. Andrea sagte, alles stünde in einem logischen Zusammenhang, an dessen Anfang oder Ende nicht bedingungslos Gott zu setzen sei. Gegen ihn spräche eindeutig das Vorhandensein von sinnlosem Leid.

Sie hatte Recht.

Daniel blieb stehen. An dieser Stelle mußte er stehenbleiben. Warum sollte er weitergehen? Sein Weg war sinnlos geworden. Die Verheißung, ...ohne Flügelpaar konnte sie sich nicht erfüllen. Ein Leben zu führen, das in allen Punkten darauf ausgerichtet war, soviel Glück in so kurzer Zeit wie möglich zu erlangen, hatte er nie geübt. Jede Minute war eine Minute, die, wenn sie nicht Freude brachte, vergeudete Zeit bedeutete. Kein Leben nach dem Tod, keine ausgleichende Gerechtigkeit, keine fürsorgende Leitung, niemand, auf den man vertrauen konnte. Schnell mußte ein Meer von Illusionen gefunden werden, da nur noch Hirngespinste dem Leben Sinn verliehen. Mit unglaublicher Geschwindigkeit entstand in Daniels Gefühlswelt ein Chaos, das

immer schneller zunahm. Ehe er sich schlafen legte, versuchte er noch einmal zu beten: „Ich weiß nicht, wie ich dich ansprechen soll, auch nicht, ob du überhaupt da bist, um zuzuhören. Vielleicht rede ich nur ohne Sinn und Verstand in mich hinein. Das Sternenzelt über mir ist unendlich leer. Woher nehme ich die Kraft für den neuen Tag morgen, wenn es dich, Herrgott, nicht gibt? Was soll ich meiner Freundin bringen? Die Aussicht auf einen ewigen Tod, der einem gehetztem Ringen nach Glück folgt? Ich finde meinen Glauben nicht mehr. Du kommst mir so unwirklich vor, Gott. Aber ohne dich ist alles noch viel unglaubwürdiger. Wenn es dich gibt, mußt du es mir sagen. Wenn es dich nicht gibt, was wird dann aus Ferdinand? Er ist so abscheulich. Ohne dich graut mir noch mehr vor ihm. Ohne dich kann ich mein Leben und diese Welt nicht begreifen. Mit dir bleiben aber noch immer so viele Fragen. Wenn ich nur weinen könnte und meine Zweifel wären überwunden... Nie bin ich ein Kind gewesen, nie ein vollständiger Mensch. Und doch muß ich wie Menschen zweifeln. Es ist alles so sinnlos. Ist alles so sinnlos?"

Daniel suchte sich einen Unterschlupf in der nächsten Scheune. Er mußte jetzt für sich selber sorgen. Gott war nicht mehr. Tapferkeit und Mut würden ihn am Ende eines unruhigen Lebens genau dorthin bringen, wohin ihn auch Feigheit und Angst brächten. Merkwürdig, daß die Äußerlichkeiten dieser Welt, die Scheune, das Stroh, der Himmel, die schwarze Nacht ohne Gott genauso waren. Durch sie ließ sich die Frage nach seiner Existenz

nicht beantworten. Sie sprachen dafür wie dagegen. In sich selbst fand Daniel die Antwort aber auch nicht. Allein Gott konnte sie geben, und er gab sie. In dieser Nacht träumte Daniel, daß er wieder unterwegs wäre, ganz allein. Rechts und links der Straße wogten die reifen

Kornfelder. Vor sich und hinter sich nichts als Weg. Mit einem Mal war ihm, als hörte er Musik, zunächst ganz leise, ganz zart. Vielleicht rauschte der Wind in den Feldern. Er blieb stehen und schaute sich um. Jetzt vernahm er es ganz deutlich. Ein Meer von Tönen kam auf ihn zu, von hinten, von vorn, von den Seiten und von oben. Es war eine Musik, die ihn ausfüllte, ergriff und hinauf hob, bis sie und sein Gefühl eine vollkommene Einheit zu bilden schienen. Vor ihm auf dem Weg stand mit einem Mal eine Lichtgestalt. Eine zweite kam hinzu. Sie beide berührten den Boden nicht, schwebten darüber. Daniel begriff, daß die Musik von diesen Wesen kam, begriff, daß diese Wesen Engel Gottes waren. überall tauchten sie auf, über den Feldern, hinter ihm, und als er über sich blickte, war der Himmel übersät mit Lichtgestalten.

Ihre Anwesenheit und diese wundervolle, ergreifende Musik, erfüllten Daniel mit tiefer Geborgenheit. Diese Welt war voll von Engeln Gottes. Niemals war ein Mensch allein. Ständig umgaben ihn Engel, nicht nur einer oder zwei, sondern unübersehbare Heerscharen. Daniel hatte sie im Traum gesehen. Die Gewißheit, daß sie ihn immerzu begleiteten, nahm er mit in den neuen Tag.

Ebenso klang die Musik noch in ihm nach. Als er sich auf den Weg machte, Ferdinand zu suchen, hatte er das Gefühl, wie ein Engel zu schweben, leicht, ungehindert, innerlich vollkommen ruhig. Gott hatte ihm im Traum eine Antwort gegeben, die nicht deutlicher, nicht vollkommener und schöner sein konnte.

Nach diesem so wichtigen und einschneidenden Erlebnis des uns inzwischen vertraut gewordenen Fremdlings sei mir eine kurze Unterbrechung mit Zwischenbemerkung gestattet. Ich sehe den einen oder anderen Leser in Gedanken, wie eine Frage, die er beinahe seit Beginn der Lektüre mit sich herumschleppt, ihn unruhig macht und ein zwiespältiges Gefühl aufzwingt. „So ein goldenes Flügelpaar gibt es doch gar nicht. Das war doch bloße Phantasie. Jetzt aber lebt dieser Daniel in einer Umwelt, die alles andere als phantastisch geartet erscheint, die wir gewissermaßen in- und auswendig kennen. Wäre er mit seinen Goldflügeln geblieben, wo er war, nämlich in seiner Traumwelt, wäre uns das recht gewesen. Oder andersherum, als einen von uns, normal geboren aus dem Leib einer Frau, hätten wir ihn auch akzeptiert. So aber, als Zwittergestalt aus Traum und Wirklichkeit macht er uns reichlich zu schaffen."

Und jetzt die eigentliche Frage: „Wie soll er denn nun von dieser Erde wieder fort gelangen? In seiner Phantasiewelt hätte es da wohl keine Probleme gegeben. Aus purer Geisteskraft und menschlicher Güte wäre ihm ein Vehikel zuteil geworden, das den

Eigenschaften des nun schon vielfach erwähnten Flügelpaares in nichts nachgestanden hätte. Ja, und damit wäre er davon gerauscht diese ebenfalls reichlich beschriebene Honigkuchenwelt. Aber jetzt auf unserem Planeten in unserer Wirklichkeit muß er sich

auf hiesige Möglichkeiten beschränken. Und daran, daß er wie unsereiner geworden ist, also daran besteht ja wohl kein Zweifel. Nun bitte, wie soll es da herausgehen?"

Soweit der imaginäre Einwand meines imaginären Lesers.

Wenn man eine Frage nicht so leicht beantworten kann oder will, bietet sich als beste Ausweichmöglichkeit eine Gegenfrage. An, und wie mag die heißen ? Vielleicht: Wie möchte denn der werte Leser aus dieser Welt wieder heraus gelangen ? Möchte er vielleicht gar nicht ? Fühlt sich so wohl darin, daß keine Wünsche offenbleiben? Nicht doch. Zaghaft höre ich da: „Der normale Weg aus der Welt ist wohl der Tod." Aber: Nichts genaues weiß man. Und mit unserer Herkunft ist es ähnlich. Also wie bei Daniel.

Der ist auch irgendwann einmal auf unverständliche Weise angekommen. Und wie er wieder fortkommen soll, bedarf der gleichen Mühe an Überlegung wie unser eigenes Fortkommen. Wundert es da, daß er mit Glaubensdingen in Berührung kommt? Ich weiß, dem gescheiten Leser hätte ich es gar nicht sagen müssen. Aber seid so gut und übt Nachsicht mit mir und den etwas schwerfälligeren Gemütern. Ein Stückchen auf seiner Reise laßt uns Daniel noch begleiten. Schalten wir uns da wieder ein, wo wir ihn kurz verlassen hatten.

Auf dem Weg zurück zu Ferdinand. Nach dieser Nacht mit dem unvergleichlichen Traum, der auf so eindrucksvolle Weise Gottes Fürsorge in Erinnerung gerufen hatte, war Daniel erfüllt von Hochgefühl. Soviel Liebe, soviel Schutz und Hilfe brauchten einen Kanal, der sie weiterleitete zu den Menschen. Er wollte Kanal sein jetzt, damit Gottes Freundlichkeit weiterleiten konnte. Also hin zu Ferdinand, dem nächsten Blitzableiter.

Warm und heiß wurde es in seiner Brust bei der Vorstellung, was er dem Alten zugute kommen lassen wollte. „Und wenn ich ihn tragen muß, und wenn er mich verflucht, betrügt oder was immer mit mir anstellt, ich weiche nicht mehr von seiner Seite,

bis ich ihn gerettet weiß." Soweit Daniels Flamme im Herzen.

Tatsächlich fand er den alten Streuner beinahe an der Stelle wieder, an der er ihn verlassen hatte. Es ging auf die Mittagszeit zu, und ein Magenknurren hatte Ferdinand aus den üblichen Alpträumen gerissen. Nun stapfte er einem Dorfe entgegen, wo durch Bettelei oder Mundraub der Bauch schon zu füllen sein würde. Nicht schlecht staunte er, als ihm Daniel begegnete. Diesmal war er nämlich davon überzeugt gewesen, seinen Helfer in der Not endgültig vergrault zu haben.

„Um so besser, dann laß ich mich halt wieder füttern", waren seine Gedanken, die ihm ein schamloses Grinsen ins Gesicht schrieben. Daniel, der sich das Wiedersehen mit herzlicher Umarmung ausgemalt hatte, merkte, wie die Euphorie in ihm schwand. So

schlug er dem Alten nur leicht gegen den Arm und murmelte: „An komm` schon" Von da an war es wieder Mühe mit Ferdinand. Sobald der durch Daniels Verdienst gesättigt war, überkam ihn die übliche Trägheit, die seinen Beschützer gereizt ausrufen ließ: „Na los doch, du alter Herumtreiber, wir haben ein Ziel. Ich möchte in diesem Winter nicht irgendwo fest frieren. Ohne dich wäre ich lange da. Meine Güte, was ist denn nun schon wieder?" Das ganze schöne Hochgefühl war dahin. Kaum einen halben Tag hatte es gewährt.

Dieser Ferdinand war aber auch wirklich zum Davonlaufen. „Einen Stein im Schuh," jammerte er. „Nur einen Moment," und ließ sich ins Gras am Wegesrand sinken. „Ah, tut das gut, einen Augenblick nur. Ich bin gleich soweit." Und umständlich schnürte er mit steifen Fingern den rechten Schuh auf. Daniel war stehen geblieben, um der Unterbrechung nicht den Anschein einer Rast zu geben. Schrecklich, diese giftige, verzehrende Ungeduld, die an ihm fraß. Alle Freude hatte sie bereits verdrängt. Wo am Morgen noch die Liebe gestürmt hatte mit ihrem Gefühl, saß jetzt der Ekel dick und schwer, ein richtiger Klumpen. Aber was half` s?

Nun, da Ferdinand einmal saß, trachtete er danach, die Pause so lange wie möglich auszudehnen. Seine Socken, die bei dieser Gelegenheit zum Vorschein kamen - er hatte nun beide Stiefel ausgezogen - ließen durch großzügige Löcher einen Blick auf schweiß-

und schmutzgetränkte Zehen zu, die eine Duftwolke verbreiteten, deren auch der zunehmende Herbstwind nicht sobald Herr wurde. Daniel stand immer noch, inzwischen, mit steilen Falten über der Nase und rang sichtbar nach Beherrschung. „Ich kenne ihn doch," sagte er sich. „Als ich mich entschlossen habe, ihn mitzuschleppen, war mir doch klar, was es mich an Geduld, Mühe und Zeit kosten würde. Oh, lieber Gott, ich dachte, daß ich sie von dir bekäme, die Geduld. Von vornherein habe ich es doch nur unter der

Voraussetzung getan, daß du mir hilfst. Aber diese Ungeduld ist alles andere als Hilfe."

Wie kam es dazu? Daniels Ziel war seine Freundin. Sie war der Inbegriff höchster Freude und Lust. Würde er erst bei ihr sein, bräche ein neues Leben an. Nie hatte er vergessen können, wie berauschend die ersten Stunden und Tage ihrer Zärtlichkeit gewesen waren. Nun war es unserem Freund aber durchaus bewußt, daß es nicht zwangsläufig beim Wiedersehen mit ihr zu neuer Liebe kommen mußte. Gott allein war Liebe. Nur mit seinem Segen würden sie beide glücklich werden können. Aber Gott erwartete doch auch

etwas. Nämlich, daß er sich des Schwachen annähme und Nächstenliebe übte. So war Daniel also der Ansicht, Gott würde ihm Liebe schenken, wenn er Liebe übte; vornehmlich an Menschen, die durch ihr Erscheinungsbild nicht allerorts Sympathie auf sich zogen.

Ferdinand sollte ihm demnach als Verdienstmöglichkeit und Prüfstein gelten. Zu diesem Zeitpunkt war sich Daniel nicht im Klaren über diese Zusammenhänge. Er fühlte es nur irgendwie und verstand nicht, warum es ihm so schwer wurde. Sein Herz gehörte zu allererst seiner Freundin, danach Gott und danach durch dessen Liebe allen Schwachen und Bedürftigen. Es soll ihm das nicht zum Vorwurf gemacht werden. Sein Empfinden war so, und er hätte es von sich aus nicht ändern können. Das nur als Erklärung, falls Fragen auftauchen, woher ausgerechnet nur wieder diese erschwerende Ungeduld kam.

Irgendwann ging es dann doch weiter. Ferdinand trug nichts, als seine Kleider, die er auf dem Leibe hatte. Daniel war mit allerlei nützlichen Gegenständen bepackt, wie zum Beispiel Eßgeschirr, eine Decke, sogar ein scharfes Messer trug er bei sich, das durchaus zum Zwecke der Selbstverteidigung gedacht war. Nicht so leicht würde er sich wieder überrumpeln lassen, wie seinerzeit geschehen mit Stephan. Ach ja, Stephan. Schon machte es Mühe, sich sein Gesicht vor das geistige Auge zurückzurufen.

Übrigens auch das Gesicht der Freundin war verschleiert. Wenn er an den Kameraden dachte, dann immer in Zusammenhang mit dessen Funktion als Vorbild und Lehrer für ihn. Stephan, der Reine, der Wohlüberlegende, geduldige und verständnisvolle Kamerad. An seinem Beispiel wollte sich Daniel orientieren, wenn er sich des Alten annahm. Vor diesem Stephan wollte sein Gewissen bestehen können, wenn es schon vor Gott völlige Unfähigkeit bekennen mußte. Wenigstens vor dem Stephan seines geistigen Auges wollte er den Anschein von Geduld mit Ferdinand bewahren.

Solange sie auf den Beinen waren, gab es kaum Gespräche. Schuld daran war die Kurzatmigkeit des Vagabunden. Als sie aber für die Nacht ein trockenes Plätzchen in einer unverschlossenen Scheune gefunden hatten, meinte Ferdinand, etwas aus sich herausgehen zu müssen, um seinerseits dem Kameraden einen Anreiz zu weiterer Hilfeleistung zu bieten. Etwa folgendermaßen sah solch ein Gespräch aus: „Verdammt, verdammt, verdammt!" Es läßt sich denken, wer so die Rede eröffnete. „Wieder die alten müden Knochen ausruhen dürfen. Du hast ja keine Ahnung, was Schmerzen sind.

Wenn man in meinem Alter noch täglich unterwegs sein muß. Und wozu. Häh, wozu, frage ich dich?" „Na, wozu denn?" forschte Daniel, dessen Stimmung sich ein wenig gebessert hatte. „Du hast gut Reden. Hüpfst herum wie ein junger Frosch. Aber sei mal nicht so sicher, daß in ein paar Jahren nicht auch deine Knochen schmerzen werden." „Ferdinand," begann der andere, du hast mir selber einmal erzählt, warum du immer unterwegs sein mußt, was dich treibt, meine ich. Dein Gewissen und so. Also wirklich, wenn ich das bedenke, was du getan hast, und eigentlich immer noch tust, dann

wundert` s mich nicht, daß du keine Ruhe findest. Dein ganzes Wesen ist so, naja, so unstet. Unstet und flüchtig sollst du sein, hat Gott zu Kain gesagt, als der seinen Bruder erschlagen hatte."

„Ach, geh `mir doch mit deinem lieben Gott weg," unterbrach ihn Ferdinand. „Was soll das denn? Kann der Kain was für sein Temperament? Kann er was dazu, wenn dieser Gott Abels Opfer gnädig ansieht und seines nicht? Ich möchte den sehen, der da nicht eifersüchtig wird bei so einer Ungerechtigkeit. Überhaupt hat doch Gott beide gemacht. Warum hätte er sie nicht gleichfromm machen können. Dann wäre das Unglück doch gar nicht passiert."

„Moment mal, mein Freund. So leicht kannst du` s dir nicht machen. Gott ist zu Kain gegangen und hat ihn gewarnt, bevor das alles losging. Er soll über die Sünde herrschen, die nach ihm Verlangen hat, hat er ihm gesagt. Also muß es doch Kain möglich gewesen sein, sich zu beherrschen. Aber was tut er? Geht hin und erschlägt seinen Bruder. Als ob damit etwas zu ändern gewesen wäre. Im Gegenteil, jetzt ging das Unglück erst richtig los. Das Beherrschen wäre eine Kleinigkeit gewesen. Und Gott hätte ihm dabei geholfen. Aber selbst nachher ist Gott noch bereit zu beschützen . Du siehst ja, ein Zeichen hat er ihm gemacht, damit ihn niemand erschlüge. Und sogar Vergeltung hat er für den Fall

angedroht, daß es doch jemand tut. Nein, mein lieber, da kannst du Gott keinen Vorwurf machen. Da kannst du nur staunen über soviel Nachsicht und Verständnis."

Daniel hatte sich warmgeredet, und Ferdinand merkte wohl, daß er jetzt besser einlenkte. Also versuchte er es wieder auf die Mitleidstour: „Na gut, Gott kann man keinen Vorwurf machen. Er ist allezeit gerecht, gut, gut. Aber glaubst du denn, ich hätte

von jeher nur Böses im Sinn gehabt? Oder ist es böse, wenn man ein angenehmes Leben haben will. Wer hat uns denn geschaffen, daß wir schönes empfinden können. Wer hat uns unsere Gefühle gegeben? Warum gefiel mir ein stolzes Schiff mit windgeblähten Segeln bei voller Fahrt? Hab` ich mich selber gemacht. Wer hat das Mädchen

geschaffen, daß meine Sinne so sehr betört hat? Zum wahnsinnig werden. Wollte nicht auch ich diesem Mädchen Gutes tun bis es schreit vor Glück? Was kann ich dafür, wenn sie mich mißverstanden hat. Ich wollte doch nur das, was mir Gott gegeben hat zum Glücklichsein nutzen. Das muß man aber auch mal sehen, wenn man sich anschickt, Urteile zu fällen."

Eine kurze Pause entstand, weil Daniel nicht sogleich wußte, was und ob überhaupt er antworten sollte. Dann aber sprach er: „Wer will dich verurteilen. Hast du nicht selber gesagt, daß niemand dich hat richten wollen, obwohl du sogar danach verlangt hast? Nach Gerechtigkeit hat es dich doch verlangt, Ferdinand, vielleicht nach Strafe, damit du abbüßen kannst. Niemand als du selbst, als dein eigenes Gewissen, hat dich bestraft. Und das auch nur, um die Schuld loszuwerden. Aber einen Menschen macht man nicht durch Buße wieder lebendig. Das kann nur Gott oder Jesus am Auferstehungstag. Und er kann dich obendrein von deinem Schuldgefühl befreien, wenn du aufrichtig bereust. Aber das weiß ich manchmal bei dir nicht. Bereust du wirklich aufrichtig, oder tust du dir nur selber leid?"

Daniel hatte neben dem Alten sitzend gegen die Wand gesprochen. Jetzt, als er sich nach ihm umdrehte, merkte er, daß der Mann in sich zusammengesunken war und wie ein trauriges Kind still vor sich hin weinte. Es war beinahe lustig anzusehen, wie

die Tränen in den Bart liefen und sich darin verfingen. War das nun Sentimentalität und Selbstmitleid oder echte Reue? Daniel konnte es nicht ausmachen. Aber behandeln wollte er ihn, als sei es Reue. „Na also, laß es gut sein, mein Alter. Gehen wir schlafen. Gute Nacht. Gott behüte dich."

Und wenn Ferdinand nun wieder dachte: „Du armer Idiot, mit deinem Gott. Aber glaub` nur dran, damit mir` s prima geht." Wie peinlich, dieser Gedanke. „Ach, kann ich denn selber nicht mehr arglos sein?" Mit diesen Gedanken schlief Daniel ein.

Von einer Gewohnheit Daniels ist hier noch nicht die Rede gewesen. Sie würde auch keine Erwähnung finden, weil zu unwichtig oder profan, wenn es nicht die Begründung lieferte, wie es dazu kam, daß er diese Nacht eine Weile wach lag. Die Gewohnheit war, daß er jede Nacht irgendwann aufwachte mit dem Drang, die Toilette aufzusuchen, wenn so etwas nicht da war, eben einen anderen stillen Ort. Es soll nicht untersucht werden, ob dem eine organische oder psychische Störung zugrunde lag. Das ist anderer Leute Beruf. Tatsache ist, daß er beinahe jede Nacht aufstand, weil ihn ein Bedürfnis drängte. Als er wieder neben Ferdinand lag, konnte er nicht mehr einschlafen, so viele Geräusche gab der

von sich. Was war das für ein Schniefen, Stöhnen und Schnarchen und immer wieder zwischendurch ein japsendes Luftholen. Alles Bemühen um Weghören und Weiterschlafen mißlang. Im Gegenteil, das Geschnarche und Geröchele schien alle Achtung auf sich bannen zu wollen. Mehrmaliges Anstoßen und Ansprechen des Kameraden blieben erfolglos. So mußte sich Daniel in seine Schlaflosigkeit fügen

und hing seinen Nachtgedanken nach.

Es waren echte Nachtgedanken, wie sie am Tag kaum aufkommen. Nicht mehr lange und er würde bei seiner Freundin sein. Und dann wäre der Mensch neben ihm ein Mädchen mit schlankem Körper und zarten Gliedern. Es würde lautlos schlafen mit reinem

Antlitz und sanfter Haut. Daniel reckte sich und spürte die Spannungen weichen, die solche Vorstellung bei ihm bewirkte. Viel besser freilich wäre es, jetzt auf der Stelle solch ein Wesen, so einen Körper ganz fest umarmen zu können, seine Wärme zu spüren,

seinen Atem. Sie würde aufwachen und selig vor Glück ihre Arme um seinen Hals schlingen, ihn fester an sich ziehen. „Ja du liebstes Wesen, wir gehören einander ganz." Kein Wort wäre nötig, um das zu sagen, nur Gefühl. Dieses Gefühl erfüllte Daniel in seiner nächtlichen Einsamkeit, aber dann von Verzweiflung verdrängt, weil es kein Ventil gab." Da liegt einer neben mir. Allein der Gedanke, ihn zu berühren widert, mich an. Und hat er vielleicht anders geträumt als ich? Waren es wirklich nur Sehnsucht und

überschwengliches Gefühl, die ihn zu zwei Morden trieben? Nein, nicht so denken, jetzt nicht."

Es war Nacht, und Daniel sehnte sich trotz aller Erfahrung, die sein Verstand machen konnte. Aber eben: sein Verstand, was wußte sein Gefühl davon? „Du aber herrsche über sie!" Oh, lieber Gott, wie soll ich so ein Gefühl beherrschen, es gar unterdrücken? Nein, wirklich, heißt herrschen unterdrücken? Nicht doch. Beherrschen heißt: in rechter Weise damit umgehen, in von Gott gezeigter Weise. Nur so und nicht anders ist es zu verstehen, daß wir Gefühle empfinden dürfen, wenn der Verstand sie in die rechte Bahn lenkt. Darum kann ich denken, während ich gleichzeitig fühle." Und mit wahrer Begeisterung trug er seinem Gehirn auf, sich das Wiedersehen mit dem Mädchen seiner ersten Liebe vorzustellen.

Wo würde es stattfinden? Im Wald wo man den Weg hinab zum Dorf geht? Oder am See, der die untergehende Sonne widerspiegelt? Ein Blick von weitem, Erkennen, drauf strahlendes Lachen, ihre weißblitzenden Zähne, sie fängt an zu laufen, ihm entgegen.

Er auch, auf sie zu mit ausgebreiteten Armen. Und dann umfängt er sie und dreht sich mit ihr, während er sie hochhebt und sie die Beine anzieht. Bis sie beide schwindelig sind und sich taumelig ins ins Gras fallen lassen. Er liegt über ihr und blickt ihr in die Augen, die unergründlich tief glänzen, so strahlend, so ebenmäßig und zart. Tiefe Stille wird um sie sein und endlich Frieden, unendlich Frieden.

So war Daniel doch wieder eingeschlafen, mit Ungeduld zwar, aber auch mit großer Vorfreude. Und wie gesagt, es waren Nachtgedanken, er war müde und sehnte sich. Man wird es ihm nachsehen.

Ein Aufwachen im Stroh, das mit allen Enden und Ecken sticht und jucken verursacht, begleitet von einem mittelschweren Hustenanfall Ferdinands in einer Luft, die zu atmen nicht mehr viel Sinn ergibt, weil zum Schneiden dick und muffig, erzeugt eine

Stimmung, die für den Beginn eines neuen Tages nicht förderlich scheint. Liegenbleiben geht nur unter Erstickungsgefahr, Aufstehen ist mit Kälte und Schwindelgefühl verbunden. Wer morgens so eine Wahl zu treffen hat, ist wahrhaft zu bedauern. Wenn aber der Anfang gemacht ist, zum Beispiel mit dem rechten Bein, oder um ein anderes Beispiel zu nennen, mit dem linken, dann geht es immer flotter. Jetzt folgen all die Bedürfnisse, welche, weil wieder mit Kälte verbunden, als unangenehm registriert werden. Und dann kommt der Hunger. Aber da liegt doch der Faulpelz immer noch auf dem Stroh und meint vor Husterei keine anderen Pflichten kennen zu müssen.

„Los, Ferdinand," mit kratziger Stimme. „Wenn das Reden nur nicht so schwer wäre. Würde ich dem Beine machen. Aber was soll` s ? Wie hältst du das in dieser Luft nur aus?" Und der Alte: „Wesentlich besser, wenn du das Tor zumachst. Ich hole mir

ja den Tod in der Kälte." Soweit der Morgennebel den Blick freiließ, waren Blätter und Gräser mit dem ersten Rauhreif dieses Herbstes überzogen. Ferdinands Morgentoilette kann nicht beschrieben werden , weil sie nicht stattfand; ein Umstand, der hilft, die Luftqualität zu verstehen. Daniel machte sich auf Wassersuche. Er fand einen Bachlauf nicht weit von der Scheune. Danach ein Feuer im Windschatten, um das Wasser zu erhitzen. Die notwendigen Frühstücksutensilien aus der Vorratstasche. Was mag es gegeben haben? Brot mit Butter, vielleicht ein Rührei. Wer weiß ? Ob Daniel rohe Eier mit sich geführt hat ? Zuzutrauen wär` s ihm.

Nach dem ersten Essen des Tages und nachdem sich somit die Stimmung etwas gebessert hatte, erfuhr Ferdinand: „Es tut mir zwar leid um die kostbaren Stunden, aber ich denke, zu deinem Wohl werde ich sie opfern. Wir werden dich großreinemachen. Keine

Widerrede. Beim nächsten Brunnen bist du fällig." Als er begriffen hatte, was mit ihm geschehen sollte, ersparte er sich die Antwort in gesprochener Form. Statt dessen ließ er ein Hustkonzert ertönen, das seinesgleichen suchte. Wirkung jedoch zeigte es keine, oder nur insofern, als die Umstände der Reinigungsaktion humaner ausfielen, als erwartet. Das aber war allein das Verdienst einer gutherzigen Bäuerin, die eine Wanne zur Verfügung stellte und Heißwasser bereitete. Ja, der Ferdinand hatte schon ein Glück. Nicht, daß er dies mit Anerkennung vermerkt hätte. Das Theater, das er dabei veranstaltete, wäre am kalte Ziehbrunnen nicht eindrucksvoller gewesen. Daniel mußte ihm förmlich Gewalt

antun. Und auch das hätte nichts genützt, wäre nicht obendrein noch eine List hinzugekommen. Das ging folgendermaßen vonstatten: Wie gewohnt hatten sie einen Bauernhof aufgesucht, um frische Lebensmittel aufzunehmen. Daniel, der die Verhandlung mit der Bäuerin führte, während Ferdinand abseits stand, vertraute sich ihr

hinsichtlich seines Vorhabens an. Die Gute erklärte: „Nein, das können wir doch nicht machen mit dem armen, alten Mann. Ich werde ihm ein Bad richten, das ihm obendrein seine Knochen etwas aufwärmt bei dem Wetter heute. Der Winter wird ja nicht mehr lange auf sich warten lassen." „Hörst du, Ferdinand, du kannst baden hier." Das hätte er besser nicht gesagt, denn nun verschwand der Angeredete ganz unauffällig.

Erst als eine Einladung zum Mittagessen ausgesprochen wurde, tauchte er wieder auf. Daniel war es inzwischen heiß geworden beim Holzhacken. Ferdinand war es inzwischen auch heiß geworden beim Knecht. Der hatte ihn nämlich um eine Begutachtung seines Wachholdergeistes gebeten. Nach etlichen Anläufen erst hatte das Gutachten ausgestellt werden können. Man will ja kein voreiliges Urteil abgeben. In der Wohnstube, wo die

Mahlzeit eingenommen werden sollte, war es reichlich warm. „So lege doch deinen Mantel ab. Und die Jacke auch, ja. Die schmutzigen Schuhe stelle bitte vor die Tür. Warte, ich mache das schon." Ferdinand war zu sehr von seinem Gutachten eingenommen, um irgendwelches Mißtrauen zu hegen. Bereitwillig ließ er sich

Bequemlichkeit verschaffen. Und da saß er nun, des Behagens voll auf dem stolzesten Platz des Hauses. Sogar ein weißes Tischtuch wurde aufgelegt. Was das wohl sollte? „Willst du dir nicht die Hände waschen, Ferdi ? Gleich nebenan ist die Waschstube. Du

wirst doch unserer freundlichen Gastgeberin nicht deine schmutzigen Finger zumuten wollen !" Unter Geächse erhob sich der Alte von seinem weichen Platz und mühte sich in das gewiesene Zimmer. Dort wurde er allerdings beinahe wieder nüchtern, sobald er das dampfende Wasser erblickt hatte. Mit dem Gedanken: „Das ist Verrat," wollte er umkehren. Doch da stand schon wer und versperrte den Fluchtweg. „ Komm` Ferdinand, sei vernünftig. So ein Bad wird dir nicht schaden. Und so schön warm." Nein, vernünftig

wollte er nicht sein. Das stand völlig im Gegensatz zu der Panik, die ihn ergriffen hatte. Wer sich erinnert, frühere Zeiten hatten den Streuner als Seefahrer gesehen. Bekanntlich können viele Seeleute nicht schwimmen und verabscheuen somit das Wasser. Um nun

noch zu einem halbwegs zufriedenstellenden Ergebnis zu gelangen, rutschte Ferdinand während des Handgemenges aus in dem engen Raum und fiel rücklings in die Wanne, freilich mit all den noch am Leibe befindlichen Kleidungsstücken. Knecht und Bäuerin eilten auf sein Hilfegeschrei hin herzu, doch nicht, um in seinem Sinne zu reagieren. Ehe er sich versah, hatten die robusten Leute ihn von den hinderlichen Fetzen befreit. Während die Bäuerin taktvoll den Raum verließ, waren der Knecht und Daniel schon an der Arbeit. Mit Seife und Bürste ging es dem Schmutz zu Leibe und dem Ferdinand an denselbigen. Der wehrte sich nun nicht mehr ob solch heimtückischer Übermacht, aber es fehlte nicht viel, und er hätte wieder zu weinen begonnen. Warmes Wasser, ein weithin als angenehm empfundenes Element, hier wurde es Anlaß zu tiefster Betrübnis.

Es bleibt noch nachzutragen, daß das Mittagessen hervorragend war und Ferdinand allen ein wenig fremd vorkam in seiner ungewohnten Sauberkeit. Ja, sogar frische Kleidung hatte er geerbt. Nun mußte er sich endgültig versöhnt zeigen.

Am frühen Nachmittag kehrte der Bauer aus der Stadt heim, wo Markttag gewesen war. Daniels Hilfe beim Abladen der unveräußerten Ware war willkommen. Der Bauer, selbst noch jung, nannte ein erst dreijähriges Töchterchen sein eigen. Dreijährig und überall im Weg mit langen, blonden Haaren. „Heb` mich da rauf," bettelte sie. „Fang` mich auf," lautete das nächste Kommando. „Krieg mich," das dritte. Es war schon eine Last, soviel

zu heben und zu schleppen. Nur das Kind, das ferderleicht auf den Schultern thronte, trug sich ohne Mühe. Und die vielen Fragen.

„Warum bist du so groß?" „Wo kommst du her?" „Ißt dein Papi auch gern Radieschen?" Kinderleichte Fragen, nicht eine konnte Daniel beantworten. Aber das war nun gar nicht so schlimm. Dem Verstehen tat das keinen Abbruch.

Ferdinand war nach dem Essen übrigens eingeschlafen. Ein warmes Bad macht bekanntlich müde und ein warmes Essen auch. Die Bäuerin gehörte zu den Menschen, die glücklich sind, wenn ihre Kinder dick, rund, satt und zufrieden ausschauen, wobei es keine Rolle spielt, wie alt diese Kinder sind und wem sie gehören.

Das Holz, das am Vormittag gehackt worden war, mußte aufgestapelt werden und erinnerte Daniel an seine Tätigkeit beim Tischler, damals mit Stephan. Hier war es nur Brennholz als Wintervorrat, aber die umgebende junge Weiblichkeit zeigte sich nicht

minder reizvoll und kokett. „Wenn du mich fängst, darfst du heute nacht bei uns schlafen." War das ein Angebot? Fünfzehn Jahre später hätte es Daniel wahrscheinlich zu Höchstleistungen angespornt. Heute war es keine Mühe, das Mädel zu fangen, obwohl Daniel nicht vorhatte, die Nacht über zu bleiben. Das Bad allerdings verpflichtete zu einer Gegenleistung, und Ferdinand schlief ohnedies. Schnell wurde es Abend.

Lustig war es gewesen den Nachmittag über. Lustig sollte auch der Abend werden. Ferdinand zeigte sich bestens ausgeruht. Nach dem Abendessen, das er mit erstaunlichem Appetit verschlungen hatte, kamen ihm Zweifel an der Güte des bereits erwähnten Wacholderschnapses. Eine nochmalige Prüfung schien ihm angezeigt. Der Bauer, der von seinem Badeerlebnis mit Genuß vernommen hatte und bester Stimmung war, ordnete

an: „Dann prüfen wir aber alle, damit keine Zweifel bleiben, versteht sich. Los, bring schon deinen Schnaps her." Dem Knecht wurde etwas bange, denn er ahnte zu Recht, daß sein Erzeugnis jede Prüfung bestehen würde.

Nicht lange danach fanden sich alle in gemütlicher Runde, pardon, eine Ausnahme, die aufgrund ihres zarten Alters schon im Bett lag. Eine zweite Ausnahme wollte Daniel machen. Doch der Knecht versprach ihm, er würde das als Beleidigung werten müssen,

und so blieb es bei einer Ausnahme. Ja, Daniel trank Schnaps. Was

ist schon so eigenartig daran? Er schmeckte würzig, und warm wurde einem im Bauch davon. überhaupt, in dieser lustigen Gesellschaft, wer will sich da ausschließen? Ferdinand brüstete sich nun mit seiner Heldentat vom Vormittag. Darauf erinnerte sich der Bauer: „Als ich den Hof von meinen Eltern übernahm, lebte mein Vetter noch bei uns im Dorf. Mein Onkel war auf seinen Bruder nie gut zu sprechen gewesen, weil der als Ältester den Hof bekam, während er sich mit einer Auszahlung begnügen mußte, die ihm als viel zu gering erschien. Wir Kinder hatten uns deshalb von jeher schon nicht leiden Können und versuchten das bei jeder Gelegenheit zu zeigen. Mein Vetter hatte Kastanienschalen in die Viehtränke gelegt, um die Rinder beim Trinken zu verletzen. Wir haben da nicht jeden Tag nachgeschaut. Nur irgendwann ist uns aufgefallen, daß die Tiere muhten und muhten, weil sie Durst hatten, aber nicht an die Tränke gingen. Wie ich da also nachsehe, ob mit dem Wasser was nicht in Ordnung ist, sehe ich doch, was da

drin liegt. Na, dachte ich, das gibt Rache, mein Freund. Am nächsten Badetag hatte ich mich bei meinem Onkel in der Wasch Küche versteckt und wartete, bis er und meine Tante aus der Wanne waren. Mein Vetter benutzte immer dasselbe Wasser. Nur ein Eimer

voll Heißes kam noch dazu. Wenn zwei Leute in einer Brühe gebadet haben, kann man nicht mehr auf den Grund sehen. Also rein mit den frischgesammelten Kastanien, noch in Schale, versteht sich. Und da kam auch schon mein Vetter mit dem Eimer Heißwasser, noch ehe ich mein Versteck wieder erreicht hatte. Wir standen uns gegenber, er vollkommen nackt. Ich etwas betreten. `Willst denn du hier?` Angriff ist die beste Verteidigung, und weil mir im Moment nichts anderes einfiel, beschuldigte ich ihn wegen der Sache mit den Kastanienschalen. Er grinste nur und fauchte mich an: `Mach`,

daß du fortkommst. So ging die Schubserei los. Der Waschküchenboden war schon etwas feucht, und eh` er sich versah, rutschte mein guter Vetter, plumps, in die Wanne. Das ging so schnell, daß er kein Wort rauskriegte. Und dann der Schrei, kann ich euch sagen. Er wieder auf, und ratet mal, was in seinem hübschen Hinterteil steckt. Na ? Ich kann euch nicht sagen, was ich da gelacht habe. Als mein Onkel kam, ist er fast auf den Hintern gekippt, wegen der seltsamen Dekoration. `Euch werde ich die Wannenspiele

austreiben,.`hat er gebrüllt. Was muß der gedacht haben?"

Um sich das Lachkonzert vorstellen zu können, das diese kleine Erzählung zur Folge hatte, muß man wohl Wacholdergeist kennen. Selbstgebrauten, versteht sich. Tränen haben sie gelacht. Und nun wollte auch Daniel in nichts mehr nachstehen. Er begann mit der Geschichte beim Tischler, wie Stephan mit Kerstin in der ersten Nacht am Kachelofen gesessen hatte, schmückte sie mit allerlei lustigen Peinlichkeiten aus, kam dann zu dem Wassereimer, den Kerstins Bruder den beiden beim Küssen über die Köpfe

gekippt hatte und endete mit erfundenen Unartigkeiten, die die Zwei angeblich im Wald begangen haben sollen. Bei genauerer Betrachtung waren es keine abnormen Geschiche über Stephan und Kerstin. Er hätte alles geschehen sein können, ohne Anlaß zu Empörung zu geben. Allein wie Daniel darüber erzählte, gab den Ausschlag zu Heiterkeit und berechtigt den Unbeteiligten zu einigem Verwundern. Nicht eine Flasche hatten sie geleert, sondern einen ganzen Krug.

Wie es ist, wenn man doppelt sieht, erfuhr der Protz, als der Höhepunkt des Abends bereits leicht überschritten war. Und welches übel im Bauch so ein Schnaps anrichten kann, gewahrte er mit völlig umnebelten Sinnen. Nur wie er ins Bett kam, erfuhr er

nicht mehr. Ferdinand ging es da vergleichsweise gut. Auch bei ihm löste das Gesöff die Zunge, machte ihm lärmen und höhnen. Aber damit stach er in dieser Runde nicht besonders hervor.

Der Morgen kam mit bösen Träumen, peinlichem Erwachen, schmerzendem Kopf und bösen Blicken. Die Erinnerung war beinahe noch unangenehmer. Was hatte er da nur alles erzählt? Von Stephan, seinem besten Freund. Mißbraucht für billige Lacheffekte.

Daniel wäre am liebsten in den Boden gesunken, als die Bäuerin auf Ferdinands Frage nach Frühstück antwortete: „Ich glaube ihr beide macht jetzt besser, daß ihr davonkommt." Ja, das machten sie, wortlos, ohne sich vom Bauern oder seinem süßen Töchterchen verabschiedet zu haben. Die Kopfschmerzen, noch immer Übelkeit,

das war doch gar nichts neben der Scham, die er empfand. Das sollte jetzt Ferdinand aber zu spüren kriegen. Nicht ein Wort vergönnte er ihm. Der Verlust eines Tages mußte eingeholt werden. Sollte der Säufer doch mal zeigen, wie schnell er rennen kann. Er zeigte und er konnte, weil er mußte.

Wenn nach einer derartigen Erfahrung mit der Unberechenbarkeit des eigenen Verhaltens die Sonne für strahlendes Wetter sorgt, dann mag das schon mal als himmlische Unverschämtheit empfunden werden. Daniel war böse mit sich, weil er sich vor dem

Stephan seines eigenen Ichs völlig bloßgestellt hatte. Darum nützte ihm Ferdinand als Aushängeschild seiner Gutartigkeit jetzt nichts mehr. „Ich bin ein widerlicher Kerl, und es hat keinen Zweck, wenn ich mich weiterhin selbst betröge. Ferdinand habe ich

nur mitgeschleppt, um was zum Vorzeigen zu haben. Im Grunde meines Herzens ist es mir doch völlig gleichgültig, was mit dem Alten passiert. Warum heuchle ich also noch? Ich bin schlecht. Sollen es die Leute ruhig sehen. Was willst du noch von mir, lieber

Gott? Vergiß mich! Du siehst doch, ich tauge nichts. Und wenn du mich zwingst, dann werde ich wohl immer wieder heucheln, aber an meinem Kern ändert das nichts." Gott sagte darauf nichts, jedenfalls nichts, was Daniel gehört hätte, aber die Sonne schien und

verwandelte den hohen Herbstwald in einen Palast mit vergoldetem Gewölbe. Wenn es doch nur regnen würde, oder noch besser wäre ein Gewitter. Ferdinand humpelte, stolperte und hastete hinterdrein.

„Nicht mal so' n kleinen können die ab, die frommen Leute. Und unsereiner muß es ausbaden. Mir vom lieben Gott erzählen und Nächstenliebe mit all dem Unfug und sich dann so aufführen. Eigentlich ein Jammer. Fast hätte ich geglaubt, daß es noch anständige Menschen gibt. Aber der da ist offenbar doch keiner. Der bricht sich noch den Hals, wenn er so weiter jagt. Um meinen soll es mir ja nicht leid tun. Da ist nicht mehr viel mit los. Autsch, verflucht, wieder 'ne Wurzel übersehen." Etwas laut zu sagen getraute er sich nicht. Dazu fehlte ihm ohnehin der Atem. Aber seine Gedanken machte er sich, übrigens weitaus mehr als hier wiedergegeben worden sind. War es vom Wetter nun eine Verschwendung, daß es trotz Mißachtung mit so starkem Geschütz auffuhr? Nicht ganz. Es dauerte wohl eine Weile, bis Daniel sich verstohlen hin und wieder nach dem Kameraden umwendete, aber er tat es. Und schließlich fragte er sogar, ob sie vielleicht hinter der nächsten Anhöhe eine kleine Rast machen sollten. Ferdinand nickte nur. Also ließen sie sich an der bedeuteten Stelle nieder.

Das Gras fühlte sich trocken und warm an. Die Sonne blitzte schräg durch die Zweige. Wie tat das gut, von den brennenden Füßen herunterzukommen. Ein wohliges Ziehen durchfuhr ihre Beine. Daniel lag auf dem Rücken und blickte durch das goldene Blätterdach in den blauen Himmel. „Müde sein und ausruhen können," dachte er „ist fast so schön wie streicheln." Ja wirklich, es war, als ob Gott ihn streicheln wollte. „Und dabei habe ich das nicht im mindesten verdient." Und endlich: „Vielleicht will er gar nicht, daß ich mit mir böse bin." Dann wollte er sich noch bei Ferdinand entschuldigen, doch der schlief schon. „Seltsam, daß Gott manchmal so ganz anders ist, als wir es erwarten."

Zwei daheim gebliebene Vögel tobten im Herbstlaub mit lautem Gezwitscher. Sie benahmen sich, als ob sie vom nahenden Winter nichts ahnten. Nur das Heute zählte mit seinem wärmenden Sonnenschein im Gefieder und erzeugte in ihnen den Übermut der

Erfahrungslosen. Daniel, der ihnen eine Weile zusah, wußte nicht recht, ob er sich mit ihnen einfach so freuen sollte oder ob seine Neigung zum Kopfschütteln gerechtfertigter war. Ihrer Natur folgend waren sie nicht wie viele ihrer Artgenossen in den wärmeren Süden geflogen, hatten nicht die Mühe einer langen Reise auf sich genommen, sondern die Heimat der Ferne vorgezogen. Mag sein, ein kalter Wintertag würde sie diese Bequemlichkeit bereuen lassen. Ist ja Unsinn, so ein Vöglein braucht sich doch gar nicht zu entscheiden. Es handelt, wie es ihm eingegeben wird. Ein Mensch aber mußte ständig überlegen, was als nächstes zu tun oder zu lassen sei. Und oft genug fühlte Daniel sich schuldig, egal, wie er sich entschieden hatte. War das Böse in ihm am Ende gar nicht

abhängig vom Tun?

Ein Gefühl kreuzte diesen Gedankengang, so daß Daniel ihn nicht zu ende dachte. Diese Vögel kannten einen Ort, an dem sie beheimatet waren. Den verließen sie selbst in schweren Zeiten nicht. „Ich aber habe niemals eine Heimat gehabt, und auch jetzt

weiß ich nicht, ob der Ort, dem ich zustrebe, meine Heimat werden kann." Warum wußte er es nicht?

Daniel war in seiner Hoffnung auf Glück stets davon ausgegangen, daß er aufgrund seines freundlichen Verhaltens die Liebe seines Mädchens gewinnen würde. Einfach

gut zu ihr sein, und sie würde schon darauf reagieren. Was aber, wenn er gar nicht so liebenswürdig sein konnte, wie er wollte? War es nicht überhaupt Vermessenheit, zu erwarten, daß seine Freundin ihn, ausgerechnet ihn, der so unberechenbares Verhalten

zeigte, annehmen und gern haben würde? Seufzen, Bangigkeit. „Du hast gut lachen, Sonne. Du bist allezeit heiß. Aber schau mich an. Ich schwanke so viel hin und her. Wie soll das denn jemand ertragen, wenn ich` s selber manchmal nicht ertragen kann? Meine einzige Hoffnung ist, daß ein Wunder geschieht." Naja, so oder ähnlich dachte Daniel wohl, als er spürte, wie es sachte kälter wurde.

Bis Ferdinand soweit war, daß sie aufbrechen konnten, verging noch eine Weile. Weit kamen sie an diesem Tage auch nicht mehr. Dennoch blieb es die längste Strecke, die sie je zusammen an einem Stück gelaufen waren. In der Nacht wurde Ferdinand von beängstigend starken Hustenanfällen heimgesucht. Kaum eine Minute hatte er Ruhe und

somit Daniel auch nicht. Sei es nun der übermäßige Alkoholgenuß vom Vorabend oder die Anstrengung der langen Reise, diesmal ging es wirklich hart an der Grenze zu. Es traten regelrechte Erstickungskrämpfe auf, dazwischen spuckte er Blut. Liegen konnte der Kranke nicht, wenn er Luft bekommen wollte, zum Sitzen verließ ihn bald die Kraft. Daniel stützte ihn so gut er vermochte, wohl aber nicht gut genug. Es wurde eine schier endlose, verzweifelte Nacht, die ein letztes Erbarmen nur durch die totale Erschöpfung

kannte. Es sollte die erste sein von vielen folgenden gleicher Beschaffenheit.

Beinahe überflüssig zu erwähnen, wie schuldig sich Daniel daran fühlte und welche Mühe er sich gab. Während kurzen Atempausen versuchte er Trostworte zu finden, bis er in letzter Verzweiflung neben dem Kranken niederkniete und zu Gott flehte.

Immer noch versuchten sie tagsüber ein Stück weiterzukommen. Ferdinand selbst drängte darauf. Gestützt, getragen sogar geschleift wurde er, wenn es anders nicht mehr gehen wollte.

Und dann kam wirklich der Tag mit dem ersten Schnee. Immer noch waren sie nicht am Ziel. Schüttelfrost und Fieber gesellten sich dazu. Trotzdem jeden Tag weitergehen. Hilfe von anderen Menschen blieb trügerische Hoffnung. Wer die beiden jetzt in sein Haus nahm, wußte, daß einer es nicht lebendig verlassen würde. Um sich aber mit fremden Toten schmücken zu wollen, dazu fehlte jedweder Beweggrund. Bettler, Diebesgesindel mußte man ihnen deshalb nachrufen. Was ein echtes Gewissen ist, möchte beruhigt werden, und ein fleißiger Verstand hilft dabei gern. Scheunen, Ställe und Schutzhütten blieben die einzigen Unterkünfte für den todkranken Ferdinand und seinen Pfleger.

IX

Kaum faßbar für Daniel und ohne jede sinnliche Wahrnehmung für den Todgeweihten war die Ankunft in dem Dorf ihrer Träume. Kein Wiedersehen im Wald, nicht romantischer Sonnenuntergang am See, nur verzweifeltes Schleppen eines beinahe leblosen Körpers prägten diese Rückkehr. Dennoch, sie waren am Ziel, vorläufig am Ziel, sie würden Ruhe finden und Aufnahme in dem Hause, das in vielen Träumen Daniels Gedanken gefesselt hatte. Und sie fanden sie.

Daniel hatte den fast leblosen Körper an die Hauswand gelehnt und lief einmal um das ganze Gebäude herum, an jedes erreichbare Fenster klopfend. Es dauerte vielleicht nur fünf Minuten, bis jemand öffnete. Da es aber fünf Minuten unsinniger Angst waren, wurden sie abscheulich lang. War fürchtete er innerhalb dieses kurzen Zeitraumes nicht alles? Es konnte ja möglich sein, daß niemand daheim wäre oder sogar der Doktor mit Familie verzogen war. Und wenn jeden Augenblick die Türe aufging, wem stünde

er dann gegenüber? Seiner Freundin? Nichts wäre schrecklicher. Kein Wort würde er vor ihr herausbringen. In seinem Zustand jetzt und dann diesen alten, abgerissenen Mann dabei. Er selber war ebenfalls ein Bild des Jammers. Nein, nur nicht ihr selbst so begegnen müssen. Wie mochte sie jetzt überhaupt aussehen? Vielleicht hatte sie sich völlig verändert und wäre für Daniel ganz und gar reizlos. Er fand einfach keinen Gedanken, der ihn zu trösten vermocht hätte. Dies war nun einmal ein trübseliger Augenblick, und damit galt es sich abzufinden.

Die Tür wurde geöffnet. Er blickte in die Augen der Mutter der Freundin. „Ja, bitte?" Oh, das klang kalt und fremd. Daniel wußte keine Antwort. Sein Mund fühlte sich an wie zugenäht, und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Da, ein Stöhnen von Ferdinand, dessen Kopf nach vorn gesunken war. Ein Blick zu dem alten Mann, dann wieder in die Augen dieser fast fremden Frau. Endlich: „ Du, Daniel?" „Ja," einfach nur „Ja!" Gehört der zu dir? So komm doch rein. Ach, der kann wohl nicht mehr. Ja, warte, ich helfe dir tragen." Obwohl sie jetzt zu zweit anfaßten, meinte Daniel, der Körper des Alten wäre nie zuvor so schwer gewesen. „Vorsicht, drei Stufen. Hier entlang. Am besten erst einmal auf die

Liege." Wieder ein Röcheln von Ferdinand. Dann zogen sie ihm beinahe wortlos Mantel und Stiefel aus. Es tat wohl, sich ganz dem Kranken widmen zu können. Das ersparte die leidige Rederei ohne unhöflich zu wirken.

„Das klingt nach Lungenentzündung. Mein Mann wird in einer Stunde hier sein. Ach so... du wartest... die muß oben sein. Wird sicher gleich kommen." Ein Rufen, eine Stimme

eine Treppe höher. Ihre Stimme. Es waren nur zwei Worte, aber eindeutig ihre Stimme.

Die Gestalt, die jetzt die Stufen herabkam, gehörte beinahe schon einer jungen Frau. Fast nichts erinnerte in diesem Gesicht auf den ersten Blick an das Mädchen, das Daniel so heiß geliebt und ersehnt hatte. Er tat zwei, drei Schritte auf sie zu und bot seine Hand. Sie ergriff seine beiden Hände, hob sie ein wenig an während sie sie leicht drückte und sah ihm kurz in die Augen. Er zog seine Hände hastig wieder zurück, und sie beide

wandten sich Ferdinand zu.

War das nun ein Wiedersehen nach so langer Zeit? Beide Hände hatte sie genommen, ja schon, aber Daniels Herz war gefroren geblieben dabei. Erstmal um Ferdinand kümmern. Zum Nachdenken ist später noch Zeit. Es kam aber auch alles so unerwartet und unvorbereitet.

Kurz darauf erschien der Arzt, früher noch als angenommen. Seine Begrüßung war am lautesten: „Ja, das ist aber eine Überraschung. Mensch, laß dich anschauen. Was ist los? Achso, da ist noch jemand. Es folgte eine sehr eingehende Untersuchung des Kranken, Herz und Lunge wurden abgehört, der routinierte Blick in die Augen und deren Bindehaut. Zweimal zwischendrin schien Ferdinand zur Besinnung kommen zu wollen. Jedenfalls gab er Laute von sich. Aber jedesmal war seine Kraft zu wenig, als daß er sich

hätte verständlich machen können. Anstelle einer Diagnose ordnete der Arzt nur an: „Wir

werden ihn hier liegen lassen. Stündlich kann die Krise kommen. Er muß zugedeckt werden, ach ja... es wäre gut, wenn immer einer von uns bei ihm bliebe."

Draußen fiel gerade wieder Schnee. Jemand brachte die Rede aufs Essen. Mutter und Tochter deckten den Tisch, während Daniel ein wenig ungeschickt im Wege stand. Seine Freundin stellte zwei Kerzen zwischen die Gedecke und forderte Daniel auf, sie

anzuzünden. Das war etwas, was er tun konnte. Wie weit mußte er sich zurückerinnern, bis ein Bild vor seinem geistigen Auge auftauchte, das eine Mahlzeit mit Kerzenlicht zeigte. Ein wenig wich die Kälte im Herzen. Fragen wurden gestellt. Zwischendurch immer wieder die Aufforderung ungeniert zuzugreifen.

Nach dem Essen wurde Ferdinand für die Nacht zurecht gemacht. Er bekam Tee und später noch einige Tropfen eingeflößt. Daniel und seine Freundin wollten die erste Nachtwache übernehmen. Schließlich waren die Eltern zu Bett gegangen und die beiden

jungen Leute am Lager des Kranken allein.

Allmählich fand Daniel heraus, was an seiner Freundin verändert war. Sie trug das Haar jetzt aus der Stirn gekämmt, was sie reifer und ernster wirken ließ. Die Figur war etwas voller geworden, die Bewegungen noch weicher und geschmeidiger. Aber die Augen waren die gleichen geblieben, und sie wollte Daniel erst einmal in Ruhe betrachten. „Weißt du was?" begann er. „Ja? Ich meine nein, was denn?" „Wenn ich dich so nach all der Zeit wiedersehe, dann muß ich mich schon ein wenig an dein Aussehen gewöhnen." Und wieder sie: „Du hast dich aber auch verändert." „Ja, das ist wohl so." Pause. Danach: Weißt du, was ich jetzt möchte?" Sie zögerte ein wenig mit der Antwort, und indem sie mit der Stimme fragend hochging, erkundigte sie sich: „Nein, was denn?" Daniel war enttäuscht. Fühlte sie denn nicht, daß er ihr näherkommen wollte? Mit einem tiefen Seufzer sagte er fast klagend: „Am liebsten würde ich dich jetzt umarmen." Dabei hatte er das Gefühl, nicht sicher zu sein, ob er die Wahrheit sagte. „Ich weiß nicht," gab

sie zurück. „Was weißt du nicht?" „Ob wir uns einfach so umarmen sollten." Wieder Daniel: „Das weißt du nicht?" Seine Stimme sackte ab. Wie war das alles nur so schwer. „Schau mal, du," dabei nahm sie seine Hand. „Wir kennen einander doch fast nicht mehr. Es hat sich soviel verändert. Wir sind anders geworden. Versteh` mich bitte nicht falsch. Ich hab` nichts gegen dich." „Aber auch nichts für mich," ergänzte Daniel in Gedanken. Mußte sie es ihm so schwer machen? „Es ist nur... wir müssen einander erst wieder

vertraut werden. Du bist mir tatsächlich etwas fremd geworden."

„Oh du," begehrte er auf, entzog ihr seine Hand und umschlang sie mit beiden Armen. Sie wehrte sich nicht, erwiderte kurz darauf seine Liebkosung, bis sie merkten, daß sie beide hungrig nach Zärtlichkeit waren. Sie ließ sich einfach umwerfen und versuchte

zu entspannen. „Na also, warum nicht gleich," dachte Daniel und wollte aufatmen. Aber schon wandte sie sich wieder von ihm ab. Was war jetzt? Sie verbarg ihr Gesicht im Ärmel. War es möglich, daß sie weinte. Er suchte ihren Blick, nahm ihren Arm zur Seite

und sah ihre Tränen. „Was hast du? Ist es nicht in Ordnung? Hab' ich dir wehgetan?" Sie schüttelte nur den Kopf. „Ist es wegen Ferdinand?" forschte er, fast sicher daneben getippt zu haben. „Vielleicht," schluchzte sie. „Ich weiß es selbst nicht." „Oder magst du mich nicht mehr?" Er ließ seine Stimme enttäuscht klingen. „Doch, oder... jedenfalls, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Eigentlich ist es auch gar nichts. Ich muß mich nur erst wieder an Dich gewöhnen." Was hieß das nun. Daniel wußte nicht, ob er sich freuen sollte oder ob alles vergebens war. Sie fühlten sich beide sehr befangen. War es falsch gewesen, sie zu umarmen? Sie hatte seine Zärtlichkeit aber doch erwidert. Für diesen Abend beschloß Daniel, nicht mehr darüber nachzudenken. Es galt einen

Sterbenskranken zu bewachen, vielleicht dem Tod ins Angesicht zu

blicken. War da Zeit für Liebeskummer? Außerdem: Sie waren ja jetzt zusammen.

Am nächsten Morgen, als Daniel in dem Bett erwachte, das ihm eine Treppe höher nicht weit von der Schlafstelle des Mädchens zugewiesen worden war, mußte er als erstes begreifen, daß die Uhrzeiger bereits die Nachmittagsstunden anzeigten. Mit den

Anstrengungen der letzten Wochen ist das leicht erklärt, trotzdem schämte er sich etwas. Ein solchermaßen verspätet begonnener Tag führt leicht zu Orientierungsschwierigkeiten, die aufgrund der neuen Lebensumstände schon reichlich vorhanden, nicht noch der

Ergänzung bedurften. Es wäre doch so vieles zu erklären und zu klären gewesen.

Die erste Freude des Tages bildete die Nachricht von der ungeduldigen Erwartung seines Erwachens und dem damit öfter erfolgten Nachschauen in seinem Zimmer, während er noch geschlafen hatte. Die zweite freundliche Überraschung kündigte sich bereits

von Ferne mit Hustengeräuschen an und war wieder halbwegs bei Besinnung. Es reichte sogar schon zu schlechten Verlegenheitswitzen wie: „Langschläfer sind doch glückliche Menschen; sie können ihr schlechtes Gewissen verschlafen." Ferdinand hatte sich schon ein wenig mit seiner neuen Wirtsfamilie vertraut gemacht, diverse Medizin schlucken müssen und gefunden, daß krank und verliebt sein immerhin noch besser wäre, als tot und verhaßt.

Wenn Daniel in Gesellschaft des Mädchens sein wollte, mußte er fast immer die Gegenwart des Kranken mit in Kauf nehmen. Der erzählte aus seinem Leben, wie Daniel es nicht zu hören gewohnt war und wohl auch unterbrochen hätte, wenn nicht das Privileg des Leidenden ihn zurückhielt. Meist nur geduldig lächelnd, schweigend und wunderschön saß dieses Mädchen an Ferdinands Liege und schien alles zu glauben, was von dort laut wurde. „Eine Handelsflotte war mein Traum ( gequältes Husten). Von Land zu Land wollte ich die Meere durchkreuzen, (mit leidenschaftlicher Stimme) die Menschen mit allen erdenklichen Gütern beglücken."

Daniel konnte sich eine bissige Bemerkung trotz Privileg nicht verkneifen: „Und beglückt hast du dich dann nur selber."

„Laß ihn doch," versuchte das Mädchen zu beschwichtigen. Ferdinand fuhr fort ohne darauf einzugehen: „Friede ist, wenn alle zufrieden sind. Ich wollte sie alle zufrieden machen. Auf dem besten Wege war ich dazu. Ein Schiff nannte ich bereits mein

eigen. Und meine Mannschaft war stolz auf mich ( wieder Husten). Der Erfolg war auf unserer Seite. Wenn so etwas erst einmal läuft unter der Führung eines geschickten Mannes, dann zieht eins das andere nach." Wieder Husten, diesmal von Daniel. „Schon mal den Titel: `Herr der sieben Meere` gehört? Das war ich. So haben mich meine

Leute genannt."

„Wo mag er das gelesen haben, der Spinner? Und sie sitzt da, als lausche sie einer Offenbarung." Das Mädchen hörte wirklich mit Freude zu. Doch war es weniger der Inhalt, der es begeisterte, als der bloße Umstand, daß Ferdinand wach war und

sprach. Ihr Vater hatte sie am Morgen beiseite genommen. „Du sollst nicht denken, ich könne den alten Mann heilen," hatte er gesagt. „Er wird den Winter nicht überleben. Die Lunge ist zu weit zerstört. Weißt du, man kann das hören beim Atmen. Du wirst dich

vielleicht wundern, wenn du ihn zwischenzeitlich scheinbar genesen siehst. Aber das werden trügerische Anzeichen sein. Außerdem habe ich ihm ein Mittel gegeben, das seine Sinne aufputscht, aber die Schmerzen unterdrückt. Alles, was wir tun können, ist: ihm

das Sterben erleichtern. Willst du dir auch ein bißchen Mühe geben? Dann wird es uns allen leichter werden."

Sie hatte ihren Vater daraufhin umarmt und war nochmals nachsehen gewesen, ob

Daniel nicht endlich wach wäre. Erst als der Doktor von seiner Abendvisite zurück war und mahnte, dem Kranken doch etwas Ruhe zu gönnen, kehrte eine leise Hoffnung auf Zweisamkeit in Daniels Herz und er fragte: „Kommst du ein bißchen mit durch das Dorf? Ich hab` das alles solange nicht mehr gesehen." Aber zuvor mußte er noch das Abendessen abwarten. Danach war es der Jahreszeit entsprechend schon dunkel.

Sie stapften durch den frischgefallenen Schnee, wobei sie einander untergehakt hatten. Auf keinen Fall sollte die Beklommenheit vom Vorabend wieder auftauchen. Das hieß, sie durch Fragen und Erzählen verhindern. Was war eigentlich mit dem Bauern

geschehen, der seine Tochter so gewissenhaft gereinigt hatte?

„Das war vielleicht noch eine Geschichte, kann ich dir sagen. Dem hat der Knecht gedroht, alles zu verraten, wenn er nicht als Universalerbe eingesetzt würde. Du hattest doch auch versucht, dem Mädchen zu helfen. Warum hattest du nur nichts meinem Vater erzählt?" Vor seiner Freundin wollte Daniel offen und

ehrlich sein und hoffte so auf das meiste Verständnis. Aber auch Ehrlichkeit bedarf einer Form, die er erst finden mußte. "Dein Vater hatte ja seine Hilfe abgelehnt, oder jedenfalls wollte er mit der Schwangerschaftsunterbrechung nichts zu tun haben, was ich ja verstehe. Aber wir hatten Angst, er würde nun alles auffliegen lassen. Außerdem hat mich der Bauer bedroht: `Wenn du ein Sterbenswort sagst, schneide ich dir die Kehle durch.`" Empörung klang aus den nächsten Sätzen der hübschen Begleiterin: „Dieser Mörder! Und dann hat er dich benutzt, um seine Schuld zu vertuschen. Und du mußtest weg. Das habe ich ihm nie vergessen können. Jedenfalls hat er dafür bezahlen müssen. Nachdem er dem Knecht den Hof überschrieben hatte, wollte der mitbestimmen, aber nicht mehr mitarbeiten. Also mußten neue Leute her. Noch mehr Zeugen aber wollte der Bauer nicht. Das gab eine Streiterei, kann ich dir sagen. Erst als Ruhe war, sind die Leute wach

geworden. Der Knecht zog auf und davon. Wir haben nie wieder was von ihm gehört. Und den Bauern haben die Nachbarn in der Scheune gefunden, wie er erdrosselt mit einer Strippe an einem Balken herunterhing. `Selbstmord` haben einige gesagt. Andere hielten den Knecht für den Mörder. Es war grauenvoll. Aber ob du's glaubst oder nicht, ich habe so etwas wie Genugtuung empfunden. Was der Mann verbrochen hatte!"

Daniel war blaß geworden. Nun schien er gegenüber den Dorfbewohnern zwar gerechtfertigt, aber seine Freundin mußte noch mehr erfahren: „Weißt du, daß ich mich daran nicht ganz schuldlos fühle? Ja, doch, das war nämlich so: Als dieses Mädchen krank war von dem Eingriff, habe ich sie öfters untersucht und dabei auch nackt gesehen. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie habe ich da auch so Gedanken gehabt mit Anfassen und... also, wenn ich das jetzt sagen soll, manchmal hätte ich mich am liebsten auf sie

geworfen. Wie findest du das?" Nur heraus mit der Wahrheit. Schuld läßt sich nur durch Reue beseitigen. Und das Bekenntnis gehört dazu. Das war es. Sie drehte sich nun frontal zu ihm, nahm seine Hand und sagte mit leiser Stimme: „Was spielt das noch für

eine Rolle, jetzt, wo alles vorbei ist. Ich weiß, daß manchmal ein Begehren auftaucht, wo es überhaupt nicht hinpaßt. Du hast dich doch auch dagegen gewehrt, oder? Laß nur, es spielt jetzt keine Rolle mehr. Mir ist auch mal so etwas passiert, auch mit einem

Mädchen. Ich hatte mir da was gewünscht, was nicht sein durfte. Es ist ja auch nichts daraus geworden. Damals hat es mir leid getan. Heute sehe ich ein, daß es besser war. Ganze Nächte habe ich geheult deswegen. Wie albern."

Jetzt schritten sie wieder Seite an Seite auf den gefrorenen See zu. Weißt du noch, wie hier alles anfing zwischen uns beiden. Ich wollte dir schwimmen beibringen, glaube ich." Sie kamen ins schwärmen: „Klar weiß ich das noch. Und hinterher haben wir uns richtig kennengelernt. So hätte es immer bleiben müssen. Angefangen hatte es doch mit dem Mädchen, das im See eingebrochen war. Damals kannten wir uns noch nicht. Ich hatte solche Angst, als du mit mir tanzen wolltest." „Warum das denn?" „Naja, ich

wollte halt nicht, daß du merkst, was mit mir los ist, ich meine, daß ich nicht wie alle anderen bin, die hier geboren sind."

„Sollen wir nicht mal bei deiner kleinen Freundin vorbeischauen? Du wirst staunen, wie sie sich verändert hat." „Klar, das müssen wir, aber heute nicht. Ich möchte noch so viel von dir wissen." Welcher Gedanke stand da im Hintergrund? „Was möchtest du denn wissen von mir? Weißt du nicht alles?" Nach kurzem Aufenthalt: „Was interessiert dich so besonders? Ob ich dir immer treu war? Gerade hast du mir was erzählt. Und jetzt willst du wissen, ob ich immer treu war. Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dich wiederzusehen. Und ich wollte nicht allein bleiben. Wenn jemand gekommen wäre, der mir gefallen hätte, was glaubst du, wäre geschehen? Na?" „Du hättest dich ihm willenlos an den Hals geworfen. Und dann wäre er gleich zur Sache gekommen mit dir. Lauter Kinder hättest du bekommen, bis es ihm zuviel geworden wäre. Dann hättest du mal einen laufen gesehen." Dankbar empfanden sie die Fähigkeit, miteinander scherzhaft umgehen zu können." Er hätte mich glücklich gemacht bis in alle Ewigkeit. übrigens habe ich auch so einen Haufen Kinder bekommen. Nicht meine, aber ich kümmere mich um sie. Anfangs hat es viel Spaß gemacht. Jetzt erwarten die Leute schon von mir, daß ich ihnen die Bälger abnehme. Das ist mir nicht immer so recht. Du kannst ja morgen

mal mitkommen. Bestimmt wird es ganz lustig."

Vor dem Haus angekommen, nahmen sie mit einer kurzen, übermütigen Schneeballschlacht Abschied vom kalten Winterspaziergang und verschwanden im Haus.

Ferdinand ging es mittlerweile wieder schlecht. Abermals spuckte er Blut und hustete sich förmlich die Lunge aus dem Leib. Die seichte Stimmung von eben schlug abrupt um. Das Lager war beschmutzt und mußte frisch gerichtet werden. Als dann endlich Ruhe einkehrte, war es eine Stille auf Wiederruf und ohne rechten Frieden. Aufgrund neuer Beruhigungsmittelgaben schlief der Kranke bald ein.

Die Gespräche am Bett drehten sich um dessen Vergangenheit. Von da ausgehend nahmen sie Richtung auf Geistliches und wurden endlich durch die Aufforderung zur Ruheeinhaltung unterbrochen. Längst war es Zeit für` s Bett geworden. Diese Nacht wollten sie sich im Bedarfsfall von Ferdinands Lärm wecken lassen. Da sein Husten immerhin deutlich vernehmbar wäre, sollte niemand als Nachtwache um den verdienten Schlaf gebracht werden. Ohnehin schliefen die Eltern ganz in der Nähe und würden zur Stelle sein wenn nötig.

Daniel hatte bereits die Decke über die Ohren gezogen, als sich beinahe lautlos die Türe zu seinem Zimmer öffnete und ein zauberhaftes Wesen auf blanken Füßen auf sein Bett zu schwebte. Die Haare fielen ihr lang auf die Schulter. Der freundliche Vollmond leuchtete rücksichtsvoll das hübsche Gesicht aus, welches in dem Moment, da ihre Blicke sich trafen, ein wenig scheu zu lächeln begann. „Du?" fragte Daniel, als ob er seinen Sinnen nicht trauen könnte. Er hob den Kopf und stützte sich auf die Ellenbogen, wobei das Bett leicht knarrte.

„Ist noch was?" wollte er wissen, weil ihm nichts Gescheiteres einfiel. „Ich wollte dir nur gute Nacht sagen," flüsterte sie sanft. Darauf war er so dumm, sich zu erkundigen, ob

sie das nicht bereits getan hätte. „Doch schon," und noch zaghafter: „Ich wollte dich halt noch einmal sehen. Außerdem macht mich der Mond ganz verrückt. Da kann ich nicht schlafen." Und er fühlte sich auch noch nicht müde, weil er doch am Nachmittag erst aufgestanden war.

Da stand sie vor seinem Bett, die Arme verschränkt, die Schultern leicht vorgewölbt und fing an zu gähnen. „Bist du müde?"

Sie zog die Schultern noch höher und schüttelte sich, und danach nur ihren Kopf. „Es ist nur so kalt." „Dann geh` doch ins Bett," lächelte er erwartungsvoll. Wenn du mir etwas Platz machst," forderte sie ihn ganz leise auf, während sie einen Schritt auf ihn zu trat und die Hände gegeneinander rieb. „Das ist aber gefährlich," warnte er freundlich und rutschte zur Seite bis sie Platz hatte neben ihm. „Aber schön," erwiderte sie, sich an ihn kuschelnd. Das war wirklich sehr schön, so aneinander zu liegen, den warmen Körper des anderen spürend. Sie konnte sich ganz weich machen, bis sie nahtlos an ihn paßte. Daniel zwängte einen Arm unter ihr durch und schlang den anderen Arm um sie herum. Jetzt

alle Muskeln anspannen und fest drücken. Darauf sie ihn. Sie streckten sich aneinander bis sie beide ganz lang waren und die Füße unter der Decke hervor lugten. Ein sehr starkes Gefühl durchlief sie. Aber kalte Füße und heiße Gefühle passen nicht zusammen. Darum die Beine vor den Bauch gezogen und auf die Seite gelegt. Diesmal war es ihr Hinterteil, das kalt zu werden drohte. Bei aller Zuneigung wollte auch stets die Technik bedacht sein, und die ist bei mangelnder Erfahrung ein kleiner Störenfried.

„Paß mal auf, wenn es dir nichts ausmacht," schlug er zaghaft vor, „wenn ich ein Knie zwischen deine Beine schiebe und du eins zwischen meine, dann kommen wir enger zusammen, und die Decke reicht." Schon hob er ihr oben liegendes Bein an, mußte aber

feststellen, daß ihr Nachthemd im Wege war. „Warte," half sie ihm und schob das Nachthemd höher. „Was soll es mir ausmachen? Ich finde es schön, so dicht bei dir zu sein." Als Antwort zog er sie zu sich heran und atmete tief aus. Ihre Wangen berührten sich, und sein Kinn ruhte auf ihrer Schulter. Ein heißer Gedanke durchzuckte ihn. Wenn sie nun nichts unter dem Nachthemd anhatte.

Durch seine Schlafanzughosen waren ihre nackten Beine zu spüren, die weichen Schenkel. Sein Herz begann so laut zu klopfen, daß sie es an ihrer Brust spürte. „Was hast du," raunte sie. „Nichts, es ist nur so stark." „Das ist doch schön," wiederholte sie arglos. „Ja," flüsterte Daniel. „Es ist sehr schön, nur schlafen kann ich so nicht." Drückt dich was. Tu` ich dir weh?" fragte sie besorgt. „Nein, das nicht. Du bist so weich. Es ist nur, ... mein Blut fängt überall an zu pochen." „Meines auch," gestand sie.

„Hör mal!" Er neigte sein Ohr an ihre Brust und lauschte auf ihren Herzschlag. Dort war es noch weicher und behaglicher. Wieder zitterte er vor Aufregung. „Wenn ich jetzt eine Hand unter ihr Nachthemd gleiten lasse, ob sie sich wehrt?" überlegte er. Ob er sie einfach fragen sollte? „Du?" „Ja!" „Du bist so weich." „Mh," machte sie nur. „Hast du was dagegen, wenn ich mal da unten zwischen fahre mit der Hand?" „Nein," lächelte sie. „Ich finde das schön. Du sollst nicht immer denken, dir allein würde es gefallen und ich müßte mich dazu hergeben. Ich sehne mich nach dir. Du sollst mich ganz haben dürfen, alles mit mir machen können, aber ich habe auch ein bißchen Angst. Darum möchte ich erst wissen, daß du mich ganz lieb hast und mir niemals weh tun wirst. Hörst du?" Ja, Daniel hörte und konnte es kaum glauben, weil es so großartig war. Sachte strich seine Hand über ihre zarte Haut. Immer weiter auf ihrem oben liegenden Bein. Dabei schob er das Nachthemd hoch, bis es nicht mehr nachgab, weil sie noch darauf lag auf der

anderen Seite. Also streckte Daniel den Arm aus und fuhr darunter. Sie rührte sich nicht, als er beim Po angelangt war. Auch bei ihrer Taille verhielt sie sich schweratmend doch ruhig. Erst als die Hand seitwärts kroch auf den Bauchnabel zu, reckte sie sich und löste die Beinverbindung, so daß Daniel ihr Nachthemd über den Po streifen konnte und überall hin Zugang hatte. Ihr Bauch war so herrlich weich. Er schmiegte sein Ohr daran und hörte es drinnen glucksen. Noch weicher war ihre Brust. Doch als er sie dort streichelte, war es vorbei mit der Ruhe. Jetzt erwachte sie zu vollem Leben. Das Nachthemd wurde über den Kopf gezogen, womit sie völlig nackt lag unter der Bettdecke. Sie gab sich nicht eher zufrieden, als bis auch Daniel nichts mehr am Leibe hatte, abgesehen von ihr. Ganz nackt lagen sie nun zusammen unter der Decke und spürten soviel weiche, zarte Haut, wie sie nur wollten.

Nochmals flüsterte sie: „Du, das ist so herrlich. Ich möchte die ganze Nacht bei dir bleiben." „Bleib` doch einfach. Was kann schon geschehen?" Sie blieb, und eine Weile fühlten sie einander noch, bis der Körper des anderen sich in Wärme und Gefühl

nicht mehr vom eigenen unterschied. Das war der Zeitpunkt zu dem sie einschliefen, sehr glücklich einschliefen.

Daniel mußte Nachts nicht auf Toilette. Und als das Erwachen am nächsten Morgen in Nacktheit und froher Erinnerung sie beinahe gleichzeitig traf, fühlten sie sich noch immer eins und geborgen. Bleiben konnte es so jedoch nicht. Irgendwann rumorte es unten, was das Mädchen veranlaßte, erschrocken aufzuspringen und nach dem Nachthemd zu wühlen. Wenn jetzt einer rein käme oder man sie in ihrem Zimmer suchte und nicht fand? Das Nachthemd, wo war das nur in der Eile? Unterm Bett nicht, im Bett nicht, und an

hatte sie es auch nicht. Sein Schlafanzug lag zerknüllt am Fußende. Dann mußte das Nachthemd doch entsprechend, weil man es über den Kopf auszog... ja richtig, Daniel lag darauf, oder vielmehr er lag auf dem Kopfkissen und das Nachthemd darunter.

„Los schnell, gib her," forderte sie aufgeregt. „Was krieg` ich dafür?" „Eine Tracht Prügel von meinem Vater, wenn du es mir nicht gibst," drohte sie scherzhaft. „Ich verlange einen Kuß," beharrte Daniel. „Und außerdem gefällst du mir ohne Nachthemd sowieso besser." Jeden Moment konnte jemand rein kommen. Die Türe war unverschlossen. „Mir ist so kalt," jammerte sie jetzt. „Dann komm doch wieder ins Bett." Daniel streckte im Sitzen seine Arme aus, und sie kam. Noch einmal drängten sie sich aneinander, schier unersättlich. Sie hatte ihn umgeworfen, und weil ihr Bewegungsdrang damit noch nicht gestillt war, rollte sie auf den Fußboden. „Laß mich los, schnell, das macht doch Lärm. Sie griff sich ihr Nachthemd und entschwand damit nackt durch die Tür.

Ein Kloß blieb in seinem Hals zurück und der Eindruck, vielleicht zu weit gegangen zu sein. Verständlicherweise kamen sie zum Frühstück zu spät. Der Doktor hatte das Haus schon verlassen. Kommentar der Mutter: „Ihr werdet doch da oben keine Dummheiten machen." Daniel spürte sich rot werden im Gesicht. Seine Freundin versuchte zu erklären: „Es gibt soviel zu erzählen. Deshalb wird es abends so spät." Mehr wurde dazu nicht gesagt.

Ferdinand schlief noch, und das Mädchen kündigte an, den jungen Mann mit zu den Kindern nehmen zu wollen. „Ihr wollt mich also ganz allein lassen mit diesem Menschen da?" Nur bis zum Mittagessen vielleicht, dann kämen sie heute schon wieder.

Am Treffpunkt vor der Versammlungsunterkunft warteten schon etwa 15 Kinder, einige recht ungeduldig mit der Behauptung, das Mädchen käme Stunden zu spät.

„Wer ist das denn? Was will der Mann von dir?" Sie versuchten nicht zu verbergen, daß sie dem Fremden mit Mißtrauen gegenüberstanden. Er wurde zwar vorgestellt, auch erwähnt, das vor einigen Jahren hier schon sein Zuhause gewesen war, das machte ihn aber nicht sympathischer.

Beim Verlassen des Hauses hatte es gerade mit Schneien aufgehört, und jetzt kam die Sonne durch die Wolken und versuchte, sie zu verdrängen. „Bei dem Wetter laßt uns nicht drinnen hocken. Geht und holt eure Schlitten. Ich hole meinen, und dann treffen wir uns wieder hier." Die Begeisterung über diesen Vorschlag entsprach nicht ihrer Erwartung. „Kommt der auch mit", fragte ein Junge.

Als sie sich wieder zusammengefunden hatten, waren es nur zehn Kinder. Zwei von ihnen, ein Geschwisterpaar, sagten, daß sie nicht dürften. „Habt ihr keinen Schlitten?" „Doch, aber wegen dem Mann sollen wir nicht mit, hat unsere Mutter gesagt." „Komm, da gehen wir jetzt mal hin. Ich habe euch doch erzählt, wer das ist." Das Mädchen wurde sehr ärgerlich. „Das haben wir Zuhause auch gesagt," verteidigten sich die beiden Kinder. „Und?" Nichts, sie zuckten nur mit den Schultern. „La? sie doch, es ist ihr Vergnügen, wenn sie nicht wollen," beschwichtigte Daniel. „Es ist eben nicht ihr Vergnügen. Die Kinder müssen die Borniertheit der Alten ausbaden. Deswegen gehen wir jetzt dahin. Die sollen mir das direkt sagen, was ihnen nicht paßt. Dann sage ich ihnen auch, was mir nicht paßt." Richtig Temperament zeigte sie vor Erregung.

Während Daniel bei den restlichen Kindern blieb, lief das Mädchen mit den beiden zu deren Haus und erkundigte sich, was nicht in Ordnung wäre. „Du hast dich immer so schön um unsere Kleinen gekümmert. Wir möchten auch gerne, daß du es weiter tust, aber glaubst du nicht, daß dieser Mann... Also, mein Mann findet jedenfalls, daß es nicht der richtige Umgang für sie ist." „Ihr wißt doch, daß er

nicht Schuld hatte an dieser dummen Geschichte. Es hat sich doch alles aufgeklärt. Warum seid ihr immer noch mißtrauisch? Reicht es nicht, was ihr angerichtet habt?" Ihre Stimme überschlug sich fast. Aber umsonst. „Ja das weiß ich nun nicht. Da muß ich meinen Mann fragen." Es half nichts. Diese dummen Leute waren schon wieder drauf und dran alles zu zerstören. „Dann frag` du deinen Mann," dachte das Mädchen und machte auf dem Absatz kehrt. „Der wird auch nicht klüger sein als die dumme Kuh."

Mit den verbliebenen acht Kindern und sechs Schlitten zogen sie hinaus vor das Dorf auf eine Weide am Berghang und tobten im Schnee, bis ein sich verflüssigender Teil davon durch Kleider, Handschuhe und Mützen gedrungen war und, vermischt mit Schweiß

und Kälte, ein Mißbehagen auf der Haut verursachte. Das aber erst, als sie zahlreiche Arten ausprobiert hatten, wie man per Schlitten einen Berghang hinab rodeln kann. Zum Beispiel: aufrecht sitzend mit den Füßen im Schnee steuernd. Oder auf dem Bauch liegend, als Ruder die Schuhspitzen, die es wenig dankbar quittierten, weil auf diese Art ihre polierte Oberfläche aufgerauht wurde. Ganz Verwegene probierten es rückwärts, landeten dafür um so sicherer und früher im Schnee.

Wird so ein Schlitten schwerer, fährt er schneller. Das merkten diejenigen zuerst, die aufgrund minderer Schlittenzahl zu Zweierkombinationen gezwungen waren. Erst hörte Daniel immer wieder rufen: „Jetzt will ich mal alleine!" Später fuhren sie vorzugsweise zu zweit. Dabei saßen entweder beide oder einer lag bäuchlings auf dem Schlitten, der andere hockte auf seinem Rücken und spornte scherzhaft mit freundlichen Schlägen auf des Pferdchens Hinterteil an. Interessant zu beobachten war, wenn vorher nicht abgesprochen wurde, wessen Pflicht das Lenken sei. Entweder lenkte keiner, was meistens das weniger schwerwiegende Unglück bedeutete, oder es wollten beide steuern, einer hinten der andere vorne. Ein abenteuerlicher Zickzackkurs war davon die Folge und ziemlich regelmäßig ein Ende im Schnee mit gegenseitigen Vorwürfen. Als

der schnellste Schlittendoppel feststand, kamen Ketten an die Reihe. Dazu wurden bis zu vier Schlitten aneinander gebunden, das heißt, daß sich alle Kinder daran beteiligten. Die beiden Großen sollten auf die leeren Schneefahrzeuge achtgeben und blieben von der Aktion ausgeschlossen. Ihr Einsatz wurde erst unmittelbar danach wieder von Nöten, weil das unausbleibliche Chaos nicht zur weichen Landung im Schnee, sondern zur schmerzlichen Konfrontation mit Schlittenkufen geführt hatte.

Ein buntes Bild hätte sich dem stillen Beobachter, wenn er vorhanden gewesen wäre, auf dem weißen Feld geboten. Hier ein Hemdzipfel, der eisbezapft und steif aus der Hose hing, dort ein verlorener Schuh, vermißte Mützen, durchlöcherte Handschuhe, die

vom vielen dran lutschen ganz unappetitlich dreinschauten, und müde, weinerliche Kinder, denen der Weg nach hause nun zu lang war.

Alles wurde wiedergefunden und soweit wie möglich in Ordnung gebracht, wenn auch nicht vom jeweiligen Besitzer, sondern von der Dorfkindertante, deren Eifer erst dort lebendig zu werden begann, wo die Kleinen längst einer von Müdigkeit und Ernüchterung geprägten Stimmung nachgegeben hatten.

„Wenn ich mit dir mal Schlitten fahren könnte, wie ich wollte..." träumte Daniel beim Schuhputzern vor dem Hauseingang, als alle Kinder wohlbehalten abgeliefert worden waren." „Was dann?" fing das Mädchen seinen halben Satz auf. „Ha, du würdest dich umschauen." Er wußte selbst nicht, wie er es meinte. Mit einem geheimnisvollen: „Wir werden ja sehen," drehte sie sich um und verschwand im Haus. Ferdinand war zwischendurch mehrmals wach gewesen und immer wieder eingeschlafen. Beinahe den ganzen Morgen über hatten die jungen Leute ihn vergessen können. Nun lag er da wieder

schwerfällig und breit mitten in ihrem Bewußtsein. „Ich bin froh, daß ihr kommt. Es war mir richtig unheimlich ganz alleine mit dem Alten," empfing sie die Mutter. Da das

Essen schon fertig war und der Vater nicht erwartet wurde, setzten sie sich zu Tisch. Nach so langer Zeit wieder richtiges Essen. Wie gut könnte das schmecken, wenn es nicht ständig diesen Kloß im Bauch gäbe wegen Ferdinand.

Für den Nachmittag hatten sie den Dorfkindern gesagt, daß sie sich alleine beschäftigen müßten. Daniel und seine Freundin statteten dem kleinen Mädchen, daß er einmal gerettet hatte, einen Besuch ab. Wie oft war er durch diesen kleinen Vorgarten geschritten und immer mit dem Gefühl freudiger Erwartung.

Wieder einmal war es Winter wie damals, als die neugierige Menschenmenge ihm bis vor die Haustür gefolgt war. Noch immer fiel der gepflegte Zustand des Gärtchens auf, selbst um diese Jahreszeit. Der Eingang war gewissenhaft vom Schnee befreit, die Sträucher

kurzgeschnitten und die Fußmatte vor der Tür ohne Schmutz. Mutter

und Töchterchen befanden sich daheim, die Frau unver ändert herzlich und gastfreundlich. Das kleine Mädchen war inzwischen großgeworden; das ehemals freundliche und offene Gesicht zeigte sich nun verschlossen. Alles hatte das junge Fräulein, was zu einem solchen gehört, doch wirkte es noch zu spitz und unausgereift.

Daniel vermißte jegliche Sanftheit an diesem Körper und den Glanz der Lebendigkeit in den Augen. Wohl reichte sie den beiden Gästen die Hand, hielt aber den Blick gesenkt dabei. Traurigkeit, Hochmut und Albernheit wechselten einander ab in ihrem Gebaren. Das Gespräch wurde in der Wohnstube beinahe ausschließlich mit der Mutter geführt, während das junge Mädchen in einem Buch blätterte. Wären sie nicht gebeten worden zu bleiben bis der Vater heimkäme, es hätte sie nichts gehalten.

Die Mutter war eine liebe Frau; das änderte aber nichts daran, daß sie ihnen fremd vorkam. Unangenehme Gesprächspausen entstanden, die vermehrt mit dargereichtem und vielfach angebotenem Gebäck ausgefüllt werden mußten. Als der Herr des Hauses

endlich eintraf, überwog in Daniels Herzen das Gefühl der Peinlichkeit, da der nun alles noch einmal abfragte, was auch die Mutter schon hatte wissen wollen. Es entstand daraus eine Kurzfassung mit gefühllos vorgetragenen Informationseineiten, die den Frager bald mit der Aufforderung: „Du mußt uns wieder einmal besuchen. Und Du natürlich auch," verstummen ließen.

Auf dem Heimweg besprachen sie das soeben miteinander Erlebte. „Sie ist lange Zeit zu mir in die Kindergruppe gekommen. Sie war die Einzige, die dich noch näher kannte. Du darfst es ihr nicht übelnehmen, wenn sie nicht so aus sich herausgeht. Ich war auch mal eine Zeit lang so. Niemandem gegenüber habe ich mich geöffnet. Nur von dieser Freundin geträumt. Ich glaubte, ihr alles erzählen zu können, wenn ich ihre Sympathie gewonnen hätte. Es ist ein seltsames Alter. Du warst wohl nie so?"

„Nein, wohl nicht," erwiderte Daniel nachdenklich. „Es war so leicht, ihr Herz zu gewinnen. Fast ging es wie von selbst. Und jetzt scheint es wie von selbst verloren. Merkwürdig, manchmal bekommt man etwas zu Anfang geschenkt und denkt, wie schön leicht und billig. Dann muß man es doch bezahlen plötzlich, sehr teuer."

Er war darüber trauriger geworden, als es von vornherein den Anschein gehabt hatte. „Nicht darüber nachgrübeln. Kinder sind so. Erst müssen sie vertrauen und offen sein gegenüber jedermann. Später kommt der Ausgleich. Stell` dir vor, du würdest

ohne Umsicht mit allen gleich Freund sein. Du wärst Betrügern schutzlos ausgeliefert." Darauf wußte Daniel nicht, ob er zustimmen sollte. „Lieber werde ich betrogen, als daß ich überall Mißtrauen hege." Es war dies eine fast trotzige Entgegnung und darum

zwecklos, das Gespräch fortzusetzen. Verschlossenheit mußte ansteckend sein, jedenfalls spürte Daniel das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Das Klügste, was mit solcher Laune anzufangen ist, wird geduldiges Abwarten sein. Bis zum Abendessen zögerte sich

diese Haltung hinaus.

Ferdinands Lager bedurfte der Reinigung, abermals, immerhin hatte er den ganzen Tag drinnen gelegen. Um ihm Windeln anzulegen, war er bereits zu groß, obwohl das den bequemsten Weg dargestellt hätte. Nach erneuter ärztlicher Untersuchung blieb Ferdinand eine Weile wach und setzte seine Prahlgeschichten fort, so lächerlich und übertrieben, daß Daniel Verwunderung darüber empfand, wie augenscheinlich interessiert seine Freundin hinhörte. Außerdem ärgerte ihn, daß wieder ein Tag vergangen war, an dem er sich Zärtlichkeit erhofft hatte und mit viel zu wenig davon zufrieden sein mußte. Betrübt verschwand er schließlich auf sein Zimmer. Ob sie wiederkäme, wie gestern abend? Er beschloß zu warten. Es dauerte. „Wenn sie nicht gleich kommt, gehe ich nachsehen," nahm er sich schließlich vor. Und dann: „Aber was soll ich ihr sagen?

Ich kann sie doch unmöglich fragen, ob sie mit mir in mein Bett kommt." Schlimm, wenn man etwas erwartet, was mal gewesen ist und wieder sein soll, aber nicht wird. Sehr spät am Abend, als Daniel bereits schlief, klopfte es an seine Tür.

„Hallo," flüsterte ihre Stimme. Aus dem ersten Schlaf aufgeschreckt fuhr er hoch. „Bist du's?" gähnte er. „Ich möchte mit dir Schlitten fahren," gestand sie. „Was, jetzt mitten in der Nacht?" Zu schwer lastete der Schlaf in seinen Gliedern, um diesem Gedanken einen Reiz abgewinnen zu können. „Ja, warum nicht? Schau mal raus, es ist ganz klar. Und guck mal, wie der Mond scheint. Mann du, ich werde verrückt. Los komm!" Sie meinte es offenbar ernst. Daniel erhob sich und blickte aus dem Fenster über das verschneite Dorf. Es war alles so ruhig. Nichts rührte sich draußen. Mit einem Mal war es da, der Anflug von Abenteuer, den der Gedanke an nächtliche Unternehmungen gemeinhin aufkommen läßt. Sterne sind nichts Besonderes. Es gibt sie zuweilen im Bewußtsein der Menschen. Auch Nächte kommen immer wieder vor. Selbst Schlittenfahrten, die gewiß seltener sind, lassen sich denken. Aber alles zusammen und dazu mit diesem Mädchen? Daniel, du Glückspilz. Hast du gerade noch an Schlaf gedacht?. Nichts wie auf und hinaus. Aber wie? Freundliche Eltern können des Nachts zu Wachhunden werden.

„Wo steht der Schlitten? erkundigte er sich flüsternd. „Im Schuppen, wo wir ihn heute mittag gelassen haben." „Und wie kommen wir raus?" „Zieh` dich an. Ich zeig` dir` s." Anziehen, ach ja natürlich. Hier vor ihr? Warum denn nicht? Jetzt machten sie

besonders leise, weil das die Spannung erhöhte. Hei, war das ein Mädchen. Aus dem Fenster, über die Dachschindeln, über Ablaufrohr und Regentonne in den Garten. „Kommst du?" „Warte, ich hänge fest." Ratsch! „Was ist? Zeig` mal. Das nähe ich dir morgen." Wie erwartet, fanden sie den Schlitten. Damit war Teil eins der Aktion beendet und ein schönes Stück Spannung ebenfalls. Bis zum Berghang zogen sie beide den Schlitten schweigend. Ein paar Abfahrten auf der Strecke von heute vormittag und der Reiz ließ erheblich nach. „Komm, ich weiß einen Weg mit vielen Kurven. Da fahren wir jetzt zusammen runter," schlug sie vor. Wieder zogen sie ein Stück schweigend. „So hier, paß auf. Ab dieser Stelle geht es einigermaßen. Leg` du dich auf den Bauch. Ich lenke." „Nein, laß mich, sonst weiß ich nicht, wohin mit meinen langen Beinen," bat Daniel. Sie setzte sich zunächst zum Scherz auf seinen gepolsterten Teil und ritt ein wenig auf ihm herum, so daß Daniel jedesmal sein Becken gegen die Latten des Schlittens gepreßt fühlte.

„Hei, mein alter Gaul, etwas schneller, wenn ich bitten dürfte." Später saß sie auf seinem Rücken und freute sich über den Wald, der vorbei rauschte mit seinen weißverpackten Fichtenzweigen. Daniel sah in der Hauptsache auf den Weg unter und vor sich, wenn er den Kopf in den Nacken legte. Heißa, war das eine herrliche Abfahrt. Einmal kamen sie vom Weg ab und landeten gegen eine Böschung. Im weiteren Verlauf aber ging alles glatt.

Schließlich endete das Gefälle des Weges, und der Schlitten lief gemächlich aus. Noch einen Meter, ein kleiner Ruck, darauf noch einen halben. Jetzt standen sie still. Wie Silberlametta glitzerte es im Schnee. Beide verharrten sie eine Weile in ihrer Ankunftsposition. Als sich Daniel vom Schlitten gerollt hatte, blieb das Mädchen auf seinem Körper sitzen, so daß er nun mit dem Rücken im Schnee lag und abwechselnd zu den Sternen aufschaute und wieder in ihre Augen, die dunkel und geheimnisvoll

auf ihn herabblickten. „Du entkommst mir nicht so leicht," hörte er sie scherzen, aber die Sterne waren mächtiger für einen Augenblick. „Wir zwei hier unten und die Unendlichkeit da oben," sinnierte er andachtsvoll. Beide lehnten sich halbsitzend gegen den Schlitten und umfaßten einander. Sie schmiegte ihr weiches Haar gegen seine Wange und flüsterte: „Ich kann es eigentlich gar nicht glauben, daß du von da oben kommst. Wie war das? Wer hat dir die Flügel gegeben? Es ist so unwahrscheinlich." „Ich glaub`

es beinahe selbst nicht mehr," antwortete Daniel. „Wenn ich es nicht wüßte. Nur noch die Sehnsucht ist mir vertraut geblieben. Ich weiß von keiner Zeit mehr, die war, bevor ich die Flügel bekam. Ich erinnere mich nur noch, wie herrlich die Welt mir erschienen ist in dieser Unendlichkeit und daß ich einfach nicht anders konnte, als hier zu landen." „Hast du es denn bereut?" „Bereut? Ich weiß nicht. Oft hab` ich geglaubt, ich sei hier verloren und daß es keinen Ausweg mehr für mich gibt. Aber bereut?" Daniel schwieg. „Weißt du denn wie das ist: vollkommenes Glück?" „Mit dir habe ich es mir vollkommen vorgestellt," gestand er ihr. „Und bist du jetzt enttäuscht?" forschte sie weiter. Glück kann man sich nicht denken. Es ist immer ganz anders. Wenn ich es könnte, bräuchte ich ja nur in meinen Träumen zu leben. Dann wäre jede Wirklichkeit überflüssig. Aber das Erleben ist immer anders, viel tiefer, viel ergreifender. Es läßt sich nicht beschreiben. Du kannst es nur erleben." Als sie sich ansahen, teilten sie den gleichen Gedanken. „Laß es uns erleben." Sie legte sich über ihn und umschlang ihn mit beiden Armen. Ihre Lippen

berührten sich und zupften aneinander. Kalt und klar war die Nacht. Aber heiß und klar wollten sie zeigen, daß sie lebten. Welche Grenzen gelten unter dem weiten Sternenzelt? Welche Zeit bestimmt über Glauben und Empfinden? Auch dieses Zusammensein

hatte irgendwann ein Ende. Aber Zeit im Empfinden unterlag anderen Gesetzen. Ein Morgen kam, das steht fest, genauso fest wie die Grenzenlosigkeit dieser Nacht.

Noch zweimal leistete Daniel seinem Mädchen Gesellschaft bei der Betreuung der Dorfkinderschar, dann ertrug er das Mißtrauen derer nicht mehr, die sich durch ihre Eltern gegen ihn eingenommen zeigten. „Es sind doch nur Kinder. Sie reden halt

etwas unbedacht, aber das brauchst du doch nicht ernstzunehmen," versuchte sie ihn zu beruhigen, nachdem er seinen Entschluß, den Treffen und Unternehmungen fernzubleiben, bekundet hatte. „Das habe ich mir auch gesagt. Und dann wollte ich wieder fröhlich sein und mit ihnen lachen. Aber spätestens nach dem zweiten Rückschlag bin ich aus der Fassung gebracht. Schließlich ärgere ich mich über mich selber, weil ich es viel zu ernst nehme, aber dann ist es erst recht vorbei. Also spare ich mir doch besser die Enttäuschung."

Ein wenig hoffnungslos versuchte seine Freundin noch einzuwenden: „Und wenn ich mal mit den Eltern rede?" Aber Daniel wollte nicht mehr. „Dann wird das ganze noch verkrampfter. Laß nur! Ich kümmere mich halt solange um Ferdinand. Sie tat erstaunt: „Ich hatte eher den Eindruck, den wolltest du los sein. Woher jetzt auf einmal die Anteilnahme?" „Wie kommst du denn darauf?" empörte er sich. „Schließlich war ich es, der ihn hierher gebracht hat, oder?" Ein wenig erschrocken über den harten Ton

ihres Gespräches, versuchte sie zu besänftigen: „Ich will dir doch keinen Vorwurf machen. Ich verstehe ja, wenn es dir nun allmählich zuviel wird mit ihm. Er hat dir doch lange genug am Halse gehangen." „Das habe ich nie gesagt," verteidigte er sich noch

immer. Ich fand es nur nicht gut, daß du ihn bei seinen Spinnereien und Gotteslästerungen auch noch unterstützt hast. Das heißt aber lange noch nicht, daß ich mich für ihn nicht mehr verantwortlich fühle." „Hey, du bist ja richtig ärgerlich," versuchte sie ihn zu necken. Dann wieder ernst: „Es stimmt nicht, daß ich ihn bei seinen Spinnereien unterstützt habe; ich habe nur nicht immer was dagegen gesagt, weil ich möchte, daß er sich kurz vor seinem Tod nicht mehr aufregen muß." „Was sagst du? Du denkst, daß er bald stirbt?" Daniel war aufrichtig erschrocken. „Hat dir das mein Vater nicht gesagt?" Kopfschütteln. Nach kurzem Schweigen: „Ich wollte es ihm nur noch ein bißchen schön machen. Er hat doch jetzt nichts mehr als seine Vergangenheit. Aufstehen kann er nicht mehr, nicht lesen oder schreiben, nur schlafen, krank sein und Schmerzen ertragen. Das ist doch furchtbar." „Und du meinst, es ist ganz egal, womit er seine letzte Freude hat? Selbst eine Lüge dient dabei zum Guten? Ich habe immer versucht, ihm seine

Schuld klarzumachen, damit er es einsieht und bereut. Manchmal dachte ich schon, er wäre soweit. Deswegen ärgert es mich, wenn er vor dir so angibt. Nur wenn Gott ihm vergeben hat, kann er Frieden finden." „Glaubst du wirklich, du kannst einen Menschen

am Ende seines Lebens noch umkehren?" fragte sie zweifelnd. „Ja, was denn sonst?" ereiferte sich nun Daniel. „Wenn Gott ihm seine Schuld nicht vor dem Tod vergibt, ist er verloren." „Und du denkst, du kannst es erzwingen. Der große Gott, der schändliche

Ferdinand und du als derjenige dazwischen, der beide zusammenbringt? Das ist doch albern. Entschuldige, aber das finde ich einfach... ich weiß nicht..., irgendwie überheblich." „Ich weiß selber, daß ich nichts kann im Vergleich zu Gott. Aber warum hat er uns als seine Botschafter bestimmt, wenn er es soviel besser könnte? Wir sollen doch füreinander sorgen, oder nicht?"

Daniel war sehr unzufrieden mit dem Verlauf dieses Gespräches. Seine Freundin blieb ruhig. „Ich denke mir, Gott braucht uns nicht, um sein Ziel zu erreichen. Wenn er uns aber verwendet, dann deshalb, weil es uns selber guttut." „Das wäre ja der pure Egoismus, wenn ich mich nur um andere kümmere, weil es zu meinem Besten dient. Irgendwie haut das alles nicht hin. Dann ist wohl Ferdinand auch nur so, damit ich begreife, wo es hinführt, wenn einer so ist? Ein abschreckendes Beispiel?" „Laß` gut sein! Das denken darüber hilft nicht. Probiere es aus, aber grüble nicht soviel. Wir finden sonst kein Ende. Und wem hilft es, wenn wir verzweifeln daran? Kümmere dich um Ferdinand und ich mich um „meine" Kinder. Alles andere laß Gottes Sache sein. Willst du?" Sie schloß mit einem Lächeln, das Daniel Stolz auf sie empfinden ließ. „Ein kluges Mädchen. Gott weiß, warum er sie mir gegeben hat," dachte er bei sich. Von da ab bemühte er sich wieder um Ferdinand, sooft der wach lag, und sie ging allein zu „ihren" Kindern.

Wieder einmal hatte der Alte einen schweren Anfall erlitten und mußte mit starker schmerzstillender Medizin zur Ruhe gebracht werden. Daniel hatte deshalb für eine Weile keine Aufgabe und kam ins Nachdenken. Einen halben Tag lang saß er nur rum, den

einen oder anderen Gegenstand in den Händen haltend, ohne Antrieb und Mut. Als der Doktor ihn so erblickte, sprach er ihn an: „Diese Figur da ist nicht aus Holz. Das ist indisches Elfenbein. Eine sehr schwierige Arbeit, die viel Geduld erfordert. Mein

Vater hat sie mal einem durstigen Seemann abgekauft." Daniel zuckte mit den Schultern. Er wußte nicht recht, was er mit dem Gespräch anfangen sollte. Ins Blaue hinein entgegnete er um irgend etwas zu sagen: „Und welchen Sinn hat sie? Wenn jemand solange daran gearbeitet hat, dann muß das doch für was gut gewesen sein?" Er hatte seine Sätze nicht besonders durchdacht und war deshalb erstaunt, daß der Doktor darauf einging. „Sie ist halt schön. Man freut sich, wenn man sie sieht. Und dem Künstler hat

sie wahrscheinlich viel Anerkennung und Freude eingebracht, als er sie vollendet hatte." „Und das ist ihr ganzer Sinn?" entgegnete Daniel verständnislos." „ Worin liegt mehr Sinn? Wenn ich jemanden von einer Krankheit heile und der stirbt hinterher doch

irgendwann? Ist das sinnvoller? Aber so habe ich noch nie gefragt. Ich freue mich, wenn einer gesund geworden ist, ganz gleich, was am Tag darauf passiert. Willst du nicht mal wieder mitkommen ? Ich hätte eine Menge für dich zu tun. Bestimmt würde es dir Freude machen." Nun konnte sich Daniel nicht länger bitten lassen. Und besser als herumsitzen war es allemal.

X

Es kommt vor im Leben, daß, wenn eine einschneidende Veränderung erwartet wird, die nicht an einen bestimmten Zeitpunkt, wohl aber an ein Ereignis geknüpft ist, welches unvermutet lange auf sich warten läßt, wir in einen Alltagsrhythmus zwischendurch

übergehen, der, tritt das Erwartete endlich ein, einen Überraschungseffekt schafft, wie ihn völliges Unvorbereitetsein nicht drastischer hervorrufen kann. In dieser Geschichte kam aber noch eine wirkliche Überraschung hinzu.

Unangekündigter Besuch aus der Stadt war erschienen. Immer noch Junggeselle war es dem Bruder des Doktors zur Zeit des herannahenden Frühlings in der Stadt zu eintönig geworden. Wie staunte er, als er seinen Schüler wiedersah. „Dich hätte ich nur noch im Kloster zu treffen vermutet. Aber so ist es lustiger."

Noch mehr Begeisterung zeigte er über Ferdinands Anwesenheit: „Ich werde verrückt! Wie kommt denn der hierher. Das gibt` s doch nicht. Den kenne ich doch. Warte mal, wie heißt er doch gleich? Ferdinand, nicht war? Also, daß ich den noch mal wiedersehe. Zufälle gibt's." Eine typische Einleitung für eine effektvolle Begegnung hatte er sich da herausgesucht . Die großen fragenden Augen der Umstehenden zeugten dann auch von der Neugier, die er zu wecken erhofft hatte. „Du kennst ihn. Das ist ja mal eine

interessante Neuigkeit. Willst du uns auch verraten woher? Oder sollen wir an diesem Geheimnis verschmachten?"

Die beiden Brüder nannten zwei Herzen und zwei Leben ihr eigen, welche sie strikt

voneinander unterschieden wissen wollten und das in erster Linie in Anwesenheit Dritter. „Ich finde Geheimnisse ergötzlich. Und fast ist es zu schade, wenn eins preisgegeben wird. Aber nun denn: Ihr sollt es hören. Es ist beinahe zwanzig Jahre her. Wir, der Nandi und ich, zogen mit einem Wanderzirkus umher. Ja, da staunt ihr, was? Der große Nandi, so hieß er auf den Plakaten. Wir kündigen ihn als den größten Clown aller Zeiten an. Ich habe größere gesehen, aber er hatte was drauf. Wir waren nur eine kleine Truppe. Jeder brachte wenigstens zwei Nummern. Auch ich bin zusammen mit ihm aufgetreten. Hat er euch wahrscheinlich nie erzählt. Könnte ich mir jedenfalls denken. Es ist da nämlich mal

was passiert. Solange wie das her ist, wird er sicher nichts dagegen haben, wenn ich über rede. Und so wie ich das sehe, macht der es ja ohnehin nur noch kurze Zeit.

In einer kleinen Stadt, wo wir für eine Woche auftraten, besuchte jede unserer Vorstellungen ein Mädchen, fast noch ein Kind. Also, wenn sie vierzehn war, dann ist das hochgegriffen. Nun muß ich ja zugeben, daß Kinder immer fasziniert von ihm waren, nicht nur, wenn er als Clown auftrat. Dieses Mädchen aber wurde nicht wieder normal. Sie begann, ihn zu vergöttern. Und anstatt, daß er sie zur Vernunft gebracht hätte, lud er sie zu sich in den Wagen und gab Privatvorstellungen. Dabei war er fast mehr Kind als sie. Wenn man ihn zwischendurch unterbrach, um ihn was zu fragen, war mit keiner

vernünftigen Antwort zu rechnen. Ja, und dann passierte es! Die letzte Vorstellung in der Stadt. Die beiden waren fest entschlossen gegen allen Widerstand zusammen zu bleiben. Stellt euch das mal vor: ein erwachsener Mann und ein Kind, ein Liebespaar ohne Verstand. An diesem Abend hat er wirklich den Titel „Der große Nandi" verdient. So etwas von Ausdruck, Mimik, Gestik und Feingefühl. Es war einfach überwältigend, selbst für mich, der täglich mit ihm zusammen war und seine Späße kannte. Nach der Vorstellung sollte schon das Gröbste eingepackt werden. Am nächsten Morgen wollten wir in aller Frühe weiter. Ferdinand verschwand am Abend. Er ging mit dem Mädchen spazieren und blieb die halbe Nacht weg. Am nächsten Morgen war Polizei da. Ja, und

dann fanden wir die beiden in seinem Wagen. Die Kleine völlig nackt in seinem Bett. Noch nicht mal richtig was dran hat die gehabt. Aber das hat ihn offenbar nicht gestört. Es gibt schon seltsame Liebe. Die zwei waren keineswegs davon zu überzeugen, daß sie

Unrecht begangen hätten. Niemand würde sie trennen können, keine Macht der Welt. Und die Kleine stand voll zu ihm. Natürlich wurde sie in die Obhut der Eltern zurückgegeben, und wir nahmen Ferdinand mit. Es sollte kein Aufhebens davon gemacht werden.

Aber eine Woche später war sie wieder bei ihm. Er gab sich noch nicht mal besondere Mühe, das zu verheimlichen, dieser Narr. Glaubte doch tatsächlich, das, was er seine Liebe zu ihr nannte, rechtfertigte jede Tat. Was haben wir ihm zugesetzt! Man stelle

sich die Angst der Eltern vor. Das zählte alles gar nicht. Nur ihr Gefühl für einander war wichtig. Schließlich mußte man ihm mit Gefängnis drohen und dem Mädchen mit Erziehungsanstalt. Sie würden sich beide umbringen, haben sie entgegnet. Lieber tot als

getrennt. Wir mußten die Polizei wieder einschalten. Und ehe die kam, waren sie verschwunden. Eine Woche lang hat man sie gesucht. Sie hielten sich in den Wäldern versteckt und wären wohl nie gefunden worden. Aber dann tauchte Ferdinand wieder auf: allein. Er sagte: „Das Mädchen ist tot. Jetzt könnt ihr mich einsperren."

Erst haben wir das für einen Trick gehalten. Aber er konnte uns zu ihrem Leichnam führen. Es hat sich dann herausgestellt, daß sie beide hatten Gift nehmen wollen, um zusammen zu sterben. Ferdinand hatte das Pech zu überleben. Für ihm war die Dosis nicht stark genug gewesen. Das tote Kind aber und die Übelkeit haben ihn von jedem weiteren Selbstmordversuch abgehalten. Er ist nie wieder bei uns aufgetreten. Man hat ihn nicht mal verurteilt, weil man fürchtete, er würde sich dann sowieso umbringen. Aber damit war's vorbei. Er wollte um jeden Preis ins Gefängnis, hat gefleht und gebettelt, daß man ihn doch bestrafen möge, aber nicht mal zu einer Verhandlung ist es gekommen. Seltsam, nicht? Wegen einem Kind. Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen. Jetzt staunt ihr, was? Wen ihr da bei euch habt. Zufälle gibt` s."

Staunen war gewiß ein milder Ausdruck und obendrein noch ziemlich unzutreffend, jedenfalls für das Gefühl, was Daniel empfand. Darin mischten sich Erleichterung, Freude, Bewunderung, auch Eifersucht, Empörung und Stolz. Ein wahrhaft buntes Gemisch.

„Mir hat er mal erzählt, daß er früher zur See gefahren sei. Selbst ein Schiff will er besessen haben und sehr reich gewesen sein. Was stimmt denn nun," überlegte Daniel halblaut in den Raum hinein. Sie standen immer noch um das Bett von Ferdinand, in dem es still blieb, weil der Kranke schlief.

„Ein Schiff will er gehabt haben? Also von der See hat er mal was erzählt, wenn ich mich recht erinnere. Warte mal! Es ist wirklich solange her, daß wir zusammen aufgetreten sind. Wir haben mal eine Posse aufgeführt unter dem Titel: Alles klar an

Deck, Herr Kapitän. Das war so ein Klamaukstück mit Schrubber und Scheuereimer, wo der Maat dem jüngsten Matrosen „Klar Schiff" befiehlt und es zu allerlei kleinen Unfällen kommt. Er hatte sich den Dialog ausgedacht und was sonst dazugehörte. Eigentlich war es eher ein bitteres Stück. Ja, da fällt` s mir ein, wie er mal erzählt hat von der Willkür der Vorgesetzten, die selber nichts können, aber von ihren Leuten alles verlangen. Wenn der zur See gewesen ist, dann nur als Matrose und höchstens für eine Fahrt. Und das wird ihm dann sein Leben lang gereicht haben, bei der Behandlung, die er da erfahren hat."

„Also," schloß Daniel zu seiner Freundin gewandt, „war das alles, was er uns vormachen wollte, nur der Versuch seiner Seele, das Erlebte in der Vorstellung zu berichtigen. Mich wundert nur eins: warum erzählt er es so, daß sein Schuldanteil viel größer wird? Ich könnte es verstehen, wenn jemand versucht, sich mit einer anderen Geschichte zu entlasten. Er aber klagt sich eines Verbrechens an, das er nie begangen hat. Sogar die Schuld an einem zweiten Mord gibt er sich. Will er keine Vergebung?"

An dieser Stelle schaltete sich der Doktor ein: „Ich glaube, er will um jeden Preis unschuldig schuldig erscheinen, aber dagegen wehrt sich sein Gewissen, denn er ist bei dem Versuch, gemeinsam mit dem Mädchen zu sterben, gescheitert. Der zweite Mord ist der Selbstmord, den er nicht begangen hat, ein wenig frei ausgedrückt. Aber sollen wir nicht besser in seiner Gegenwart davon schweigen? Er könnte jeden Moment aufwachen. Eine Klärung dieser Zusammenhänge würde ihm jetzt auch nicht mehr helfen."

Während sie gemeinsam ins Nachbarzimmer, der Schreib- und Bücherstube des Arztes schritten, erregte sich Daniel, nur mühsam gedämpft: „Dann ist er also aufgegeben? Hat sein Leben vertan? Ja, sollen wir an dieser Stelle befinden, daß er sich selbst gerichtet hat und verloren ist?" „Was zählt unser Ermessen darüber? Er stirbt. Wäre es nach ihm gegangen, wäre er längst tot. Seiner Natur entsprechend war er nicht gedacht für Familie und Fortpflanzung. Deshalb ist er einen Weg gegangen, der nicht ins Allgemeinziel führt, sondern ins Abseits. Aber wirklich, wir sollten darüber nicht befinden. Es wäre Anmaßung. Jeder von uns hat seine klar zugewiesene Aufgabe. Die wollen wir wahrnehmen. Ich halte es übrigens für besser, wenn Ferdinand dich nicht mehr sieht. Du kannst gern mein Gast sein. Aber halte dich bitte zurück."

Die letzten Sätze hatte der Doktor an seinen Bruder gerichtet. „Übrigens, ihr werdet das Zimmer oben nun teilen müssen. Aber ihr seid ja an Zusammenleben gewöhnt." Daniel war darüber verständlicherweise wenig begeistert. Nur konnte er nichts sagen, ohne sich zu verraten.

Die nächsten drei Tage wurden für Ferdinand zum letzten Kampf, allerdings mehr mit dem Leben, als mit dem Tod. Richtig zu Bewußtsein gelangte er überhaupt nicht mehr, soweit darüber von

außen zu urteilen war. Im Fieber stammelte er kaum verständliche Sätze, aus denen aber doch hervorging, daß der Dichter die Wahrheit gesagt hatte. „Wir wollen sterben," wiederholte er ständig zu einer fiktiven Person. Und auch: „Wenn es wahr ist, wenn es

nur wahr ist." Dabei schüttelte er den Kopf heftig von einer auf die andere Seite. Für Hustenanfälle war sein Körper lange schon zu schwach. Der Rest an Kraft verbrauchte sich im Fieber. Seine letzten Worte, die Daniel deutlich verstand, waren: „Warum gehst

du allein? Geh` nicht allein, bitte geh` nicht allein."

Er hing förmlich an den Lippen des Sterbenden, als könnte er ihm noch ein letztes Geheimnis entlocken. Eine starke Spannung hatte ihn ergriffen. Beinahe jeder Gesichtsmuskel schmerzte. Der Tod hatte plötzlich ein leichtes Spiel mit Ferdinand.

Als Daniel bemerkte, daß der alte Kamerad aufgehört hatte zu atmen, und bei ihm auch keinen Herzschlag mehr verspürte, fühlte er, wie diese ungeheure Spannung von ihm wich und begann zu weinen. Es war ein Weinen ohne Geräusch, ein bloßes Laufenlassen

der Tränen. Wo die hinwollten, durften sie hin. Er gab ihnen völlige Freiheit. Kein Gedanke hielt sie auf, kein Einwand, kein Anderswollen. Ferdinand war tot, und er durfte es sein. Niemand und nichts mehr sollten ihn daran hindern.

Es hatte eine Zeit gegeben ohne diesen Menschen. Dann war da eine gewesen mit ihm, und nun war es wieder wie vorher. Woher kamen nur, überlegte Daniel, die

Vorstellungen von ewigem Leben. Eine Ewigkeit dauert es, bis ein Mensch geboren wird. Dann lebt er für kurze Zeit. Und dann ist es wieder eine Ewigkeit nach seinem Tod. Vergleicht man daher Sein und Nichtsein miteinander, ist Nichtsein der Normalzustand, das weitaus überwiegende. Kann sich ein Mensch an die Zeit vor seiner Geburt erinnern? Empfindet er ein Leid darüber, wenn er lebt, daß er nicht früher schon gelebt hat? Wohl kaum. Der Zustand nach dem Leben ist der gleiche wie davor. Wozu also Leid über Tod empfinden? Außerdem, was bewirkt es? Wenn es zu wählen gäbe... Wer wählen kann, muß kämpfen. Ist demnach der Tod Gottes unendliche Gnade? Ja, wenn es keine Auferstehung gibt, dann ist der Tod das Ende alles Leides in Ewigkeit. Wozu aber die Sehnsucht nach Leben in Ewigkeit? Das wäre doch völlig sinnlos, wenn wirklich der Tod

das endgültige Ziel darstellt. Müßte ihm dann nicht alles Streben gelten? Gilt es ihm? Mitnichten. Ohne zu denken, strebt der Mensch. Mit diesem Streben kommt er zur Welt, und dafür nimmt er alles Leid auf sich. Kann dann das Leid, das aus dem Leben kommt,

zum Tode führen?

Allzu eindeutig menschlich blieben Daniels Gedanken, um sie anders als in Frageform auszudrücken. Als Fragen werden sie weitergegeben von Generation zu Generation.

Das Problem Ferdinand war insofern noch nicht vollständig gelöst, als die Beseitigung seines Leichnams nochmals Aufruhr im Dorfe schaffte. Auf den Friedhof sollte er keinesfalls zu liegen kommen, weil er ein Fremder war und ein Beinaheselbstmörder. Wer hatte darüber die Anwohner informiert? Es gehörte wohl einige Sensationslust dazu, wenn nicht gar Böswilligkeit, um aus Ferdinands innerstem Gefühlsleben zu plaudern. Wieder einmal war der Ärger perfekt. Auch außerhalb des Friedhofs sollte niemand zu

liegen kommen, einfach weil alles seine Ordnung haben mußte und nicht an jeder beliebigen Stelle Leichen vergraben werden sollten. Im Hause des Doktors konnte der Tote ebenfalls nicht bleiben. Die Gründe dafür werden ohne weitere Erklärung einleuchten.

„Wir begraben ihn einfach heimlich. Es ist ja wirklich nicht wichtig, wo er liegt," schlug Daniel vor, um Ärger aus dem Wege zu gehen. Doch auch dieser Lösungsvorschlag fand Einspruch: „Das wäre ja noch schöner. Müssen wir uns schämen, weil Ferdinand bei uns gestorben ist? Sollen wir handeln wie ein Verbrecher, weil irgendwelche engstirnigen Leute nicht einsehen, was notwendig ist?" Daniels Freundin war aufgebracht. Sie kochte vor Entrüstung. Der Doktor unterstützte ihre Meinung: „Wir legen Ferdinands Leichnam einfach in den Garten der Leute, die am lautesten gegen eine Bestattung auf dem Friedhof getönt haben. Wenn sie schon nicht Vernunftgründen zugänglich sind, dann treibt sie

vielleicht der Gestank zur Einsicht."

Es klingt wahrscheinlich ungewöhnlich, aber genauso geschah es. Es kam nicht einmal zum Stinken, bis ein Komitee gebildet war, das ernsthaft über das zu Geschehende nachdachte. Auf dem Friedhof in geweihter Erde durfte man auf keinen Fall jemanden begraben, der zu Selbstmord bereits alle Schritte unternommen hatte. Also an ungeweihter Stelle, aber nahe des Friedhofs. Feierlichkeiten fanden nicht statt. Es half nur die ganze Familie, das Grab auszuheben, jemand besorgte eine passende Kiste, und die Frauensleute sammelten einige Fichtenzweige, weil mehr um diese Jahreszeit nicht aufzutreiben war. Daniel gedachte hinterher noch aus der Bibel zu lesen, aber es regnete, und sie wollten so bald wie möglich wieder Zuhause sein. „Das können wir genauso

in der warmen Stube," meinte seine Freundin. „Er hört uns sowieso nicht, und Gott folgt uns in die engste Hütte." Zuletzt unterblieb es jedoch ganz, weil ein Streit zwischen den beiden Brüdern die Stimmung zum Bibellesen verdarb. Der eine konnte den anderen

nicht verstehen, wie er bewußt hatte für Unfrieden sorgen müssen. „Ach, ihr in diesem Kaff. Wenn man euch nicht mit der Nase drauf stößt, in was für einer muffigen Befangenheit ihr lebt, fällt keinem je ein, für Veränderung zu sorgen. Mit ist Unfrieden

lieber, der zu offenen Konfrontationen führt, als Scheinfriede, der nur die Borniertheit der Leute überdeckt," verteidigte er sich. „Du scheinst zu vergessen, daß du hier Gast bist. Wer mein Gast sein will, der möge sich beschweren, wenn er abreist. Dann weiß ich, daß ich ihn nicht wieder einzuladen brauche. Aber meine Probleme muß er nicht lösen, geschweige denn, mir neue zu schaffen."

Es wurde einer jener Streits, bei denen der Ärger die Oberhand behält und der zu Trennung führt.

Daniel ertappte sich, wie er insgeheim ganz froh darüber war, weil er sein Zimmer nicht mehr teilen mußte und nun viel lieberen Besuch darin empfangen konnte. Er fühlte sich nur nicht ganz glücklich dabei, da ihm das Verlangen nach seinem Mädchen so kurz nach einem Todesfall unsittlich vorkam.

Am Abend lag er langausgestreckt auf seinem Bett, starrte gegen die Bretter der Dachschräge und versuchte, mit sich ins Reine zu kommen. Worum ging es? Welche Entscheidung lag an? Ferdinand war tot und begraben, er hingegen lebendig und hungrig

nach Liebe oder wie das Begehren in ihm heißen mochte. Fühlte er noch Traurigkeit über diesen Tod in sich? Seit einiger Zeit hatten sie alle im Hause darauf gewartet oder doch stündlich damit gerechnet. Nun war das Ereignis eingetreten und damit erledigt,

nüchtern betrachtet. überhaupt war Daniel doch in dieses Dorf zurückgekehrt, um Heimat, Geborgenheit und Liebe bei diesem Mädchen zu finden. Was stand jetzt noch im Wege? Die Frage, wie sie miteinander leben sollten oder wovon, vielleicht gar überhaupt.

Es schien an der Zeit, mit ihr darüber zu reden. Also auf, Daniel, was liegst du noch und sinnierst? Vielleicht kommt sie ja gleich von selber herein und setzt sich zu ihm! Nein, dieses mal nicht. Aber das mußte nichts bedeuten. Er stand auf und schlich

sich zu ihrem Zimmer. Behutsam öffnete er die Türe und fand sie bereits im Nachtgewand in ihrem Bette liegend.

„Darf ich hereinkommen?" fragte er mit gespielter Höflichkeit. „Du bist schon drin," antwortete sie und versuchte zu lächeln. Ihre Augen leuchteten gerötet und waren dunkel umrandet.

„Hast du schon geschlafen?" erkundigte er sich und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. „Nein, noch nicht ganz, du?" „Dann wäre ich nicht hier, oder?" Er blickte in ihre Augen und erkannte, daß sie geweint hatte. „Hast du was? Soll ich lieber gehen?" Daniel

wurde unsicher. So wie sie jetzt aussah, wirkte sie alles andere als reizvoll auf ihn. „Nein, bleib` doch. Es ist nichts, fast nichts." Er streichelte sanft ihre Wange, und sie bemühte sich zu lächeln. „Du hast geweint. Deine Augen sind ganz rot," sprach er leise. „Willst du mir sagen, was es war? Schau, ich möchte dein Freund sein. Ich will dich ganz verstehen können, aber du mußt reden." Sie nickte nun kaum merklich mit dem Kopf, der auf dem

Kissen ruhte. „Ich hatte gehofft, du würdest wiederkommen und wir könnten glücklich miteinander sein. Aber wenn irgendwas ist, laß uns erst darüber reden."

Er wartete auf eine Erklärung, aber sie blieb stumm. Kämpfte sie schon wieder mit den Tränen? Es sah so aus, als hielte sie die Zähne fest aufeinander gebissen. „Bitte laß uns darüber reden, oder kannst du nicht," wiederholte Daniel und versuchte, ihre Hand zu greifen. Sie schüttelte den Kopf und zog die Hand zurück. „Wenn es dir hilft zu weinen, dann schäm` dich nicht vor mir. Ich möchte dir gerne helfen," glaubte Daniel. Sie senkte die Lider und ließ ihre Tränen laufen. „Mein Gott, warum ist das alles so schwer," schluchzte sie. Und noch immer hatte Daniel nicht die geringste Ahnung, worum es ging.

„Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen, ich meine, was werden soll mit uns beiden. Aber das geht jetzt wohl nicht, oder? Du weinst meinetwegen, ja? Sieh` mal, ich war gerade wieder so hungrig nach Zärtlichkeit mit dir." Er sprach mit Pausen nach den

einzelnen Sätzen. Sie schniefte zwischendurch, suchte ihr Taschentuch und putzte sich die Nase. Durch diese alltäglichen Griffe trat ihr Traurigkeitsgefühl etwas in den Hintergrund.

„Ich weiß, daß ich dich gern habe, aber manchmal kommt es mir vor, als ob wir unendlich weit voneinander entfernt sind. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Außerdem habe ich Angst, dir wegzutun." Da sie nicht weiter sprach, versuchte er sie zu trösten

und zu ermutigen: „Wenn es wegen mir ist, brauchst du nicht bange zu sein. Ich bleibe bei dir, wenn du willst, und wenn du nicht willst, kannst du es mir ruhig sagen. Wenn ich dir nur helfen könnte, wenn ich nur wüßte, was dich so bedrückt. Ich liebe dich doch. Ich will doch, daß du glücklich bist. Niemals werde ich mich aufdrängen, wenn ich sehe, daß ich dir im Wege bin." Wieder versuchte er sie zu streicheln. Diesmal ließ sie es zu, aber er bemerkte, daß es sie Überwindung kostete. „Weißt du noch," begann er erneut, „wie ich dir beim Abschied den goldenen Seidenfaden gab?" Sie nickte. „Hast du ihn

noch?" „Mmh," machte sie und deutete mit dem Kinn auf den Schreibtisch. „Ich wollte dir, wenn ich wiederkomme, ein Paar goldene Flügel mitbringen. Statt dessen habe ich Ferdinand gebracht. Seltsam, nicht wahr? Oder soll ich lieber still sein?"

unterbrach er sich. „Sprich weiter," forderte sie ihn mit dünner Stimme auf. „Ich habe keine goldenen Flügel gefunden für uns beide. Wir müssen in dieser Welt bleiben bis wir sterben, wie Ferdinand. Was ich gefunden habe, ist eine neue Hoffnung, Jesus Christus.

Sie sagen, er kann befreien, und er kann uns Liebe schenken. Wir müssen es nur wollen und daran glauben... und daran glauben," wiederholte er. „Du weißt von Gott, ja? Daß er der einzige Weg ist zu einem ewigen Leben? Laß uns neu beginnen und mit ihm als

Bundespartner. Ich möchte gerne zusammen mit dir beten, willst du?" Wortlos stand sie auf. Daniel faltete seine Hände mit ihren zusammen und begann das gemeinsame Gebet. Es sagte noch einmal vor Gott, was er schon mit ihr besprochen hatte und bat um die

Fähigkeit zu lieben. Als er geendet hatte, fügte sie ein paar Worte hinzu und bestätigte seine. Danach verharrten sie noch einige Augenblicke in dieser Stellung, ehe sie aufstanden und sich mit einem flüchtigen Kuß voneinander trennten.

Zu Frühlingsbeginn gab es ungezählte Arbeiten zu verrichten. Der Kräutergarten wurde umgegraben und bepflanzt, neues Saatgut ausgestreut, der Zaun ums Haus frisch gestrichen. Einige Stellen des Daches ließen Regen durch. Die beiden Männer wechselten entsprechende Ziegel aus. Fenster und Türrahmen benötigten schützende Farbe. Das Mädchen und ihre Mutter holten den Winterdreck aus dem letzten Winkel des Hauses. Alle gemeinsam richteten die Wohnstube, die zum Sterbezimmer geworden war, neu vor. Wer in dieser Zeit krank werden oder sterben mußte, konnte seine Geduld zuweilen am Doktor überprüfen. Da aber die Stimmung des Neubeginns von Fruchtbarkeit und Wachstum weithin um sich gegriffen hatte, blieb die Anzahl der Beschwerden im Rahmen des Erträglichen.

Das Winterschwarzbraun der Landschaft wich dem zarten, hellen Grün der Keimlinge, Gräser und aufgeplatzten Knospen. Die Sonne schenkte ein immer strahlender werdendes Licht hinzu und weckte auch den letzten Langschläfer in der Natur. Damit fühlten

sich die Insekten und Würmer wieder wohl an der Luft und kamen aus allen Löchern des Erdschoßes gekrochen. Bald lockten viele bunte Wiesenblumen Fliegen, Bienen und

Schmetterlinge an, ach ja, und auch Daniel mit seiner Freundin. Wer fleißig dem Frühling den Weg bereitet hat, darf sich mit Recht auch an ihm freuen. überall in den Gärten begannen die Obstbäume weiß und rosa zu blühen. Dabei verbreiteten sie einen Duft, der schwer in die Glieder fuhr.

Hand in Hand schlenderten eines Abends die beiden jungen Leute dem Berghang und Wald entgegen, durchstreiften eine herrlich bewachsene Wiese und hielten Ausschau nach einem geeignetem Rastplatz. An einer Stelle im Fichtenwald, nicht weit von einer

Wegkreuzung gelegen, lagen einige umgestürzte Baumstämme, die zwischen benadelten Ästen eine kleine Höhle bildeten. Hier richteten sich Daniel und sein Mädchen ein Versteck ein. Diesen Stamm etwas anders gelegt, hier ein paar Zweige entfernt, dort einen verborgenen Eingang geschaffen, den Boden mit jungem Moos ausgepolstert, und ein gemütliches Plätzchen war fertig. Jetzt konnten sie in ihrer Räuberhöhle Einzug halten. Beiden hatten sie nämlich einen räuberischen Gedanken: hier wollten sie die Zeit verbringen, die sie für sich ihrer Umwelt wegstehlen konnten. Ein Plätzchen für geheime Zärtlichkeiten. Ohne es miteinander besprochen zu haben, war ihnen klar, wozu sie diesen Ort hergerichtet hatten.

Als er nun bereitet war und sie beide auf dem Moos in der Höhle lagen, wurde ihnen so feierlich zumute, daß sie nicht wußten, welcher Schritt der nächste sein sollte. „Laß doch deinen Hemdkragen aus dem Pullover herausschauen," begann Daniel. „Das sieht bestimmt viel netter aus. Warte, ich mach` s dir." Er beugte sich zu ihr hinüber und stülpte ihre Kragenecken über den Pulloverrand. Dabei berührte er mit den Fingerknöcheln ihren Hals, der sich glatt und warm anfühlte. Er strich weiter bis zum Kinn, und sie legte den Kopf in den Nacken. Sein Daumen berührte ihre Lippen und stülpte sie behutsam um. Das Mädchen legte sich auf den Rücken und ließ die Arme entspannt neben ihren Körper fallen. Sie lächelte Daniel ermutigend zu. Er hob ihre linke Hand auf und stellte den Unterarm auf den Ellenbogen. Sobald er sie losgelassen hatte, fiel die Hand auf den Waldboden. „Tot," sagte sie. „Mausetot." Das gleiche versuchte er mit der anderen Hand, und auch die plumste neben die Beine. Darauf setzte er sich auf ihren Schoß und fuhr mit allen Fingern durch ihre Haare, wobei er auf ihre Ohren stieß. Als ob er sie gerade erst entdeckt hätte, befühlte er sie. Sie schloß ihre Lider, was

ihn auf ihre Wimpern aufmerksam machte. Mit dem Daumen schob er ein Lid hoch und blickte in ihr glotzendes, zwangsgeöffnetes Auge. Sie lachten darüber, was Daniel zu der Äußerung reizte: „So sind deine Augen viel schöner. So schmal und lang und sauber. Du

kannst richtig lieb gucken." „Ich bin auch lieb," sagte sie und fügte hinzu: „Manchmal wenigstens. Immer wäre zu langweilig." Das wollte Daniel nicht bestätigen. „Mir kannst du gar nicht lieb genug sein." „So?" fragte sie mit gespielter Strenge. „Bin ich dem

Herrn nicht gut genug?" „Ach," seufzte er. „Wenn es nur immer so bleiben könnte." Sie ergriff seine Hände und führte sie gegen ihre Wangen, die gestreichelt werden wollten. „Nutze es aus, solange es schön ist. Laß uns nehmen, was wir geschenkt bekommen

und glücklich darüber sein. Wenn wir es uns schon nicht verdienen können, so dürfen wir's doch nehmen, wenn es kommt." Dabei pustete sie gegen seine Fingernägel. Er legte sich lang auf sie und schnappte mit dem Mund nach ihren Lippen. Sie revanchierte

sich mit neuerlichem Pusten. Während sie sich einander lange küßten, fuhr er mit beiden Händen unter ihren Pullover und streichelte ihre Hüften Über dem Hemd. Mit einer seitlichen Kopfbewegung befreite sie sich von dem Kuß und flüsterte: „Nicht!" „Was

ist?" erkundigte sich Daniel bange. „Mach weiter, hör nicht auf mich. Ich denke zuviel." Er stützte sich mit seinen Ellenbogen auf ihren Bauch und begann unter ihrem Pullover ihr Hemd aufzuknöpfen. Jetzt störte noch das Unterhemd. Sachte zog er es aus ihrer

Hose, bis ihr Bauchnabel frei lag. Er legte seine flache Hand darüber und spürte ihre warme Haut. Langsam schob er Hemd und Pullover höher. Sie atmete tief aus und hielt ganz still. Daniel fand, daß sie einfach zuviel am Leibe trug. Also richtete er ihren Oberkörper auf, und gemeinsam befreiten sie ihn von Pullover, Hemd und Unterhemd, die jetzt ihre Aufgabe als Untergrundisolierung fanden. Daniel legte sich wieder auf sie, die Hände um

ihre Brust gefaltet. „Du," unterbrach sie ihn zärtlich. „Ich will auch was haben davon." Also auch sein Oberkörper freigemacht. Brust auf Brust lagen sie, womit die Arme wieder unbeschäftigt waren. Eine Weile faßten sie einander an, bis der Reiz ein wenig

nachließ und Lust auf Neues erwachte. Seine Finger glitten in ihre Hose, wo es eng, aber geheimnisvoll anmutete. Wenn sie jetzt nicht über alle Grenzen hinausschießen wollten, dann hieß es hier abbrechen. Sie hatte Angst, als Daniel ihre Hose öffnete, ihre Unterwäsche abstreifte, aber sie ließ es zu. Das Gefühl in ihrem Schoß drängte nach Befriedigung. Schon war es zu spät. So nackt, wie sie da auf dem Waldboden lag, war ihr Körper nicht mehr imstande, Daniels Reizempfinden zu steigern. Eine Ahnung von Ekel

stieg in ihnen auf, und, weil sie wußten daß sie noch nicht verheiratet waren, brachen sie ab. Ein Abbruch, der die Gefühle ungeschützt an der Oberfläche zurückläßt, den eigentlichen Trieb nicht befriedigt und ein Schuldgefühl vermittelt, wirkt auf die

Liebe, wie Wasser auf Feuer.

Es war kaltgeworden, und das Schweigen kehrte zurück. Nebeneinander, jedoch getrennt jeder für sich, liefen sie heim, wo das Abendbrot ihr Hungergefühl stillte, aber nicht ihre innerliche Trennung überwand.

In dieser Nacht erwachte das Mädchen durch einen unruhigen Traum und konnte hernach nicht so bald wieder einschlafen. Wieder und wieder sah sie sich nackt im Wald liegen, mit dem Gefühl, ausgeliefert zu sein an eine Macht, die ihr „Ich" verdrängen wollte. Nicht Daniel war diese Macht, aber durch den körperlichen Umgang mit ihm, dadurch, daß sie ihrer Lust nachgab, fand etwas Fremdes in ihr Halt und schien sie zu bedrohen. Der Anfang dieses Nachgebens vermittelte ein Gefühl des Freiwerdens von lästigen Skrupeln, brachte Erregung und zugleich Entspannung mit sich. Das Ende aber bedrückte mit Ekel, Scham und Demütigung, durch die Schwäche, die aus dem Entblößtsein resultierte.

War Daniel wirklich der Mensch, dem sie sich ganz anvertrauen wollte, der alles von ihr wissen sollte und durfte; auch die Dinge, die sie am liebsten vor sich selber verleugnet hätte?

Ein peinliches Erlebnis, würde es noch schmerzlicher, wenn sie es ihm mitteilte? Oder könnte er gar helfen, das Abscheuliche zu vertreiben? Ihr Herz klopfte sehr stark. An Einschlafen war im Moment nicht mehr zu denken. Mehr und mehr verlangte es sie nach

einer Mauer, nach Abstand, nach Sicherheit vor dem Eindringen von etwas Fremden. Wie ging es Daniel wohl, überlegte sie. Würde auch er diese Schutzzone brauchen, und wenn nicht, könnte er sie ihr zugestehen? Irgend etwas verbarg sich in Daniel, das sie nicht

kennen und teilen wollte. Es war nicht sein Äußeres, nichts worüber er sprach, mehr vielleicht, wie er empfand, was sie nicht verstehen konnte. Zudem würde seine Herkunft immer Ungewißheit und Bedrohliches für sie bedeuten. In Worte oder Gedanken vermochte sie es nicht zu fassen. Ein weiteres Problem kam hinzu: Wie ihm ihr Bedürfnis nach Sicherheitsabstand verständlich machen, ohne ihn zu verletzten? Seine Zärtlichkeiten könnte sie als angenehm empfinden, wenn dadurch nicht sein Bindungswille an ihre Person zum Ausdruck käme.

Der Wunsch, von dieser schamerregenden Beziehung frei zu werden, begann sich in ihrem Gefühl zu verdichten.

Daniel verbrachte diese Nacht nur in der Hoffnung, noch bestehende Unstimmigkeiten mit seiner Freundin würden sich im

Verlaufe ihres weiteren Zusammenseins auflösen. „Sie ist das Mädchen, das Gott mir erwählt hat. Also wird er uns formen und leiten, bis alle störenden Unterschiede zwischen uns beiden ausgeräumt sind." Hoffentlich! Jedenfalls versuchte Daniel das zu glauben.

Am nächsten Morgen nach dem Aufstehen fand er sein Mädchen ganz überraschenderweise in seinem Zimmer. Sofort schlug sein Herz häufiger und stärker, weil es hoffte, jetzt käme die endgültige Aussprache mit der Beseitigung aller Schwierigkeiten. Richtig, sie wollte reden. „Es ist etwas, das ich dir sagen muß,"

begann sie. „Ja," versuchte Daniel zu ermuntern. „Raus damit. Du weißt, daß du mir alles sagen kannst und sollst. Wenn es irgend etwas gibt, dann müssen wir offen darüber sprechen, damit sich nichts aufstaut zwischen uns." Sie faßten einander an der Hand ,

und sie erklärte: „Ich weiß nicht genau, wie ich es dir sagen soll, aber irgend etwas ist verkehrt mit uns. Das gestern im Wald hätte nicht passieren dürfen." „Entschuldige," unterbrach Daniel. „Aber ich hatte den Eindruck, daß es dir ebenso Freude gemacht

hat." „Ja schon, in dem Augenblick wo es passiert. Aber tief drinnen weiß ich, daß es noch nicht sein soll. Nur weil das Gefühl so stark ist, kann ich nicht widerstehen." Daniel stellte sich unbefangen. „Du brauchst doch auch nicht zu widerstehen. Wir tun uns ja nicht weh. Ich empfinde es als Geschenk, wenn du zärtlich zu mir bist," seufzte er. „Von mir aus laß uns warten. Ich

dachte nur, das wäre längst klar gewesen." „Das dachte ich ja auch. Aber wir können uns nicht gründlich genug prüfen. Es hängt soviel davon ab. Stell` dir vor, wir sind verheiratet und wir finden heraus, wir passen nicht zusammen. Das muß qualvoll sein."

Bei den letzten Worten schüttelte sie ihren Kopf. Daniel dachte: „Was das erst qualvoll ist, wenn wir alleine leben müssen. Aber sie muß sich entscheiden. Das kann ich ihr nicht abnehmen."

Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, fügte sie hinzu: „Ich muß mich ganz frei für dich entscheiden können und vollkommen davon überzeugt sein. Laß mir bitte Zeit."

Gut, sie sollte Zeit haben. Was blieb anderes übrig? Gott, ja Gott, der mußte helfen. Er war der Einzige, der solche Dinge dauerhaft bereinigen konnte. Nur ließ er sich nicht

einfach so anstellen. Er hatte einen eigenen Willen und Plan, der jedoch nur jeweils ausschnittsweise für Menschen einsichtig wurde. Selbstverständlich durfte Daniel um Hilfe bitten. Aber in welcher Weise er sie erfahren würde, mußte er Gott überlassen.

Zugegebenermaßen bereitete ihm diese Erkenntnis diesmal Unbehagen. Vielleicht, daß er schon fühlte wie es weitergehen würde.

Erst einmal ging es noch weiter mit einer Reihe von Alltagen. Noch immer begleitete Daniel den Arzt auf seinen Hausbesuchen und gab sich Mühe, soviel wie möglich über die einzelnen Krankheiten zu lernen. Manchmal allerdings ertappte er sich in

Gedanken bei seinem persönlichen Problem, wenn seine ganze Aufmerksamkeit seinem Beruf hätte gelten sollen. Leider blieb er nicht der Einzige, dem seine geistige Abwesenheit auffiel. Gerade die Leute, die ihn am meisten bekämpft hatten, ließ er am deutlichsten seine Gleichgültigkeit spüren und bildete sich dabei noch ein, somit Streit aus dem Wege zu gehen. Bald warf man ihm Hochnäsigkeit vor, bald Desinteresse an seiner Tätigkeit.

„Ich muß ihnen nicht zu Gefallen sein," verteidigte sich Daniel vor seinem eigenem Gewissen. „Was braucht mich ihre Abneigung zu kümmern?" Sie kümmerte ihn aber doch, und das ließ er sich anmerken. Hinzu kam der verstärkte Zweifel an der Liebe

seiner Freundin. Und alles in allem sah es bald recht übel um ihn aus.

Ein Gespräch mit seinem Freund und Vorgesetzten half nicht viel weiter. „Du machst mir in letzter Zeit einen etwas geknickten Eindruck," begann der Doktor eines Nachmittags, als sie etwas früher mit ihrer Arbeit zu ende waren. Daniel hatte nicht den Wunsch, vor dem Vater seiner Freundin über seine Sorge zu sprechen. „So, mache ich das," entgegnete er trotzig. „Man kann nicht immer fröhlich sein, oder?" „Nein," bekam er bestätigt, „das

kann man nicht. Es ist auch gar nicht notwendig. Aber manchmal macht man sich unnütze Sorgen. Und dann kann ein Gespräch schnell Klärung bringen." Sie blieben weiter im Ungewissen. Daniel wollte es auf keinen Fall konkret werden lassen. „Wenn es so ist, verspreche ich dir, daß ich mich melde, ja?" „Gut," schloß der Doktor. „Lassen wir die Sache auf sich beruhen."

Er ließ aber nicht, sondern redete mit seiner Tochter. Ganz vorsichtig tastete er sich bei ihr heran: „Eine Patientin erkundigte sich bei mir, wie lange du wohl noch die Kinder betreuen wirst. Sie hat dich sehr gelobt und bedauert es, wenn du nun bald andere Aufgaben übernimmst." Das Mädchen gab sich erstaunt: „Warum sollte ich etwas anderes tun? Was fürchten die Leute? Ist es nicht gut, wie es ist?" „Es war gut für eine Zeit. Aber du wirst älter. Ja, auch du, nicht nur wir. Eines Tages wird Daniel mich vollkommen ersetzen. Du wirst ihm doch zur Seite stehen dabei." Sie war plötzlich sehr erschrocken: „Da habt ihr also alle schon über mich beschlossen. Ich werde gar nicht gefragt, oder wie soll ich das verstehen?" empörte sie sich. „Ja, jetzt muß ich mich aber wundern. Ich dachte, du wolltest nichts sehnlicher, als mit diesem Fremden dein Leben zu

teilen. Warst du nicht todunglücklich, als er damals ging? Ist nicht dein größter Wunsch erfüllt worden an dem Tag, als er wieder vor dir stand? Ich dachte, du liebst ihn." Mit verzweifelter Gebärde warf sie sich ihrem Vater in die Arme und schluchzte: „Ach

Papa, es ist alles so schwer. Manchmal möchte ich nicht mehr auf der Welt sein. Wenn ich nur wüßte, was für mich richtig ist."

„Sag` ja, und es wird alles gut," versuchte er zu trösten. „Es kommt vor, daß wir eine Entscheidung treffen müssen, ohne vollkommen das Für und Wider abgewogen zu haben. Wenn die Entscheidung dann getroffen ist und wir zu ihr stehen, löst sich so manches Hindernis einfach auf. Überlege nicht zu lange. Entscheide dich. Du wirst sehen, wie die Zweifel danach schwinden."

Es waren diese Ratschläge gut gemeint, aber letztlich ohne hilfreiche Auswirkung für das junge Mädchen, da sie nun das Gefühl bekam, im Falle einer ablehnenden Entscheidung auf allseitiges Unverständnis zu stoßen.

Wenn Daniel jetzt mit seiner Freundin abends spazieren ging, liefen sie meistens getrennt nebeneinander. Er hatte wohl einige Male den Versuch gemacht, sie bei der Hand zu nehmen oder unterzuhaken, was sie auch nicht abwehrte, aber es blieb eine reine Formangelegenheit, ohne das Gefühl der Nähe. Weil Daniel sich mit der leeren Form verloren vorkam, gab er es auf und versuchte statt dessen über ein Gespräch das Gefühl der Entfernung zu überbrücken.

„Wie war dein Tag heute?" begann er so frei wie möglich. „Danke, und deiner?" Hier schon mußte er sich Mühe geben, die Inhaltslosigkeit ihrer Antwort zu übersehen. „Wir haben einer Alten drei Warzen wegoperiert, und die hat keinen Ton von sich gegeben.

Normalerweise blutet es ganz schön, aber bei der war es, als ob wir nur Hornhaut wegschnitten. „Schrecklich," kommentierte das Mädchen. „Und sonst," fuhr Daniel fort, „meistens nur Kleinigkeiten. Einer wollte nicht bezahlen, weil er meinte, wir seien nur

Viehdoktoren. Ich hätte dem ja was erzählt, aber dein Vater hat nur abgewunken. `Der wird auch mal wieder krank,' hat er gemeint. `Und dann kassieren wir im Voraus.`" Eigentlich hatte Daniel erwartet, daß sie über diesen Ausspruch zumindest lächeln würde,

aber sie blieb ernst. Von da ab liefen sie schweigend weiter.

„Am Ende des Waldstücks frage ich sie, was los ist," nahm er sich in Gedanken vor. Aber als sie soweit waren, seufzte er nur. Mit jedem weiteren Schritt sank sein Mut. Als er dann schließlich den Mund auftat, war es nur: „Komm, laß uns umkehren." Sie hatte

nichts dagegen.

Erst Zuhause auf ihrem Zimmer kam es zu einer Aussprache. Sie saß auf ihrem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt und kritzelte etwas in ein Notizbuch. „Anstatt daß wir uns immer näher kommen und einander vertrauter werden, wird es immer schwieriger.

Wenn du so ernst und still bist, dann kann ich selbst auch nicht lustig sein, um dich aufzuheitern. Ich will das wohl gerne, aber es mißglückt mir nur. Ist es, weil du dir immer noch unsicher bist?"

Daniel erwartete darauf eine eher ausweichende Antwort. Sie aber antwortete direkt: „Ja, das macht mich ganz krank. Und am meisten deswegen, weil ich Angst habe, dir weh zu tun." „Aber so wie es jetzt ist, tut es doch auch weh, mir jedenfalls," drängte Daniel. „Ich weiß," gab sie zurück. „Wenn ich richtig in dich verliebt wäre, müßte mir das Schweigen doch unerträglich sein. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich gebrauche es als Schutz.

Manchmal verletzt mich jedes Wort, das ich sagen muß."

Daniels Blick wurde starr. Er fühlte, wie ihm die Tränen kamen und kämpfte dagegen an. So stark mußte er sich darauf konzentrieren, daß es nicht sprechen konnte. Es tat ihr leid und sie wollte ihn trösten. Aber wie? Neue Hoffnungen auf sie sollte er nicht bekommen.

Was blieb war der Glaube: „Du weißt doch, daß über allem, was geschieht, Gott steht. Und weil wir an ihn glauben, wird es so, wie es kommt, am besten sein. Dann ist es doch egal, wie ich mich entscheide. Ob wir zusammenleben oder jeder für sich oder mit jemand anderem, auf jeden Fall wird Gott uns glücklich machen." Dabei lächelte sie endlich. Gerade das bereitete Daniels Beherrschung ein Ende. Sein Mädchen war so klug, so gläubig, schön und lieb. Und Gottes Weg sollte nur an ihr vorüber führen?

Sie stellte kein Ziel dar, sondern nur eine Station, gar eine Station von vielen? Kann denn ein Mensch zweimal im Leben solches Glück finden? Da verlangte Gott von ihm, daß er es aufgab. Wie lang war der Weg gewesen, der zu ihr geführt hatte, wie herrlich ihr Zusammensein, wie groß die Sehnsucht und Angst, und all das soll für nichts geschehen sein? Unvorstellbar für Daniel, daß noch mal irgendwo Glück für ihn bereitstünde so wie hier. Doch das alles vermochte er nicht zu sagen. Hatte sie doch recht. Gab es doch kein Argument für Liebe, wenn sie fehlte.

Wie benahm er sich überhaupt vor ihr? Als ob er sich ihr noch anvertrauen könnte, wo

sie ihm gerade aufgezeigt hatte, daß keine Liebe sie beide verband. Reiß` dich zusammen, Daniel. Heule nicht so vor diesem Mädchen. Ach was, es ist ganz egal. Sollte sie denken, was sie wollte. Was war schon noch zu verderben? Zwar saß sie noch neben

ihm, wischte sogar seine Tränen ab, aber ohne das Gefühl der Zuneigung stellten diese äußeren Handlungen überhaupt keinen Wert dar.

Einmal angefangen mit weinen, konnte er seine Fassung sobald nicht wiederfinden. Außerdem sollte sie ruhig sehen, was sie

ihm antat. Als er später in sein Zimmer hinübergegangen war und vor dem Bett zum Gebet niederkniete, gab er sich Mühe, wieder zu weinen. Gott seine Tränen zu zeigen, ihn auf all seinen Kummer und seine Enttäuschung blicken zu lassen, heißt, sich wirklich an

den Rechten zu wenden. Seine Freundin konnte ihre eigenen Gefühle nicht beliebig verändern. Gott aber konnte es. Und wenn er es nicht wollte, war es richtig, ihm die Folgen zu zeigen.

„Lieber Gott! Ich bin traurig, weil das große Glück, das du mir gezeigt hast, nicht von Dauer war. Ich würde von ganzem Herzen mein Leben mit diesem Mädchen teilen. Du aber läßt es nicht zu. Ich weiß, daß du nicht böse bist. Auch glaube ich nicht, daß du mich strafen willst. Bei dir allein ist Frieden zu finden. Vielleicht ist es das, was ich lernen soll. Doch jetzt im Augenblick kann ich nicht sehen, woher mir Freude kommen soll. Du

allein weißt den richtigen Weg. Darum soll mein Wille dir unterstellt sein. Aber sieh' bitte, daß ich traurig bin, daß mein Herz schwer ist, als ob es niemals wieder leicht werden wollte. Ich will auf dich vertrauen, doch ich fühle nichts als Traurigkeit.

Mache mich wieder froh nach deinem Willen."

In dieser Nacht wurde es Daniel deutlich, daß es hier nicht länger bleiben konnte. Alles, woran er gehangen hatte, war dieses Mädchen. Beruf, der Doktor, Wald, See, Zuhause waren zweitrangig. Dieser eine Mensch, dem seine Liebe gegolten hatte, überragte jeden anderen Wert. Sie war seine Heimat gewesen, seine Hoffnung und sein Leben. Mit ihr ging alles dahin. Wozu morgen früh aufwachen, wozu einen neuen Tag beginnen? Nichts als Mühe, Trübsal und Abscheulichkeiten erwarteten ihn. Wirklich nichts? Wie hatte er noch gerade eben gebetet? Bei dir allein ist Frieden zu finden. Gut, dann mußte er das aber auch glauben. Bei Gott allein. Ein wenig half dieser Gedanke beim Einschlafen.

Am nächsten Morgen mitten hinein in die Stille verkündigte Daniel am Frühstückstisch: „Ich gehe fort, noch heute." Die Mutter schaute verwundert von ihrem Teller auf und fragte: „Was, du gehst fort, was meinst du damit? Willst du irgend etwas besorgen oder jemanden besuchen?" Der Doktor aß weiter, als ob nichts wäre. Daniel fügte hinzu: „Ich gehe für immer weg von hier." Er sagte das mit Mühe und spürte schon, daß er nichts weiter würde erklären können. „Ja, nun verstehe ich aber nichts mehr. Habt ihr

euch gestritten?" Daniel sah auf das Mädchen, das den Blick schnell senkte, um nicht in das Gespräch gezogen zu werden. Da niemand Antwort gab, folgerte die Mutter: „Offenbar weiß hier jeder schon Bescheid, nur ich nicht." Und an ihren Mann gewandt:

„Weißt du, was los ist?" Der zuckte mit den Schultern und mußte eingestehen, daß auch er überrascht sei. „Freilich, man soll Reisende nicht aufhalten. Er wird schon wissen, was er tut und warum." „Aber eine Erklärung möchte ich doch wenigstens haben," beharrte seine Frau. Von Daniel war nun diesem Thema nichts mehr zu erwarten zu. Das fühlte die Tischgemeinschaft. Die einzige, die bislang geschwiegen hatte, gab nun endlich kurz von sich: „Wir verstehen uns nicht in der Weise, daß wir für immer zusammenleben

möchten." Schließlich endete das Gespräch mit der Feststellung der Mutter. „Also, ich bin sprachlos!" Damit drückte sie wohl auch den Zustand der drei anderen aus.

Nach dem Essen rannte Daniel auf sein Zimmer und packte einige seiner Sachen zusammen. Wenigstens einen geringen Protest hatte er von diesem Mädchen erwartet. Die Drohung „Ich gehe fort" war seine letzte Verzweiflungswaffe gewesen. An einer Stelle seines Herzens hatte er noch immer gehofft, sie würde sagen: „Nein, bleibe. Ich will es mir überlegen." Da sie jedoch geschwiegen hatte, sollte das Schweigen nun für immer dauern. Während er noch in seiner Habe kramte, kam sie ins Zimmer. „Ich weiß, daß es jetzt für dich schwer ist. Alles, was dir wertvoll ist, hängt an diesen Ort," begann sie. Ein tiefes Ausatmen von Daniel folgte. Er wußte momentan nicht so recht, worin

er wühlen sollte. „Du," fuhr sie fort, „ich verstehe, daß du traurig bist. Aber denk` doch mal ganz ehrlich nach. Wenn unser Zusammensein nichts als eine trügerische Hoffnung war, dann verlierst du doch jetzt gar nichts. Du brauchst auch nicht alleine zu gehen. Gott ist ja mit dir. Alles, was du bislang von mir erwartet hast und was ich dir einfach nicht geben konnte, kannst du von ihm erwarten. Bestimmt will er, daß du dich von nun an total auf ihn verläßt." „Hab' ich ja immer," protestierte Daniel. „Aber Gott hat uns doch einander als Hilfe gegeben, um den Weg zu ihm besser zu finden. Und du verweigerst mir deine Unterstützung."

Nur keinen Zorn aufkommen lassen, der noch mehr zerstören würde. Besänftigend entgegnete sie: „Ich weiß, daß du jetzt verletzt bist. Ich möchte ja alles tun, um dir zu helfen. Aber kann ich es, wenn Gott mich nicht für dich bestimmt hat?" Darauf wußte er nichts zu sagen. Sie fuhr fort:" Wenn Gott dir eine Frau schenkt, dann wird sie dir auch jede Hilfe bieten können, die du von ihr wünschst, solange du sie im Glauben bittest. Aber ich weiß tief drinnen ganz genau, daß ich dir diese Frau nicht sein kann. Verstehst du mich ein bißchen." „Nein," beharrte Daniel trotzig. „Ich liebe dich doch." „Na siehst du," versuchte sie seine Worte auszunutzen." Deswegen kannst du auch einsehen, daß wir auf Dauer nicht glücklich werden."

Daniel ärgerte sich über sich selbst, als er antwortete: „Aber wir haben es doch gar nicht versucht. Wie willst du es denn wissen?" Als ob er mit dieser Frage etwas hätte retten könnten. „Manchmal findet man leichter einen neuen Anfang, wenn man sich mit dem Vergangenem versöhnt hat. Sollen wir nicht besser in Versöhnung auseinandergehen?" schlug sie vor, statt zu antworten. „Ich will dir ja nicht böse sein. Wie könnte ich auch, wo wir soviel Freude miteinander gehabt haben. Aber laß mich wenigstens begreifen können. Wenigstens wissen, warum, damit nicht alles so sinnlos erscheint," flehte Daniel. So eine Warum-Frage ist eine typische Menschenfrage und macht deutlich, wie sehr Daniel Mensch geworden war. Wer nicht weiter weiß, fragt „Warum?". Wenn er ehrlich war, interessierte ihn das „Warum" überhaupt nicht. Er wollte das Mädchen behalten. Daß ihm eine Antwort helfen würde zu überwinden, daran glaubte er selbst nicht. Letztlich erhielt er auch keine Erklärung, die doch immer nur eine Scheinerklärung gewesen wäre und niemals befriedigt hätte.

Als er am frühen Nachmittag aufbrach, rief sie ihm nach: „Ich werde für dich beten. Gott wird dir deine tiefsten Sehnsüchte erfüllen. Du brauchst mich nicht zu vergessen, aber behalte auf jeden Fall Jesus im Herzen." Ein Stück war sie ihm bei diesen Worten nachgelaufen. Er mußte sich noch einmal umdrehen und drückte sie ganz kurz fest an sich. Dabei fielen keine Worte mehr.

Danach war er wieder allein. Eine Welt lag vor ihm, die große Ungewißheit und beinahe

grenzenlose Leere. Seine Schritte erfolgten mechanisch, ohne auf Richtung oder Wegebeschaffenheit zu achten. Wieder allein! Halt! Das ist doch nicht wahr. Nun aber sei ehrlich, Daniel. Du hast geglaubt und erkannt, daß Jesus der Menschen Erlöser ist. So ist er nun auch dein Erlöser. Keinen Schritt mußt du ohne ihn gehen. Und nichts mußt du ihm bringen, was er dir nicht zuvor geschenkt hätte. Alles kannst du ihm geben, ohne jemals arm zu werden. Willst du nicht versuchen, ihn liebzuhaben? Du wolltest einen
Menschen liebhaben, der dir nichts von sich aus geben konnte. Wieviel mehr kannst du nun den lieben, der dir alles geben kann und geben wird! Daniel, geh` deines Wegs fröhlich, denn du wirst ewig leben. Du wirst diese ersehnte Welt erreichen, weil Jesus dein Führer ist, der noch niemals versagt hat. Wer weiß, wieviel Verdruß, Kummer, Enttäuschung, Schmerz und Traurigkeit noch auf dich warten? Ganz sicher aber sind Liebe, Freiheit und Gemeinschaft heute schon dein und werden es einst in Vollkommenheit sein.